Der EU-Reformvertrag von Lissabon – Interview mit Prof. Schachtschneider
Autor: Citizenking
Die Bürgerrechtsbewegung Solidarität, BüSo, hat Schachtschneider über seine Einschätzung zur EU- Verfassung interviewt. Nach Anruf bei der BüSo wurde die Kopie mit Link genehmigt; Dank an BüSo dafür:
Prof. Karl Albrecht Schachtschneider vertritt die Verfassungsklage des Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler gegen den EU-Verfassungsvertrag. Er lehrt Öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg und gehört zu den besten Kennern des Europarechts und der Europäischen Verfassung. 1992 führte er die Verfassungsbeschwerde gegen den Maastrichter Vertrag, 1998 klagte er, zusammen mit den Professoren Hankel, Nölling und Starbatty, gegen die Einführung des Euro.
Das folgende Gespräch mit Prof. Schachtschneider führten Gabriele Liebig und Alexander Hartmann am 3. Mai in Nürnberg.
Der Verfassungsvertrag als Ermächtigung
Das Maastricht-Urteil von 1993
Verlust der “existentiellen Staatlichkeit”
Wiederkehr der Todesstrafe?
Eigenartige Grundrechte
Ende der Mitbestimmung und Rechtssicherheit
Wie geht es weiter mit Europa?
Ein europäischer Großstaat kann nicht demokratisch sein
Verbund der Nationalbanken statt EZB
Die Sache des Volkes
Herr Prof. Schachtschneider, Sie haben eine umfangreiche Verfassungsbeschwerde gegen den EU-Verfassungsvertrag erhoben. Was sind dabei die allerwichtigsten Punkte?
Schachtschneider: Die eigentliche Triebfeder dieser ganzen Arbeit ist die Verteidigung des Rechts bei der europäischen Integration. Ich akzeptiere das Integrationsprinzip im Grundgesetz, aber es darf dabei das Recht nicht verloren gehen. Das ist ein politischer Standpunkt, der auch beim Bundesverfassungsgericht durchaus Anklang findet – schon im Maastrichtprozeß. Es gibt für mich keine Freiheit ohne Recht, aber auch kein Recht ohne Staat. Das Recht, und damit die Freiheit, insbesondere die Menschenrechte, sind im Zuge der Integrationsentwicklung in großer Gefahr oder sogar weitgehend schon verloren. Ich will versuchen, zu retten, was zu retten ist. Das ist für mich Pflicht. Irgend jemand in Deutschland muß dafür sorgen, daß diese Frage ernsthaft erörtert wird, und das kann ich nur beim Bundesverfassungsgericht veranlassen. Niemand sonst ist bereit, den Verfassungsvertrag ernsthaft zu erörtern – außer Ihnen, erfreulicherweise. Die Medien tun es im großen und ganzen nicht und Bundestag und Bundesrat eben auch nicht, trotz der Bemühungen von Dr. Peter Gauweiler.
Damals im Maastrichtprozeß ist es mir gelungen, eine ernsthafte Diskussion herbeizuführen. Natürlich geht es mir nicht nur um die Diskussion, sondern um die Veränderung des Vertrages, weil er falsch ist und großen Schaden anrichtet.
Zu den Prinzipien, die ich vertrete, der Freiheit im weitesten Sinne, gehört auch das Eigentum, vor allem aber die großen Strukturprinzipien, welche die Freiheit stützen: Demokratie und Rechtsstaat, Sozialstaat und Föderalismus. Alle diese Prinzipien des Art. 20 GG gehen mehr und mehr durch die europäische Integrationsentwicklung verloren. Der Verfassungsvertrag ist ein Meilenstein der Entwicklung in den Unrechtsstaat.
Der Verfassungsvertrag als Ermächtigung Er ist nicht einmal der Schlußpunkt. Der Vertrag ist auf Weiterentwicklung angelegt. Er enthält Möglichkeiten, die Angst machen sollten: etwa die der Wiedereinführung der Todesstrafe, nicht in jeder Situation, aber im Kriegsfall und bei unmittelbar drohender Kriegsgefahr! Ins Recht gesetzt wird auch die Tötung, wenn sie nötig ist, um Auflauf und Aufruhr niederzuschlagen. Das heißt, laut EU-Grundrechtecharta hätte man in einer Situation wie in Leipzig 1989 schießen dürfen!
Das ist ja unglaublich! Können Sie das näher erläutern?
Schachtschneider: Wir werden später darauf zurückkommen, wenn es um die Grundrechte geht. Aber wenn ein Bundestagsabgeordneter Ja zu dem Vertrag sagt, dann weiß er nicht, was er tut! Er kennt den Vertrag nicht. Hinzu kommt: Die Bestimmung IV-445 ermöglicht die vereinfachte Änderung dieses Vertrages und damit der zukünftigen Verfassung für 500 Millionen Menschen. Das betrifft die gesamte Wirtschaftsverfassung mit Binnenmarkt, Währungsunion, Wettbewerbsrecht, bis hin zum Verbraucherschutz und Sozialpolitik, aber auch die Sicherheitsverfassung in der Innenpolitik, den “Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts”. Diese gesamten Regelungen in Titel III Teil III des Vertrags können durch Beschluß der Staats- und Regierungschefs, also durch Europäischen Beschluß, geändert werden. Das Europäische Parlament wird dazu nur angehört, die nationalen Parlamente werden überhaupt nicht einbezogen.
Das heißt, dieses Papier wird keinen langen Bestand haben, es ist ein Ermächtigungsgesetz. Das ist raffiniert geregelt, ich habe das nur mit Mühe entdeckt. Der normale Politiker kann einen solchen Vertragstext gar nicht lesen. Da steht z.B., ein solcher, den Inhalt der Verfassung ändernder Europäischer Beschluß “tritt erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mir ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft”. Das klingt wunderbar, aber in Deutschland genügt die Zustimmung der Bundesregierung. Bundestag und Bundesrat sind überhaupt nur zustimmungsberechtigt, wenn völkerrechtliche Verträge geschlossen werden.
Die EU-Verfassung ist ein völkerrechtlicher Vertrag. Er bedarf der Zustimmung beider Häuser, mit Zwei-Drittel-Mehrheit, ermächtigt aber zur Änderung durch einen Europäischen Beschluß, und dieser Änderungsbeschluß ist nun einmal kein völkerrechtlicher Vertrag! Und wenn es kein Vertrag ist, dann genügt, wie bei der ganzen NATO-Rechtsprechung, im Prinzip die Zustimmung des Außenministers. Die Auswärtige Gewalt ist grundsätzlich Sache der Bundesregierung.
Das geht an der demokratischen Willensbildung vorbei. Es erfordert keine Volksabstimmung, auch nicht in Frankreich, Großbritannien und sonstwo. Es erfordert bei uns auch keine parlamentarische Beteiligung. Das machen die Staats- und Regierungschefs mit den Präsidenten des Rates und der Kommission unter sich aus. Sie können wesentliche Teile des Verfassungsvertrages insgesamt oder zum Teil ändern. Sie werden das auch tun, ich denke sehr bald.
Absprachen zwischen den Regierungen sind ja an sich nichts Schlimmes, solange die geltende Verfassungsordnung, das Grundgesetz gewahrt bleibt. Aber schon die Bezeichnung EU-Verfassung – in Verbindung mit der Regel: Europäisches Recht bricht nationales Recht – bedeutet ja, daß unsere Verfassung dann nur noch untergeordneten Wert hätte?
Schachtschneider: Ja, so ist das geregelt: Das gesamte europäische Recht, auch das Sekundärrecht und Tertiärrecht, also jede kleine Regelung, hat Vorrang vor den Verfassungen der Mitgliedstaaten. Aber das wird beim Bundesverfassungsgericht nicht durchgehen, so wie auch der Maastrichter Vertrag damals zugunsten des nationalen Parlamentarismus eingegrenzt wurde. Ich bin auch für eine erhebliche Stärkung der Referenden. Wir finden in diesem Parteienstaat nur wieder zu demokratischen Strukturen zurück, wenn Volksabstimmungen zugelassen sind. Auf diese besteht freilich längst ein Anspruch.
Der EU-Verfassungsvertrag ist ein dickes Buch, das kein Mensch ohne weiteres versteht. Wie kann man darüber eine Volksabstimmung abhalten? Sie sagen ja, sogar die Abgeordneten könnten es nicht verstehen.
Schachtschneider: Den Einwand kenne ich, er ist berechtigt. Die Abgeordneten kennen den Vertrag nicht. Das ist bedauerlich, aber sie könnten ihn schon verstehen, wenn sie mich mal zwei bis drei Stunden anhören würden. Aber sie holen mich nicht, sie holen nur Integrationisten, die also die Probleme gar nicht sehen, geschweige denn ansprechen. Ich kenne ja die Protokolle des Europaausschusses. Aber dumm sind die Menschen nicht, sie sind einfach nicht informiert. Sie werden falsch informiert, z.B. jetzt über den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zu Dr. Peter Gauweilers Verfassungsklage. Der Beschluß ist geradezu eine Aufforderung zum Tanz – zum richtigen Zeitpunkt, am 27. Mai! Das Maastricht-Urteil von 1993
Die Verhandlung über Ihre Verfassungsbeschwerde wurde also einfach vertagt bis nach der Bundestagsentscheidung?
Schachtschneider: Genau. Unser Antrag ging darauf, daß der Bundestag die zweite und dritte Lesung unterläßt. Das wurde uns nicht zugestanden. Ich habe dafür Verständnis. Doch dann wird in dem Beschluß auf den Maastrichtprozeß hingewiesen, den ich ja nun kenne, als wollten Sie sagen: “Das müßten Sie doch wissen, Herr Schachtschneider, Sie haben ja den Prozeß selbst geführt.” Ich nehme es als Wink mit dem Zaunpfahl: Wenn Ihr am 27. Mai kommt, dann werden wir die Ratifikation unterbrechen, bis wir entschieden haben. Und das kann ein Jahr dauern.
Was war das Wichtigste an diesem Maastrichturteil?
Schachtschneider: Erstens war fast sensationell das Zugeständnis eines vorher nie zugestandenen Grundrechts: daß nämlich der Bürger Anspruch auf substantielle Vertretung durch den Deutschen Bundestag habe. Dann müssen diese Volksvertreter aber auch etwas zu vertreten haben; sie müssen Befugnisse haben, die den Namen verdienen – “substantielle Befugnisse” war das Wort. Ich hatte vorgetragen, die Staatlichkeit Deutschlands würde durch den Maastrichter Vertrag so sehr entleert, daß Art. 38 – das Grundrecht, wonach Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes sind – weitestgehend leerläuft. Und die Verfassungsrichter meinten, das sei “noch nicht” der Fall. Zweimal sagten sie “noch nicht” im Urteil von 1993. Aber jetzt, mit der “EU-Verfassung”, ist diese Grenze nun wirklich überschritten! Darum geht es in diesem Prozeß. Die Kollegen der Gegenseite fanden, dieses Grundrecht, was ich da vortrüge, sei denkunmöglich. Aber das Bundesverfassungsgericht hat mir zugestimmt. Und davon rücken die Verfassungsrichter nicht wieder ab. Das halte ich für ausgeschlossen.
Ich stütze den Rechtsschutz gegen den Verfassungsvertrag lieber auf die politische Freiheit; denn Art. 38, das Recht auf Vertretung des ganzen Volkes, ist nur ein Ausschnitt der politischen Freiheit. Aber in Deutschland ist die politische Freiheit als Grundrecht noch niemals anerkannt worden, was die Öffentlichkeit auch nicht weiß. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat ein Grundrecht der politischen Freiheit ausdrücklich abgelehnt. Wir haben zwar die Freiheit, zu wählen, und eine wenn auch sehr begrenzte Redefreiheit. Aber die politische Freiheit, das Recht, Mitgesetzgeber zu sein, am politischen Geschehen, an der Polis, teilzuhaben – das ist der Kern meiner ganzen Lehre – ist bisher in Deutschland noch von keinem Gericht als allgemeines Grundrecht anerkannt worden.
Deshalb stütze ich die Klage auch auf Art. 38 GG; denn der Anspruch ist sicher. Es wird nur um die Frage der “existentiellen Staatlichkeit” und das Prinzip der begrenzten Ermächtigung gehen. Andere sprechen von Souveränität, doch das ist ein monarchischer Begriff, der schlecht zu einer republikanischen Verfassung paßt. Mit “existentieller Staatlichkeit” meine ich die wesentlichen Aufgaben und Befugnisse eines Staates, die unmittelbar mit dem Staat – und das ist ja nichts anderes als das Volk, organisiert als Staat, die Bürgerschaft, verfaßt durch das Verfassungsgesetz – verbunden sind. Der Kernsatz, den keiner abschaffen kann, ist: Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. Aus dem Grunde darf die Europäische Union nur Befugnisse im Rahmen einer “begrenzten Ermächtigung” haben. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist der Schlüsselbegriff des Prozesses. Die demokratierechtliche Konzeption stammt von mir und wurde vom Bundesverfassungsgericht im Maastrichturteil auf diesen Begriff gebracht.
Die Befugnisse der Union – deren Ausübung mangels eines Unionsvolkes nicht originär demokratisch legitimiert ist – können nur so gehandhabt werden wie etwa Verordnungen zu Rechtsverordnungen. Die Ermächtigungen müssen so bestimmt sein, daß die nationalen Parlamente verantworten können, welche Politik von den Organen der Union gemacht wird. Deren Politik muß vom Deutschen Bundestag verantwortet werden können. Das ist sie aber nur, wenn sie hinreichend voraussehbar ist, weil die Ermächtigungen hinreichend bestimmt sind.
Wer den Verfassungsvertrag gelesen hat, weiß, daß es völlig anders ist. In der Verfassungsklage werde ich nachweisen, daß das Prinzip der begrenzten Ermächtigung nicht eingehalten ist und daß die Befugnisse, die übertragen werden, von existentieller Bedeutung für ein Volk sind und darum nicht auf einen Staatenverbund übertragen werden dürfen. Die existentielle Staatlichkeit der Europäischen Union geht bei weitem zu weit.
Das gilt ja auch für das Bundesverfassungsgericht selbst. Noch ist das Bundesverfassungsgericht das höchste Gericht der Deutschen, aber gemäß der EU-Verfassung dann nicht mehr.
Schachtschneider: So ist es! Es wird entmachtet. In meiner Klageschrift habe ich aufgezeigt, in wieweit die existentielle Staatlichkeit zum einen entgegen dem Grundgesetz auf die Europäische Union übertragen und zum anderen das Prinzip der begrenzten Ermächtigung verletzt ist. Jedermann weiß, daß ein politischer Prozeß auch politisch entschieden wird und nicht nur dogmatisch. Wenn er ausschließlich nach Rechtsprinzipien entschieden würde, gäbe es gar keinen Zweifel, wie er ausginge. So wie der Verfassungsvertrag formuliert ist, kommt er in Karlsruhe nicht durch. Es ist die Frage, ob die Verfassungsrichter ihn gänzlich ablehnen – das müßten sie, aber werden es vielleicht nicht tun. Aber sie werden ihn zurechtstutzen wie damals den Maastrichtvertrag, möglicherweise in der Hoffnung, daß er vorher schon in Frankreich gescheitert ist. Ich bin meiner Arbeit aber durch die Entscheidung der Franzosen nicht enthoben.
Wissen Sie, ob es in anderen EU-Staaten auch Verfassungsbeschwerden gibt?
Schachtschneider: Nein, ich wüßte nicht, aber in Österreich wird, wie ich höre, darüber nachgedacht. Verlust der “existentiellen Staatlichkeit”
In welchen Bereichen ist denn die “existentielle Staatlichkeit” gefährdet oder bereits verloren?
Schachtschneider: Wir haben die existentielle Staatlichkeit, sprich: die unverzichtbare nationale Hoheit, im Bereich der Wirtschaft fraglos verloren. Die Wirtschaftspolitik ist weitestgehend, die Währungspolitik völlig der Union überantwortet. Im Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik sind uns dadurch, aber auch durch Befugnisse der Union, die Hände gebunden. Wir haben insbesondere die existentielle Staatlichkeit in Sachen des Rechts, die Rechtshoheit, verloren. Das ist besonders schmerzlich. Wir stehen im Begriff, durch den Verfassungsvertrag die Hoheit in der Innenpolitik, nämlich in Sachen der Polizei und der Justiz, zu verlieren. Das geht noch viel weiter als der europäische Haftbefehl. Auch in Sachen Verteidigungspolitik haben wir kaum noch etwas zu sagen. Durch die Integration in die NATO war Deutschland nie souverän, aber jetzt geht die Hoheit auf diesem Gebiet gänzlich auf die Union über, die freilich an die NATO gebunden bleibt. Der Europäische Rat kann die Gemeinsame Verteidigung beschließen, nicht nur für den Einzelfall.
Am schlimmsten sehen Sie die Lage aber auf wirtschaftlichem Gebiet?
Schachtschneider:Ich erwähne nur die drei “Grundfreiheiten”: die Dienstleistungsfreiheit, die Niederlassungsfreiheit und insbesondere die Kapitalverkehrsfreiheit. Der schlimmste Tort, den wir uns antun konnten, ist die Kapitalverkehrsfreiheit! Der Niedergang der deutschen Wirtschaft hängt zu einem Drittel damit zusammen.
Sie sprechen von der Deregulierung im Rahmen der Globalisierung?
Schachtschneider: Ja, ja. Wir haben uns jedwede Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs verbieten lassen und uns selbst verboten – nicht nur gegenüber Ländern der Europäischen Union, sondern gegenüber allen Ländern der Welt.
Im Rahmen der WTO?
Schachtschneider: Nein, das ist nicht in der WTO geregelt, sondern in Art. 56 des EG-Vertrags. Das hat kein Abgeordneter gemerkt. Dieses unbeschränkte Verbot ist seit 1994 unmittelbar anwendbar. Es ist die Kapitalverkehrsfreiheit, die uns hindert, Investitionspolitik zu machen, also jede Beschränkung des Transfers von Kapital, von Anteilsrechten – des von uns erwirtschafteten Kapitals! Deutschland erwirtschaftet das stärkste Sparkapital, aber es wird am wenigsten in Deutschland investiert. Unser Kapital wird woanders investiert oder woanders hingegeben. Das ist unerträglich für Deutschland! Dieses kapitalpolitische Problem ist viel wichtiger als die lohnpolitischen und sozialpolitischen Probleme. Damit haben wir uns die Hände gebunden. Die deutsche Politik wird solange nichts bewirken können, bis wir einsehen und fordern: Entweder werden die “Grundfreiheiten” geändert und die Kapitalverkehrsfreiheit aufgegeben, oder wir scheiden aus der Union aus. Sonst hat Deutschland wirtschaftlich keine Chance. Jede andere Politik begleitet lediglich den wirtschaftlichen Niedergang zu Lasten der Bevölkerung. Die Shareholder machen auch im Niedergang Gewinne. Der Niedergang ist zur Ausbeutung bestens geeignet. Aber der deutschen Bevölkerung steht eine schwere Krise bevor, weil die Regelungen, die Rahmenbedingungen so sind.
Eigentlich müßte man doch hoffen können, eine Mehrheit für eine Änderung der Verträge zu bekommen, weil letztendlich alle europäischen Länder darunter leiden. Man muß es nur auf den Punkt bringen.
Schachtschneider: Problemlos. Aber Sabine Christiansen hat mich zu dem Thema noch nicht eingeladen.
Eine Folge des völlig ungeregelten Kapitalverkehrs ist ja auch, daß die Regierungen durch bestimmte Akteure auf den Finanzmärkten erpreßbar werden, indem gewisse Fonds drohen, den Markt mit Regierungsanleihen zu überschwemmen. Da war doch dieser spektakuläre Fall, als die Citigroup in London binnen zwei Minuten eine riesige Menge deutscher Staatsanleihen verkaufte, und zwar genau an dem Punkt, als die Montagsdemonstrationen anfingen und von Schröder verlangten, Hartz IV zu modifizieren.
Schachtschneider: Wir haben ihnen die Macht dazu gegeben! Weder die Bevölkerung noch die Abgeordneten haben gemerkt, daß wir mit dem Art. 56 EGV die Möglichkeiten der Politik weitestgehend aufgegeben haben. Wir haben uns der Wirtschaftshoheit begeben. Aber das gilt auch für die Dienstleistungsfreiheit, die Entsendeproblematik, das Herkunftslandprinzip. Herkunftslandprinzip heißt, daß für lebenswichtige Tätigkeiten im Lande nicht mehr wir die politische Verantwortung übernehmen und haben, nicht mehr wir bestimmen können, wie die Lebensmittel beschaffen, die Arbeitsverhältnisse gestaltet sind und vieles andere mehr, sondern irgendein anderes Land das regelt, auf dessen Politik wir keinen Einfluß haben. Das ist demokratisch untragbar.
Hier setzt ja auch die soziale Kritik an der EU-Verfassung, z.B. seitens der Gewerkschaften an.
Schachtschneider: Durch die Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit wird es möglich, daß Unternehmen in Deutschland Rechtsformen anderer Länder nutzen können – etwa die societé anonyme, limited company usw. Das hat der Europäische Gerichtshof durchgesetzt. Das heißt: Die deutsche Mitbestimmung ist am Ende! Mitte der siebziger Jahre wollten die Gewerkschaften die Mitbestimmung notfalls mit Generalstreik durchsetzen. Jetzt ist die Mitbestimmung erledigt! Das ist nur eine Sache, die aus der Rechtsprechung zum Herkunftslandprinzip folgt. Wenn jetzt irgendein “private equity”-Unternehmen in der französischen Rechtsform nach Deutschland kommt und Siemens oder DaimlerChrysler übernimmt, dann haben diese Unternehmen am nächsten Tag keine Mitbestimmung mehr. Diese Wirkung der Niederlassungsfreiheit war nicht voraussehbar, verantwortbar im Sinne einer begrenzten Ermächtigung.
Ihre Klage bietet dem Bundesverfassungsgericht also nun gewissermaßen eine letzte Gelegenheit, auf die Bremse zu treten – auch gegenüber dem Europäischen Gerichtshof?
Schachtschneider: Das Schlimmste bei alledem ist ja der Europäische Gerichtshof: Dessen letzter Präsident hat selbst gesagt: “Wir sind der Motor der Integration.” Der Gerichtshof ist mächtiger als alle anderen europäischen Institutionen. Mittels der Grundfreiheiten kann er die gesamte Rechtsordnung umwälzen und hat das in weitem Umfang schon getan. Ich greife ausführlich – über sechzig Seiten – die Praxis des Europäischen Gerichtshofs zu den Grundfreiheiten an und sage: Die Grundfreiheiten sind keine begrenzte Ermächtigung. Auch der Europäische Gerichtshof unterliegt diesem Prinzip, das das Bundesverfassungsgericht damals im Maastrichturteil vorsichtig auch gegenüber dem Gerichtshof angemahnt hat. Der Gerichtshof darf die Grundfreiheiten nicht so weit interpretieren, daß seine Urteile eigentlich Vertragsänderungen sind. Der Europäische Gerichtshof hat in Tausenden von Entscheidungen noch nicht einmal zu erkennen vermocht, daß ein Rechtsakt der Union grundrechtewidrig ist. Die Richter des Europäischen Gerichtshofs finden immer alles in Ordnung, was die Kommission und der Rat machen. Außerdem sind die Richter für ihre Integrationsaufgabe von den Regierungen handverlesen. Sie beziehen ein Grundgehalt von 17 000 Euro, das ist mindestens das Dreifache dessen, was ein deutscher Ordinarius verdient. Hinzu kommen noch manche Spesen. Solche Gehälter haben bekanntlich eine Bestechungsfunktion. Diese Posten hat man gerne und man hat sie gerne nochmal. Die Richter können wiedergewählt werden, jeweils für sechs Jahre! Das ist keine richterliche Unabhängigkeit! In 50 Jahren haben sie nicht einen Rechtsakt aufgehoben, weil sie ihn für verfassungs- oder grundrechtswidrig erklärten. Vom Europäischen Gerichtshof ist kein Grundrechtsschutz zu erwarten.
Stichwort Grundrechte: Sie erwähnten zu Anfang, daß nicht einmal das Recht auf Leben durch die Grundrechtecharta der EU-Verfassung verläßlich gesichert ist und unter bestimmten Umständen die Todesstrafe wieder möglich würde?
Schachtschneider: Ja, kommen wir zu den Grundrechten, z.B. dem Recht auf Leben, und sehen uns das im Detail an. In Art. II-62 VV steht: Niemand darf zum Tode verurteilt werden, niemand darf hingerichtet werden. – In Ordnung. Aber das ist nicht die Wahrheit! Im Verfassungsvertrag steht nämlich, daß die Erklärungen zu den Grundrechten, die im Grundrechtekonvent unter Roman Herzog mit dem Text der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) übernommen worden und lange diskutiert worden sind, die gleiche Verbindlichkeit haben wie der Grundrechtstext selbst. In den Erklärungen kommt die Wirklichkeit! Die Grundrechtecharta richtet sich, jedenfalls in den klassischen Grundrechten, nach der EMRK von 1950. Damals war es wohl nicht anders möglich, als daß man den vielen Mitgliedstaaten des Europarates die Möglichkeit der Todesstrafe ließ. Deutschland hatte die Todesstrafe gerade abgeschafft, 1949, aber Frankreich, Großbritannien und viele andere Staaten hatten sie noch, und es wäre nie zu einer Menschenrechtserklärung gekommen, wenn man auf allgemeiner Abschaffung der Todesstrafe bestanden hätte.
Doch nun wurde diese Erklärung von 1950 – nach langer Diskussion, nicht aus Versehen – ganz bewußt übernommen, als maßgebliche Erklärung zur Grundrechtecharta. Und diese Erklärungen muß man lesen und verstehen können!
Darin steht zunächst auch einmal, daß niemand zum Tode verurteilt oder hingerichtet werden darf. Doch dann kommen die Erläuterungen, u.a. “Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels angesehen, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht worden ist, die unbedingt erforderlich ist, um jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen” – in Ordnung, Notwehr – , “jemanden rechtmäßig festzunehmen, oder jemand, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern” – das geht schon sehr weit, doch dann kommt es – “einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen”. Das ist die Situation in Leipzig, oder eine mit Gewalt verbundene Demonstration, die als Aufruhr oder Aufstand angesehen wird.
Das ist aber nicht alles. Es heißt weiter in der Erklärung: “Ein Staat kann in seinem Recht die Todesstrafe für Taten vorsehen, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden. Diese Strafe darf nur in den Fällen, die im Recht vorgesehen sind und in Übereinstimmung mit diesen Bestimmungen angewendet werden.” Also ist die Todesstrafe in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr möglich.
Nun wird eingewendet: Die Todesstrafe steht, jedenfalls in Deutschland, in keinem Gesetz. Richtig. Aber wenn die Europäische Union Durchführungsbestimmungen für “Missionen”, d.h. Krieg, für Krisenreaktionseinsätze macht, wenn sie z.B. Regelungen für einen solchen Kriegsfall trifft, welche die Todesstrafe ermöglichen, dann kann man nicht mehr sagen, daß dies gegen die Grundrechte der EU-Verfassung verstößt. Denn dies wäre an genau dieser Erklärung zu messen.
Einen Grundrechtsschutz des Lebens im Kriegsfall oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr gibt es also nicht mehr. Weil es europäische Rechtsakte sein werden, sind sie nicht am deutschen Grundgesetz zu messen – Art. 102 GG, die Todesstrafe ist abgeschafft – sondern hieran. Das heißt, die Todesstrafe ist möglich, und sie wird kommen. Aber ich kann es niemandem vorwerfen, der sich nicht das ganze Leben lang mit öffentlichem Recht beschäftigt und mit dem Europarecht herumschlägt, wenn er nichts merkt. Dieses Werk hier, die EU-Verfassung, zu lesen – das ist doch eine Körperverletzung!
Was sagen Sie außerdem noch zur Grundrechtecharta?
Schachtschneider: Sehen Sie sich die Medienfreiheit an: “Die Medien und ihre Pluralität werden geachtet.” Was heißt denn: achten? Die Grundrechtecharta kennt etwa zwanzig Verben für die Intensität des Grundrechteschutzes: sicherstellen, gewährleisten, ein Recht haben, usw. “Ein Recht haben” ist gut, aber “werden geachtet” ist die schwächste Schutzzusage. Die Lehrfreiheit, mein Grundrecht, steht überhaupt nicht mehr im Text – und zwar nicht aus Versehen. Denn ihr Fehlen wurde öffentlich gerügt und diskutiert. Ein Bundestagsabgeordneter, der im Grundrechtekonvent saß, sagt: Wir konnten die Freiheit der Lehre nicht durchsetzen. So heißt es jetzt: “Die Freiheit der Forschung und die akademische Freiheit werden geachtet.” Was akademische Freiheit ist, weiß keiner so genau. Bei der Lehrfreiheit wußte man, was das ist.
Lehrfreiheit heißt, daß man niemandem vorschreiben kann, was er lehrt?
Schachtschneider: Oder ihn wegen seiner Lehre zur Rechenschaft ziehen kann. Die Freiheit des Katheders ist vom Bundesverfassungsgericht immer hochgehalten worden. Jetzt wird sie durch die Politik torpediert. Noch gibt es sie, aber sie ist in größter Gefahr.
Die Lehrstühle werden auch immer mehr von privaten Geldgebern abhängig gemacht.
Schachtschneider: Exakt. – Ein weiteres Beispiel: Das Eigentumsrecht ist im EU-Verfassungsvertrag von der sozialen Frage gelöst. Im Grundgesetz haben wir das schöne Grundrecht (Art. 14 GG): “Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. Eigentum verpflichtet, sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.” Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist derzeit ein großes Thema. Eigentum heißt Privatnützigkeit und Sozialpflichtigkeit. In der EU-Verfassung steht das nicht mehr. Der Vertrag schafft eine neoliberale Verfassung. Sie öffnet sich für den Neokapitalismus. Das Sozialprinzip ist weit zurückgedrängt. Anderes kommt hinzu, z.B. die Rechte der “älteren Menschen”. Was ist ein “älterer Mensch”? Einer ist immer älter als der andere. “Älterer Mensch” ist rechtlich ein abwegiger Begriff. Aber diese “älteren Menschen” haben nun ein Sondergrundrecht, und das schließt mehr aus als ein! Ältere Menschen haben das Recht auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben. Das zu sagen, ist eine Unverschämtheit! Das politische Leben ist nämlich nicht genannt, nicht aus Versehen! Was soll das heißen? Daß ältere Menschen – im Zweifel stempelt man sie als dement – kein Wahlrecht mehr brauchen?
Es sollte doch selbstverständlich sein: Wie alt ein Mensch auch sein mag, er hat immer dieselben Rechte. Es kann doch nicht aufs Alter ankommen. Eine Sonderregelung für ältere Menschen – eine glatte Diskriminierung. Natürlich gibt es auch gesonderte Regelungen für Jugendliche, Frauen und Männer.
Ende der Mitbestimmung und Rechtssicherheit Von der Tarifautonomie bleibt nicht viel übrig. Die in Deutschland heilige Tarifautonomie, wonach die Löhne und Gehälter von den Tarifpartnern festgelegt werden, ist zwar in Art.II-88 VV noch angedeutet, aber die Vorbehalte erlauben es, wenn auch der Streik gewährleistet ist, die Tarifautonomie weitgehend einzuschränken. Nach Art. 9 (3) GG sind Mindestlohnregelungen im Prinzip nicht zulässig. Daß Mindestlöhne jetzt überhaupt diskutiert werden, liegt am Europarecht. Den Weg hat die Entsenderichtlinie geebnet und die wird nicht an Art. 9 (3) GG gemessen, sondern an europarechtlichen Grundrechten, die nichts wert sind.
Der Grundrechtestatus der Bundesbürger wird ganz erheblich verschlechtert. Diese vielgerühmte Grundrechtecharta bedeutet einen schweren Verlust an Rechtlichkeit und rechtlicher Kultur. Sie ist genau das Gegenteil eines Fortschritts. Schon allein das zwingt, gegen den Vertrag zu Felde zu ziehen.
Wie stehen Sie zum europäischen Haftbefehl und diesem Fall eines Geschäftsmannes, der nach Spanien ausgeliefert werden soll?
Schachtschneider: Untragbar. Der europäische Haftbefehl wird in Karlsruhe fallen. Der Prozeß läuft, die mündliche Verhandlung hat stattgefunden. Das Gericht hat deutliche Kritik geäußert. Ein Urteil gegen den europäischen Haftbefehl wird schon ein Vorzeichen für unseren Prozeß sein. Wir haben den europäischen Haftbefehl auch ausführlich in unserer Klage behandelt. Er ist untragbar, weil er nun wirklich Grundprinzipien des Rechtsstaates verletzt, nämlich den Schutz des Bürgers durch den eigenen Staat. Ein wesentliches Grundrecht wurde aus dem Grundgesetz gestrichen, nämlich: Kein Deutscher darf ans Ausland ausgeliefert werden. Jetzt ermöglicht der europäische Haftbefehl, daß jemand verhaftet und ausgeliefert wird, selbst wenn die Tat, die er begangen hat, in Deutschland nicht strafbar ist. Das ist eine Ungeheuerlichkeit. Bisher galt der Grundsatz der Gegenseitigkeit: Es wurde nur ausgeliefert, wenn die Tat sowohl in Deutschland strafbar war als auch im Ausland. Im übrigen mußten die Strafen im Ausland angemessen sein, z.B. keine Todesstrafe. In dem erwähnten Fall geht es darum, daß jemand ausgeliefert werden soll, obwohl er sich legal verhalten hat. Er ist Deutscher. Er hat zwar noch eine weitere Staatsangehörigkeit, aber er hat aufgrund seiner Einbürgerung die deutsche Staatsangehörigkeit. Er soll wegen einer Tat an Spanien ausgeliefert werden, die in Deutschland nicht strafbar ist.
Auf dem Spiel steht hier die Rechtssicherheit, verstehe ich das richtig?
Schachtschneider: Ja, die Rechtsstaatlichkeit, das Legalitätsprinzip, das Gesetzlichkeitsprinzip – daß alle Handlungen erlaubt sind, wenn sie nicht durch den Staat, in dem man lebt, verboten sind. Ich erwarte, daß das Bundesverfassungsgericht das nicht mitmacht. Mit der Einführung einer Europäischen Staatsanwaltschaft verlieren wir auch die Hoheit in Strafsachen, nicht völlig, aber weitgehend. Und das steht alles in dem Kapitel: Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Das klingt wunderbar, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Es bleibt nicht viel von Freiheit und Sicherheit. Was für eine Sicherheit ist gemeint. Friedhofssicherheit? Oder Gefängnissicherheit? Und des Rechts? Das Recht ist der größte Verlierer der europäischen Integration.
Wie geht es weiter mit Europa?
Nehmen wir an, Frankreich sagt Nein zur EU-Verfassung, und das Bundesverfassungsgericht auch. Wie soll es dann weitergehen mit Europa? Man muß ein anderes Konzept an die Stelle dieser Monsterverfassung stellen.
Schachtschneider: Niemand bezweckt, die Europäische Union zu beenden, auch ich nicht. Wenn dieser Vertrag nicht zustande kommt, ist die EU im übrigen keineswegs handlungsunfähig. Dann sind die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza, der 2003 in Kraft getreten ist, maßgeblich. Diese gründen auf die Römischen Verträge, die Einheitliche Europäische Akte und andere. Das bleibt…
… bis es geändert wird.
Schachtschneider: Man kann man es völkervertraglich ändern, durch einen neuen Vertrag.
Wie kann Europa sich besser organisieren als etwa durch den Maastrichter Vertrag? Das Monströse an diesem Vertrag ist, von unserer Warte, vor allem die abgehobene Position der Europäischen Zentralbank (EZB). Deswegen mag die EZB den EU-Verfassungsvertrag offenbar nicht, weil sie darin nicht mehr ganz so allmächtig ist. Aber diese nichts und niemandem verantwortliche Unabhängigkeit der EZB ist ein Unding, das die Finanzoligarchie – ich meine die Leute, die all diese Deregulierungsmaßnahmen gegen die Regierungen durchgesetzt haben – sich mit diesem Maastrichter Vertrag verschafft hat. Es war doch eine Art Staatsstreich, damals 1992!
Schachtschneider: Das war meine Charakterisierung des Maastrichter Vertrages. Der Spiegel hat den Ausdruck “Staatsstreich” dann in der Berichterstattung über die Maastrichtklage übernommen.
Interessanterweise ist ja zwischen der Regierung Schröder und der EZB bzw. der Bundesbank als Teil des Zentralbanksystems, Streit ausgebrochen. Schröder möchte, daß Professor Bofinger Nachfolger von Otmar Issing im EZB-Rat wird. Bundesbankpräsident Axel Weber und sein Stellvertreter Jürgen Stark wurden nach Berlin einbestellt, nachdem sie lauthals Kritik an der Lockerung des Stabilitätspaktes geübt hatten. Von Regierungsseite ist eine gewisse Offensivität festzustellen.
Schachtschneider: Die Bestimmung IV-445 VV erlaubt natürlich auch, die Regelung der Währungsunion völlig zu verändern. Aus meiner Sicht sind die Tage der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank gezählt. Laut EU-Verfassung bleibt sie noch unabhängig, aber die Staats- und Regierungschefs können das ändern. Dieser fragwürdige Artikel wurde nicht von Giscard d’Estaing in die Verfassung geschrieben, sondern ist nachträglich hineingekommen. Er steht erst in der Fassung vom 29. Oktober 2004. Wer das getan hat, weiß ich nicht. Die Regelung richtet sich auch gegen die Unabhängigkeit der Zentralbanken. Die Franzosen mögen sie nicht, aber ich mag sie auch nicht.
Wir mögen sie auch nicht.
Schachtschneider: Anders als mein Mitstreiter und Freund Joachim Starbatty, der die unabhängige EZB verteidigt, finde ich: Diese Zentralbank ist in keiner Weise demokratisch legitimiert. Was Karlsruhe damals hat durchgehen lassen, war schon mehr als fragwürdig. Die Zentralbankpolitik, die allein der Geldwertstabilität verpflichtet ist, ist für die Beschäftigungslage untragbar. Mir wäre es am liebsten, wenn die Europäische Zentralbank sofort verschwände. Wir haben schließlich auch gegen den Euro geklagt. Die Reduzierung der Geldpolitik auf die Preisstabilität ist für den weltweiten Kapitalmarkt eine Vorbedingung der Kapitalverkehrsfreiheit. Aber jeder, der noch einen Rest an Sachlichkeit in sich hat, weiß, daß dies zu Lasten der Beschäftigung geht. Den untrennbaren Zusammenhang von Geldpolitik und Beschäftigungspolitik lasse ich mir nicht ausreden, wenn auch die neoliberale Schule das nicht wahrhaben will!
Es gibt ja verschiedene Kriterien für die “Stabilität” einer Volkswirtschaft. Natürlich muß Inflation verhindert werden, aber Arbeitslosigkeit muß auch verhindert werden!
Schachtschneider: Meinen Stabilitätsbegriff haben wir 1998 in der Euroklage dargelegt: Es gibt rechtlich überhaupt nur eine wirtschaftliche Stabilität, nämlich gemäß dem magischen Viereck, mit Gleichrang von Preisstabilität und hoher Beschäftigung, aber auch außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Wachstum, alles auf der Grundlage einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Das ist meines Erachtens auch der Stabilitätsbegriff des Bundesverfassungsgerichts…
… und des Stabilitätsgesetzes von 1967.
Schachtschneider: Exakt! Und das verteidige ich genau wie Wilhelm Hankel und Wilhelm Nölling, da sind wir ein Herz und eine Seele.
Im Konflikt zwischen EZB auf der einen und den europäischen Regierungschefs auf der anderen Seite würde ich ganz klar für letztere Partei ergreifen, weil sie auf jeden Fall legitimer sind…
Schachtschneider: …demokratischer…
…als die nicht legitimierte EZB.
Schachtschneider: Aus demokratischen Gründen ist das ganz klar. Ein europäischer Großstaat kann nicht demokratisch sein
Ich möchte auf den Fouchet-Plan von 1961 zu sprechen kommen, benannt nach de Gaulles Außenminister Christian Fouchet. Es war de Gaulles Plan einer Europäischen Union mit verschiedenen europäischen Organen, die aber den nationalen Regierungen und Parlamenten unterstellt blieben. Die Souveränität oder existentielle Staatlichkeit, wie Sie sagen, war davon nicht beeinträchtigt. Es war das Gegenkonzept zu einem supranationalen Europa. Wäre eine solche Europäische Union, ein solcher Staatenbund, nicht eine verfassungskonforme Lösung für das heutige Europa?
Schachtschneider: Ich sehe das genau so. Meine Vorstellung ist die “Republik der Republiken”, der “Föderalism freier Staaten”, hätte Kant gesagt. Die Hoheit der Republiken, der Mitgliedstaaten, muß erhalten bleiben. Sie müssen, dem eigenen Volk verantwortlich, eine bestmögliche Politik machen können. Man kann sich auch ein wenig recken und strecken, um eine gemeinsame Politik zu machen, wenn sie denn praktisch geboten ist. Ich bin auch ganz gaullistisch eingestellt. Aber solche Festlegungen im Vertrag, die viel weiter gehen als die Festlegungen des Grundgesetzes – das geht nicht. Dieser europäische Großstaat wird niemals demokratisch sein, kann es gar nicht, schon wegen seiner Größe. Insofern wird er auch niemals ein Rechtsstaat sein. Denn es gibt keinen Rechtsstaat ohne Demokratie.
Der europäische Großstaat ist sogar eine Kriegsgefahr. Er will ja Kriege führen; die Militärverfassung enthält die Verpflichtung zur Aufrüstung. Er verpflichtet sich, für den Frieden der Welt zu sorgen, neben den Vereinigten Staaten. Europa will eine Großmacht sein, erklärtermaßen – und das heißt, Kriege zu führen, wie die Vereinigten Staaten sie führen. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen. Ich bin nicht dafür. Das sind einfach völkerrechtswidrige Kriege. Der Irakkrieg war ein Angriffskrieg, das sagen fast alle Völkerrechtler in Deutschland. Ich habe mich dazu auch öffentlich geäußert.
Geboten ist einzig und allein die Verteidigung. Man kann auch ein Bündnis eingehen, aber es darf nicht allzu mächtig werden. Große Staaten gefährden immer andere kleinere, schwächere, und ein solcher Großstaat ist eine Gefährdung anderer Staaten in dieser Welt. Ich bin Anhänger der kleinen Einheit. Die Schweiz kann sich auch verteidigen, obwohl sie klein ist. Sie ist lange nicht angegriffen worden, und sie wird auch nicht angegriffen werden.
Der Irakkrieg war natürlich ein gewaltiges Motiv für den europäischen Integrationsprozeß. Herr LaRouche hat sehr nachdrücklich vor unüberlegten Schritten in dieser Richtung gewarnt. Wir haben China. Rußland ist immer noch da, und es ist gut, daß es da ist. Wir haben Europa, wir haben Amerika und noch einige andere Regionen der Welt, von denen viele immer ärmer werden. Das Dringendste ist daher eine Entwicklungsstrategie, damit man aus dem erdrückenden Zustand der Verelendung – der “failed states”, wie es heißt – herauskommt. Herr LaRouche nennt diesen Ansatz einen neuen Westfälischen Frieden, Frieden durch gemeinsame Entwicklung. Das Konzept muß sein, daß man seine eigenen Interessen sozusagen im Lichte des Weltgemeinwohls wahrnimmt. Regionale Entwicklungsbündnisse sind in Ordnung, aber sie müssen das Gesamtwohl im Auge haben und sich nicht gegen andere Weltregionen richten.
Schachtschneider: Ein europäischer Großstaat wird alle freiheitlichen Institutionen schleifen: den Föderalismus, den Kommunalismus und viele anderen Institutionen wie z.B. freie Berufe, Universitäten, usw. Die Welt wird nicht so sein, wie sie der Neoliberalismus, der Neokapitalismus beschreibt. Es wird eine ganz andere Welt sein. Die Menschen werden unterdrückt werden. Aber auch der globalisierte Kapitalismus der Ausbeutung wird ein Ende haben. Die Menschen werden dagegen stimmen, auch bei europäischen Wahlen. Dann sind alle freiheitlichen Organisationen verloren, weil die europäische Politik, zumal der Marktfundamentalismus mit dem Wettbewerbswahn, ihnen ein Ende bereitet haben wird. Deswegen hat man es auch so furchtbar eilig, denn man weiß genau, daß diese Form des Kapitalismus keine dauerhafte Angelegenheit ist. Der Mittelweg, was Erhard die “Soziale Marktwirtschaft” nannte, oder was ich “die marktliche Sozialwirtschaft” nenne, scheint mir das Richtige zu sein. Mit vielen Republiken, vielen Institutionen, in denen die Menschen sich beruflich und auch sonst entfalten können. Ein solcher Pluralismus ist auch ein Stück Freiheit. Das wird nun alles eingeebnet. Die Unterschiede werden nivelliert. Die Hauptverkehrssprache in Europa wird beispielsweise nicht die deutsche sein, was ich für einen Kulturverlust halten würde.
Ich bin allemal gegen den Großstaat. Die Lösung de Gaulles, L’Europe des Patries, l’Europe des etats, erscheint mir richtig, auch im Sinne der Freiheit. Der Großstaat wird niemals freiheitlich sein.
Verbund der Nationalbanken statt EZB
Jacques Cheminade, unser Mann in Frankreich, hat im Rahmen der Referendumsdebatte um die EU-Verfassung ein Flugblatt verbreitet, in dem er erstens die EU-Verfassung Punkt für Punkt zerpflückt und dann zweitens konstruktive Vorschläge macht. Neben einer Investitionsoffensive in eurasische Infrastrukturprojekte ist dabei ein ganz wichtiger Punkt, die Europäische Zentralbank durch einen Verbund von Nationalbanken zu ersetzen. Wie beurteilen Sie als Professor für Öffentliches Recht die Nationalbankfrage, auch in bezug auf die Bundesbank?
Schachtschneider: Verbund hieße: Eigenständigkeit der Nationalbanken? Daß die nationalen Banken die Verantwortung haben für die Währung?
Dabei orientiert sich der Begriff “Nationalbank” an dem ursprünglichen Konzept der amerikanischen Nationalbank unter Alexander Hamilton, daß das Geld von vornherein unter dem Gesichtspunkt von Aufbau und Entwicklung in Umlauf gebracht wird, wie wir es hier von der Kreditanstalt für Wiederaufbau kennen. Die Nationalbank wäre sozusagen ein Motor der nationalen wirtschaftlichen Entwicklung.
Schachtschneider: So sollte es sein. Ein Land kann volkswirtschaftlich nur mit einem eigenständigen Kredit- und Finanzsystem reüssieren. Das haben wir aus der Hand gegeben. Die Entwicklung der entwicklungsbedürftigen Länder – Afrika usw. – funktioniert deswegen nicht, weil sie kein eigenständiges Finanzsystem haben. Die Kreditierung von außen hat diese Länder in noch größeres Unglück gestürzt. Die eigene Geldhoheit, die eigene Kredit- und Währungshoheit erscheint mir unverzichtbar für einen Staat. Schon im Maastricht-Prozeß habe ich vorgetragen, daß es zur existentiellen Staatlichkeit gehört. Deswegen haben wir auch den Europrozeß geführt. Eine solche Nationalbank wäre demokratisch eingebunden. Die Bundesbank unterscheidet sich wesentlich von der jetzigen Europäischen Zentralbank, denn die Bundesbank war vom Gesetzgeber abhängig. Der Gesetzgeber konnte ihr andere Ziele geben und andere Instrumente vorschreiben. Die EZB dagegen ist völlig unabhängig. Für sie gilt nur der Vertrag. Der Geldpolitik mangelt die Möglichkeit, auf die nationalen volkswirtschaftlichen Gegebenheiten zu reagieren, die Möglichkeiten, durch Aufwertung, Abwertung usw. Fehlentwicklungen abzufangen. Infolgedessen wird die Flexibilität in der Lohnpolitik gesucht. Es bleibt auch angesichts der Fehlkonstruktion der Währungsunion nichts anderes übrig.
Ein Verbund hieße Abstimmen der Politik. Das wäre in Ordnung, solange die eigene Hoheit gewahrt bleibt. Ich bin sehr für Verbund, für den Staatenverbund bei eigener Verantwortung für die Politik. Deshalb darf es keine durchgreifenden Organe geben auf der sogenannten supranationalen Ebene, die die Politik bestimmen! Sie muß immer auf der nationalen Hoheit beruhen und sollte sich einer praktischen Vernunft des Miteinanders befleißigen. Das wäre ein Stück politischer Kultur!
Was das internationale Währungs- und Kreditsystem betrifft, ist ja ohnehin eine Reorganisation fällig. Was ansteht, ist ein Neues Bretton Woods, wofür wir uns einsetzen. Das bestehende System ist an sein Ende gekommen, es geht so einfach nicht weiter.
Schachtschneider: Es muß ein Neues Bretton Woods geben, ja. Ich habe keinen Zweifel daran, daß ein Währungsschnitt kommt. Ich rechne ohnehin damit, daß die Amerikaner eine neue Währungspolitik machen werden, sich eine neue Währung geben oder den Dollar neu bewerten werden, um sich auf diese Weise der riesigen Defizite und Dollarschulden zu entledigen.
Unsere Idee eines Neuen Bretton Woods ist eine grundsätzlich andere…
Schachtschneider: Das kann ich mir denken. Die Sache des Volkes
Abschließend möchte ich auf Ihr Buch über die Republik “Res publica res populi” zu sprechen kommen. Was ist das Wichtigste an der Republik?
Schachtschneider: Die Freiheit! Aber Freiheit verstehe ich als politische Freiheit, das ist kantianisch konzipiert, durch und durch. Die Freiheit ist die Wirklichkeit des Rechts, und die bedarf des Staates. Freiheit heißt mit den anderen im Recht leben, d.h., man muß auch zum Recht finden, das Recht erkennen und als allgemeines Gesetz verbindlich machen. Das ist Rousseau! Das allgemeine Gesetz, das niemanden verletzt, weil jeder Autor dieses Gesetzes ist, weil jeder das Gesetz gibt. Das allgemeine Gesetz ist immer das Gesetz aller. Das ist eine radikaldemokratische Lehre der Gesetzgebung durch wirklich alle, eine andere Art von Repräsentation, die in keiner Weise verträglich ist mit dem Parteienstaat, sondern die Gewissensverpflichtung des einzelnen Abgeordneten ernst nimmt. Der Abgeordnete muß dann diese innere Freiheit, die Verpflichtung des Sittengesetzes, repräsentieren. Er muß in “stellvertretender Sittlichkeit” – das ist meine Formulierung – das Gesetz geben.
Sittlichkeit hat ein Gesetz, den kategorischen Imperativ: Handle jederzeit nach einer Maxime, von der du wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz sei. Also: Achte den andern als Menschen und lebe mit ihm im Recht, das aber gemeinsam gefunden wird. Diese Art von Sittlichkeit können Sie auch übersetzen – sehr christlich – als: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Der kategorische Imperativ ist nichts anderes als das christliche Liebesprinzip, und das heißt eben, den anderen als Menschen achten und ihn nicht unterdrücken.
Das heißt Republik für mich, und kann nur in den vielen kleinen Einheiten, wie schon angesprochen, verwirklicht werden.
Herr Professor, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Schachtschneider: Gern geschehen! Wo ist die Stunde, die mir das ZDF oder die ARD geben?
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Liebe LeserInnen,
ich denke nun wird noch um einiges deutlicher, worum es in diesem EU-Reformvertrag von Lissabon geht ! mein besonderer Dank für die Bereitstellung des Interviews gilt BüSo und dem O-State-Forum. Die Artikelserie zu diesem Thema wird selbstverständlich fortgesetzt…
Aktionslink: www.myspace.com/Stop_the_lisboa_treaty-CK-