Überhangmandate: Betrug an Staatsbürgern und Verfassung seit 53 Jahren
Schenkt das SPD-Präsidium der CDU 21 Abgeordnete zusätzlich zur Bundestagswahl?
Heute fällt im derzeit tagenden Parteipräsidium der SPD die Entscheidung, ob die Regierungspartei am Freitag dem Koalitionspartner CDU zur Bundestagswahl 21 Abgeordnete zusätzlich schenkt und damit die Mehrheit von schwarz-gelb sichert, oder mit Linken und Grünen im Bundestag eine seit 53 Jahren andauernde üble Sabotage der Demokratie zugunsten der grossen Parteien beendet: die Praxis der sogenannten “Überhangmandate”.
Die Vorgeschichte, Radio Utopie berichtete dazu am 11.Februar (1) :
Es geht um die auf Bundesebene seit 1956 nach einer Wahl praktizierte Gewährung von Überhangmandaten für die damaligen “Volksparteien”, ohne die in mehreren Bundesländern üblichen Ausgleichsmandate.
Zu Überhangmandaten kommt es im Bundesparlament, wenn in einem Bundesland eine Partei durch die Anzahl der gewonnenen Direktmandate mehr Sitze erhält, als ihr aufgrund der Sitzverteilung durch die Zweitstimme eigentlich zustehen würden.
Diese bisher durch das Establishment nie in Frage gestellte Praxis begünstigt die bisherigen “Volksparteien” SPD, CDU und CSU.
Am 11.02. hatte dann Parteivorsitzender Franz Müntefering angesichts einbrechender Umfrageergebnisse für die SPD plötzlich öffentlich erklärt:
“Wir können nicht einfach nach einem erklärterweise verfassungswidrigen System wählen.”
Er stellte die Bundestagswahl am 27.September und deren Legitimation insgesamt in Frage. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtshofes vom 3.Juli 2008 besagte allerdings wörtlich:
“Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens bis zum 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Im Übrigen werden die Wahlprüfungsbeschwerden zurückgewiesen.”
Das heisst, Karlsruhe hatte in einer seiner üblichen Entscheidungen die bisherige Praxis der real existierenden Wahlmonarchie zugunsten der grossen Parteien für nicht vereinbar mit unserer Verfassung erklärt, aber eine weitere Entscheidung mit diesem System zugelassen. Rein verfassungsrechtlich gibt es also an der Bundestagswahl und ihrem Ergebnis nichts zu zweifeln.
Heute nun geschah folgendes: die “Frankfurter Rundschau” (2) zitierte eine Quelle aus dem heute tagenden SPD-Präsidium. Demzufolge ist die SPD, die bisher lieber mit Merkel einen Atomkrieg als mit Grünen und Linken einen Wahlkampf für einen SPD-Kanzler geführt hätte, ob der einkrachenden Umfragen mittlerweile so in Panik, dass sie sich vorstellen kann am Freitag für einen Gesetzentwurf der Grünen zu stimmen. Dieser Gesetzentwurf würde die 53 Jahre andauernde undemokratische Auslegung des Grundgesetzes zugunsten der herrschenden Parteien beenden und die sogenannten Überhangmandate endlich abschaffen.
Die Gründe für den Schwenk in der SPD-Spitze sind nachvollziehbar schwerwiegend und haben nichts mit Moral oder Gewissen zu tun: sie steht vor der Wahl Merkel und schwarz-gelb einundzwanzig Abgeordnete zusätzlich zu schenken und damit sich selbst vor aller Augen als grösste Farce der Parteien-Geschichte zu outen, oder mit Linken und Grünen zusammen diese Manipulation des Wählerwillens endgültig abzuschaffen.
Die CDU wiederum lehnt natürlich diese Änderung ab. Wahrscheinlich ist, dass sie wieder einmal die Platte vom Ausbruch des Kommunismus aus dem Schrank holt.
Doch viel entsetzlicher ist die ganze Dimension des Betruges an den Deutschen, an der Demokratie und ihrer 60 Jahre alten mit Füssen getreteten Verfassung. Es ist wichtig, sich folgendes Zitat aus der “Frankfurter Rundschau” (2) wirklich ganz genau durchzulesen:
“Merkel hat nun in einem Antwortschreiben eine Änderung des Wahlrechts in dieser Legislaturperiode abgelehnt. Müntefering verfolge “rein taktische Ziele”, heißt es in ihrem Umfeld – doch die Union hat selbst handfeste Gründe für die Verzögerung der Reform. Nach einer Projektion des Friedrichshafener Politologen Joachim Behnke könnte sie am 27. September soviele Zusatzsitze erhalten wie nie: Während die SPD allenfalls zwei oder drei Überhangmandate erwarten könne, seien es bei der CDU 21 und selbst bei der CSU drei, berichtet der Spiegel. Damit würden die Chancen von Schwarz-Gelb rapide steigen.”
Der “Spiegel” hat also berichtet. Ja was hat er denn berichtet (3) ?
“Laut einer “Schätzung mit Simulationen” des Friedrichshafener Politologen Joachim Behnke dürften bei der nächsten Wahl so viele dieser Mandate entstehen wie bei keiner Bundestagswahl zuvor. Dabei würde die SPD, selbst wenn sie zwei Prozentpunkte besser abschneidet als in den aktuellen Umfragen, im Schnitt nur zwei bis drei Überhangmandate erhalten – die CDU dagegen 21. Und selbst die CSU käme, erstmals in ihrer Geschichte, auf drei zusätzliche Sitze.”
Laut einer “Schätzung mit Simulationen” des Friedrichshafener Politologen Joachim Behnke also. Aha.
Dr. rer. pol. Joachim Behnke,wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl I für Politikwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, umschrieb in einem “Dossier Bundestagswahlen” für die “Bundeszentrale für politische Bildung” bpb die Situation der real existierenden Demokratie im Zusammenhang mit den “Überhangmandaten” wie folgt (4)
“Dass schon kleine Differenzen ausschlaggebend sein können, zeigt auch das Beispiel der Bundestagswahl von 1994. Damals errang die Koalition von CDU/CSU und FDP ebenfalls nur eine hauchdünne Mehrheit von zwei Sitzen gegenüber der Opposition, die sich mit Hilfe der angefallenen Überhangmandate auf zehn erhöhte. Da mindestens drei Abgeordnete der Koalition damals jedoch bei der Wahl des Bundeskanzlers nicht für Helmut Kohl stimmten, könnten die Überhangmandate so Helmut Kohl seine Kanzlerschaft gerettet haben..
Nach der doppelten Anwendung des Hare-Niemeyer-Verfahrens ergaben sich für 2002 die in Tabelle 3 aufgeführten endgültigen Sitzzuteilungen der regulären Mandate..
In Hamburg z.B. errang die SPD sechs Direktmandate, aber nach ihrem Zweitstimmenanteil hätten ihr nur fünf Mandate zugestanden. Da die SPD aber alle sechs Wahlkreismandate behielt, entstand hier ein Überhangmandat. Weitere Überhangmandate entstanden in Sachsen CDU , in Sachsen-Anhalt SPD: zwei und in Thüringen SPD . Die SPD erhielt also insgesamt vier Überhangmandate, die CDU eines. Da eine Partei für jedes Mandat, das ihr nach dem HN-Verfahren zugeteilt wurde, ungefähr 75 000 Zweitstimmen als “Preis” entrichten musste, heißt das, dass die Überhangmandate einen Effekt erzielten, als ob weitere 300 000 “virtuelle” Wähler die SPD und weitere 75 000 virtuelle Wählerinnen und Wähler die CDU gewählt hätten. Der Effekt der Überhangmandate für die SPD kann daher so interpretiert werden, als ob aufgrund der magischen Überhangmandate gleichsam aus dem Nichts eine mittlere Großstadt entstanden wäre, deren Bürger ausschließlich SPD-Wähler wären.Ohne Überhangmandate hätte die rot-grüne Koalition 302 von 598 Sitzen gehabt, d.h. nur zwei Sitze mehr als die von ihr zur Kanzlerwahl benötigte absolute Mehrheit der Mitglieder des Parlaments. Mit Hilfe der Überhangmandate jedoch kam die rot-grüne Koalition auf 306 Stimmen, wobei die Größe des Bundestags auf 603 Abgeordnete anwuchs. Damit hatte die Koalition 4 Mandate mehr, als sie mindestens zur Kanzlerwahl benötigte..
Durch weniger Stimmen in Brandenburg hätte die SPD..ein Listenmandat in Bremen hinzugewonnen. Ebenfalls wären mehr Überhangmandate entstanden, hätte die PDS den Einzug in den Bundestag geschafft, indem sie z.B. in Berlin ein drittes Direktmandat erzielt hätte. Bei ansonsten gleichen Zweitstimmenanteilen der Parteien wären dann statt fünf Überhangmandaten acht entstanden, je ein weiteres in Brandenburg SPD , in Sachsen CDU und in Thüringen SPD ..
Überhangmandate entstehen daher besonders leicht, wenn starke Dritt- und Viertparteien vorhanden sind, so dass die zweitstärkste Partei deutlich abgeschlagen hinter der stärksten Partei sein kann, auch wenn diese deutlich unter 50 Prozent liegt..
Es ist relativ einfach, die Art und Weise der Entstehung von Überhangmandaten zu beschreiben. Auch die Erläuterung der Ursachen und der Art ihres Wirkens fällt nicht schwer. Wesentlich komplizierter ist hingegen die Beantwortung der Frage, was Überhangmandate denn genau sind.
Handelt es sich bei diesen z.B. um Direktmandate oder Listenmandate? Für erstere Ansicht würde ja sprechen, dass Überhangmandate dadurch entstehen, dass eine Partei mehr Direktmandate bekommt, als ihr an HN-Mandaten zustehen würden, dass sie also “zu viele” Direktmandate erhält. Andererseits aber sind die zusätzlich anfallenden Mandate offensichtlich alle Listenmandate, da die Anzahl der Direktmandate ja fix gehalten wird.
Da nicht einmal festgestellt werden kann, ob es sich bei Überhangmandaten um Direktmandate oder Listenmandate handelt, folgt daraus logisch, dass es auch nicht möglich sein kann, die Überhangmandate einzeln zu identifizieren. Demnach wäre es in der Tat angemessener, im Zusammenhang mit dieser Problematik weniger von Überhangmandaten als vielmehr von einem “Überhang an Mandaten” zu sprechen, wie es von Hans Mayer vorgeschlagen worden ist[4]. Eine Zuordnung bestimmter Mandate zu den Überhangmandaten, sei es nun als Direktmandate oder als Listenmandate, ist daher immer willkürlich und theoretisch niemals stichhaltig zu belegen..
Das Wahlsystem der Bundesrepublik selbst ist nicht in der Verfassung, sondern im Bundeswahlgesetz festgelegt. Dadurch kann das Wahlsystem jederzeit im Rahmen der normalen Gesetzgebung geändert werden. Im Grundgesetz enthalten sind lediglich die Wahlrechtsgrundsätze, die in Art. 38 aufgeführt sind..
Entsprechend dem Umstand, dass die Ausgestaltung des Wahlsystems Angelegenheit des Gesetzgebers ist, legte das Bundesverfassungsgericht in seinen ersten grundlegenden Entscheidungen fest, dass der Grundsatz der Wahlgleichheit “systemgebunden” zu interpretieren sei. So sei der Grundsatz der Gleichheit als Zählwertgleichheit zu verstehen, wenn sich der Gesetzgeber für ein Mehrheitswahlsystem entschieden habe, und im Sinne einer Erfolgswertgleichheit, wenn der Gesetzgeber ein Verhältniswahlsystem beschlossen habe..
Eine Abweichung vom Prinzip der Erfolgswertgleichheit sieht das Gericht nur als gerechtfertigt an, wenn hierfür das Vorliegen eines “zwingenden Grund es ” geltend gemacht werden kann. Ein solcher zwingender Grund besteht z.B. in der Sicherung der Regierungsstabilität, wonach die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes durch die Fünfprozenthürde hingenommen werden darf, um die Entstehung von Splitterparteien zu verhindern.
Als bei der Bundestagswahl 1994 die bis dahin unbekannte und auch später nicht mehr erreichte Größenordnung von 16 Überhangmandaten zustande kam, veranlasste dies das Land Niedersachsen unter seinem damaligen Ministerpräsidenten Schröder zur Anstrengung eines Normenkontrollverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht. Am 10. April 1997 verkündeten die Richter das bisher umfangreichste Urteil zu den Überhangmandaten,[10] worin sie diese für nicht verfassungswidrig erklärten. Allerdings ging dieses Urteil in der denkbar knappsten Weise aus, denn vier der acht Richter waren der Ansicht, dass die Überhangmandate einen Verstoß gegen die Verfassung darstellten. Da bei Stimmengleichheit jedoch der Status quo beibehalten wird, kam es zu dem Ergebnis, dass die Überhangmandate nicht verfassungswidrig seien.
Die Frage, ob Überhangmandate nun wirklich gegen die Verfassung verstoßen oder nicht, ist aber gar nicht so entscheidend !?! . Zwar wäre der Gesetzgeber im Falle einer Verfassungswidrigkeit gezwungen zu handeln, aber ein Anlass zu handeln besteht für den Gesetzgeber ja auch dann, wenn ein offensichtliches Problem in einem Bereich auftritt, der durch Gesetze geregelt ist. In diesem Fall gilt es, schlechte Gesetze durch bessere zu ersetzen. Und genau einen solchen Fall stellen die Überhangmandate ohne Zweifel dar. Denn sie widersprechen in mehrfacher Hinsicht unseren Intuitionen, wie denn ein gelungenes Design eines Wahlsystems auszusehen hätte..
Zuerst will ich die Frage behandeln, ob Überhangmandate unter Umständen gar nicht als Übel empfunden werden, sondern sogar mit guten Gründen gewollt sein können. Es gibt meines Wissens ein einziges Argument, das in diese Richtung zielt. Dieses Argument besagt, dass Überhangmandate eine bewusst geschaffene Konsequenz des Personenwahlelements sind, da sie als “Prämie” verstanden werden können, die den Parteien zugesprochen wird, die sich durch die Aufstellung besonders attraktiver Kandidaten um eine Verankerung in der Bevölkerung besonders bemüht haben..
Überhangmandate stellen mit Sicherheit einen Makel des Wahlsystems dar. Es gibt kein einziges stichhaltiges Argument dafür, sie bewusst beizubehalten. Es gibt aber eine Reihe guter Argumente, warum Überhangmandate unbedingt abgeschafft werden sollten. Der einzige Grund, diesen Makel des Wahlsystems nicht abzuschaffen, könnte somit nur darin bestehen, dass es nicht möglich wäre, die unangenehmen Folgen der Überhangmandate zu beseitigen, ohne gleichzeitig andere, höherwertige Grundsätze zu tangieren. Dies ist allerdings keineswegs der Fall. Die gleichheitsverzerrenden Folgen der Überhangmandate können beseitigt werden, ohne andere wichtige Elemente des Wahlsystems, wie z.B. die Personenwahl, auch nur im geringsten anzutasten. Die mangelnde Initiative des Gesetzgebers scheint eher so erklärt werden zu können, dass bisher immer diejenige Koalition von den Überhangmandaten profitierte, die die Mehrheit im Parlament besaß. Doch es kann nicht als politisch klug bezeichnet werden, aus kurzfristigen Interessen eine Regelung aufrechtzuerhalten, die langfristig jede zukünftige Regierung der Drohung eines Legitimationsverlusts aussetzt. Welche Probleme auch immer ein zukünftiger Wahlsieger zu lösen haben wird, es wird ihm umso leichter fallen, der Bevölkerung Opfer zuzumuten, je unantastbarer seine Legitimität ist.”
Dieses Dossier des Dr. rer. pol. Joachim Behnke stammt aus dem Jahre 2003…
…
Quellen:
1 http://www.radio-utopie.de/2009/02/11/spd-versucht-bundestagswahl-in-frage-zu-stellen/
2 http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/1814977_Wahlrechtsreform-SPD-erwaegt-den-Koalitionsbruch.html
3 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,632959,00.html
4 http://www.bpb.de/themen/WKXL27,0,0,Von_%DCberhangmandaten_und_Gesetzesl%FCcken.html