Kunduz-Affäre: Wussten WIR nicht alle, dass WIR nichts wussten?
Ex-Aussenminister und Afghanistan-Kriegsprophet Frank Steinmeier versucht´s auf die ganz blöde Tour. Retten wird ihn das nicht. Auch Kanzlerin Angela Merkel muss sich dem anvisierten zweiten Untersuchungsausschuss erklären.
„Wir alle wussten, dass es viele Opfer gab“, so der ex-Aussenminister und schon jetzt erfolgreichste SPD-Fraktionsführer aller Zeiten, Frank-Walter Steinmeier, gestern zur „Welt am Sonntag“ (1). Gemeint ist der mörderische Luftangriff auf eine Menschenmenge um zwei Tanklaster, 5 Kilometer vom deutschen Militärhauptquartier von Kunduz am frühen Morgen des 4.September. Er selbst sei damals am 8.September im Bundestag „weder gegenüber dem Parlament noch in der Öffentlichkeit mit der Gewissheit aufgetreten, dass Zivilisten nicht ums Leben gekommen sind“.
Mal ehrlich: sind wir nicht alle ein bisschen dumm und merken kein Stück, was da gespielt wird? Haben nicht alle ein bisschen Banane in den Ohren? Im Grunde sind wir doch alle schuld – durch unsere Schuld, durch unsere Schuld, durch unsere unendliche Schuld. Frank, wir bomben in Kunduz.
Der grottenschlechte Versuch des Meisters aller semantisch-rhetorischen Kunststückchen („Ich rechne nicht damit, dass wir noch zehn Jahre oder länger in Afghanistan militärisch präsent sein werden“, 2) sagte gestern nicht einfach, „Ja was hätte ich denn wissen können? Ich war doch bloss Aussenminister!“, nein, er machte es wieder einmal unfassbar geschickt, wie es nun mal Frank-Walter Steinmeiers Art und Weise ist. Er stellte einfach die Frage, „ob dem Auswärtigen Amt Informationen vorenthalten worden sind“, ohne zu erklären, wer ihm das wohl beantworten werde, und gleichwohl in der ihn ab dem heutigen Tage bis ans Ende seinen Lebens verfolgenden Befürchtung, es werde am Ende doch jemand tun.
Denn wenn er, nach 4 Jahren gemeinsamer Koalition, am Ende doch einmal am Regierungstag mit dem Kanzleramt oder dem Bundesverteidigungsministerium direkt oder indirekt Kontakt hatte, dann müsste er, genau wie seine angebetete Chefin Angela Merkel, durch die sogenannte „Gruppe 22“ für militärische Angelegenheiten im Kanzleramt, oder sein ex-Kollege Frank-Josef Jung direkt vom Einsatzführungskmommando in Potsdam, sehr viel früher Bescheid gewusst haben, als Steinmeier nun behauptet.
Bereits am Abend des 4.Septembers erging, soviel ist bekannt, ein Bericht des Kommandeurs der deutschen Truppen in Afghanistan, Brigadegeneral Jörg Vollmer, an das Einsatzführungskommando der Bundeswehr nach Potsdam. Darin enthalten war auch der vielzitierte „Feldjägerbericht“, welcher u.a. aufführte, dass der einzelne Informant, auf dessen Aussage sich der befehlshabende Oberst Klein an jenem frühen Morgen des 4.Septembers bei seinem Befehl des Bombardements auf die Menschenmenge angeblich stützte, nie am Ort des Geschehens war: im Gegenteil war dieser Informant, laut dem Feldjägerbericht, nicht nur mit dem deutschen Isaf-Hauptquartier in telefonischem Kontakt – sondern auch noch mit „den Taliban“. (3)
Bis heute behaupten die Regierungsmitglieder Merkel, Jung und Steinmeier, noch am 8.September bei ihren legendären Statements im Bundestag á la „Wir bombten in Kunduz, und es ward guts Werk für´s Vaterland“, keinen blassen Schimmer von diesem Bericht des Brigadegenerals gehabt zu haben. Wohlgemerkt, von ihrem Brigadegeneral, nicht unserem Brigadegeneral.
Noch einmal: nach 8 Jahren Krieg in aller Welt, „gegen den Terror“ und in Afghanisten, und nach einem Vernichtungsangriff auf eine Menschenmenge mit 137 Toten, auf Befehl des deutschen Militärs, und nach einer entsprechden Meldung des deutschen Militäroberkommandierenden aus Afghanistan noch am gleichen Abend, behaupten die Kanzlerin Angela Merkel (CDU), der damalige Aussenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und der damalige Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte, Verteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU), noch 4 Tage später diesen Bericht nicht gekannt und vor dem Parlament die Wahrheit gesagt zu haben.
Und nicht nur das – alle drei behaupten, diesen wochenlang nicht gekannt zu haben. Franz-Josef Jung behauptete am 26.November im Bundestag, er habe von der Existenz des „Feldjägerberichtes“ – im Bericht vom Oberkommandierenden Brigadegeneral Vollmer in Afghanistan! – erst am „5. oder 6. Oktober“ (4) erfahren zu haben und zwar von Generalinspekteur Schneiderhan. Der habe ihm, seinem Oberbefehlshaber und Verteidigungsminister, aber geraten, den Bericht gleich weiter an die Nato zu leiten. Deswegen habe er, Jung, ihn nie gelesen, aber weitergeleitet an die Nato (4). Was für eine epische, unendliche, beschämende Farce. Aber es geht noch schlimmer, schliesslich gibt´s ja noch die SPD:
Frank-Walter Steinmeier behauptete gestern allen Ernstes, erst am 27.November vom „Feldjägerbericht“ des 4.Septembers erfahren zu haben (1), Was für ein Abgrund der Falschheit, was für ein Arie des Hohns, was für ein Augias-Stall ohne Ausmister, aber mit Aussenminister.
Erinnern Sie sich an den Auftritt von Gregor Gysi (Linke) und Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) am 26.November im Bundestag, nach den verzweifelten Rettungsbemühungen von Arbeitsminister Franz-Josef Jung? Erinnern sie sich an die Argumente der Opposition?
Jürgen Trittin (4):
„An dem Tag, an dem Sie diesen Feldjägerbericht an die NATO weitergeleitet haben, hätten Sie veranlassen müssen, dass dieser Bericht diesem Parlament, seinem Verteidigungsausschuss und seinem Auswärtigen Ausschuss sofort und unmittelbar ebenfalls zur Verfügung gestellt wird. Sie haben hier nicht nur die Unwahrheit gesagt. Sie haben uns alle hinter die Fichte geführt, und das gehört sich nicht in einer Demokratie.“
Gregor Gysi:
„Ich weiß auch nicht: Wer war denn noch informiert? Frau Bundeskanzlerin, haben Sie davon gewusst? Ich weiß es nicht. Warum erfolgen keine Stellungnahmen? Das wäre doch wohl das Mindeste. – Hören Sie zu! Das ist doch ein außergewöhnlicher Vorgang: Durch den Befehl eines Soldaten der Bundeswehr sind bis zu 142 Menschen gestorben; aber man erfährt so gut wie nichts und wenn, dann immer nur ein kleines Stückchen. Das geht einfach nicht. Die deutsche und die internationale Öffentlichkeit haben einen Anspruch auf Aufklärung; diesen Anspruch sollten Sie befriedigen.“
Man muss es immer wieder sagen: das Parlament hat bei Ministern nichts zu melden, gar nichts. Minister werden zwar vor dem Parlament, aber nicht durch das Parlament vereidigt, wie immer wieder falsch und manipulativ behauptet wird. Minister werden durch den Kanzler/die Kanzlerin vorgeschlagen und durch den Bundespräsidenten ernannt. Das deutsche Parlament hat nicht einmal die Möglichkeit, einen Minister abzuwählen oder durch ein Misstrauensvotum zu stürzen. Alles wird nur durch und vor einer Öffentlichkeit entschieden, die wach sein muss, die informiert sein muss und verdammt noch mutig genug, diese ganzen strukturellen Demokratiedefizite auszugleichen. Das tut sie in den allermeisten Fällen nicht, die Öffentlichkeit, weil sie manipuliert wird, weichgespült, bequatscht und – in der Tat – hinter die Fichte geführt wird, durch die Kriegspropaganda gewisser „Medien“ und ihrer „Spindoktoren“.
Gestern macht der „Spiegel“ (5) mit der Neuigkeit auf, dass der us-amerikanische F15-Pilot
„nicht nur ein- oder zweimal warnende Tiefflüge vorgeschlagen habe, sondern gleich fünfmal.“
Zitat Jürgen Trittin, Richtung Franz-Josef Jung, bereits am 26.November im Bundestag (4):
„Ich frage Sie, warum diese Piloten, wenn es unabweisbar war, fünfmal gefragt haben: Sollen wir keinen Tiefflug machen, um die dort versammelten Menschen vor dem zu warnen, was gleich passiert?“
Die eigentliche Information des gestrigen „Spiegel“-Artikels war eine andere und sie belegt abermals, dass der angeblich „nach bestem Wissen und Gewissen“ handelnde deutsche Isaf-Befehlshaber Oberst Georg Klein sehr gezielt die gesamte Menschenmenge bombardieren liess: über seinen Fliegerleitoffizier mit dem Codenamen „Red Baron“ habe Oberst Klein sechs Bomben auf die Menschenmenge gefordert, anstatt der später abgeworfen zwei. Die Besatzung der F-15 hätte dem ausdrücklich wiedersprochen.
Das passt zu einer weiteren, für die deutsche Isaf-Führung in Kunduz, äusserst unangenehmen Einzelheit der Affäre, die ebenfalls Jürgen Trittin im Bundestag öffentlich machte (4):
„Wenn man sich dieses Video anschaut, dann bestätigt sich auch eine weitere schlimme Tatsache, nämlich dass entgegen der Frage der Piloten angeordnet worden ist, direkt zwischen die beiden Tanklastzüge zu zielen: dorthin, wo auf dem Video die Menschen zu erkennen sind.“
Es ist verständlich, dass sich der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Ulrich Kirsch, vor den Offizier Klein stellt. Es ist sogar verständlich, dass der Oberfehlshaber, Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, den Isaf-Befehlshaber „nicht fallen“ lässt. Was aber einfach überhaupt nicht geht, ist erstens als deutscher Militär bewusst einen Vernichtungsangriff zu befehlen, zweitens als Regierung darüber das Parlament und die Öffentlichkeit zu belügen, und dass auch noch drittens bis knapp drei Wochen später am 27.September die Bundestagswahlen gelaufen sind.
Wenn es jemals eines Existenzberechtigungsnachweises der „Teilung der Gewalten“ bedurft hätte, dann genau jetzt. Das ist die Stunde, in der ein Parlament beweisen muss, dass es nicht umsonst gewählt wurde.
(…)
vorhergehende Artikel:
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Quellen:
(1) http://www.welt.de/politik/deutschland/article5433903/Wir-alle-wussten-dass-es-viele-Opfer-gab.html
(2) http://www.sueddeutsche.de/politik/21/487426/text/
(3) http://www.radio-utopie.de/2009/12/04/oberst-klein-wer-war-sein-geheimdienst-chef/
(4) http://www.bundestag.de/dokumente/protokolle/plenarprotokolle/17007.pdf
(5) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,665331,00.html