Die eiserne Mauer

ETWAS MERKWÜRDIGES, fast Bizarres geschieht in diesen Tagen in Ägypten.

Etwa 1400 Aktivisten aus aller Welt versammelten sich hier auf ihrem Weg in den Gazastreifen. Am Jahrestag der „Cast Lead“-Offensive wollten sie an einer gewaltfreien Demonstration gegen die andauernde Blockade teilnehmen, die das Leben von 1,5 Millionen Bewohnern des Gazastreifens unerträglich macht.

Zur selben Zeit fanden in vielen Ländern Protest-Demonstrationen statt. Auch in Tel Aviv war eine große Protestdemo geplant. Das „Monitoring-Comitee“ der arabischen Bürger Israels beabsichtigte eine Demo an der Gazagrenze zu organisieren.

Als die internationalen Aktivisten in Ägypten ankamen, wartete eine Überraschung auf sie. Die ägyptische Regierung verbot ihnen die Fahrt nach Gaza. Ihre Busse wurden in den Außenbezirken Kairos festgehalten und zum Umdrehen gezwungen. Einzelne, denen es gelungen war, den Sinai in regulären Bussen zu erreichen, wurden herausgeholt. Die ägyptischen Sicherheitskräfte führten eine regelrechte Jagd nach den Aktivisten durch.

Die zornigen Aktivisten belagerten ihre Botschaften in Kairo. Vor der französischen Botschaft bildete sich ein Zeltlager, das bald von ägyptischer Polizei umgeben war. Amerikanische Demonstranten versammelten sich vor ihrer Botschaft und verlangten den Botschafter zu sehen. Mehrere Demonstranten, die über 70 waren, auch die jüdische Hedi Epstein mit 85, begannen mit einem Hungerstreik. Überall wurden die Demonstranten von ägyptischen Eliteeinheiten in voller Schutzausrüstung aufgehalten, während rote Wasserwerfer im Hintergrund warteten. Protest-Demonstranten, die versuchten, sich auf Kairos Hauptplatz Tahrir (Befreiung) zu versammeln, wurden körperlich angegriffen.

Am Ende wurde nach einem Treffen mit der Frau des Präsidenten eine typisch ägyptische Lösung gefunden: einhundert Aktivisten wurde es erlaubt, den Gazastreifen zu erreichen. Der Rest blieb in Kairo, perplex und frustriert.

WÄHREND DIE Demonstranten in der ägyptischen Hauptstadt warteten und versuchten , ihrem Ärger Luft zu machen, wurde Binyamin Netanyahu im Präsidentenpalast im Herzen der Stadt empfangen. Sein Gastgeber pries und lobte lang und breit seinen Beitrag zum Frieden, besonders das „Einfrieren“ des Siedlungsbaus in der Westbank, eine vorgetäuschte Geste – besonders da Ost-Jerusalem nicht mit eingeschlossen ist.

Hosni Mubarak und Netanyahu haben sich in der Vergangenheit getroffen – aber nie in Kairo. Der ägyptische Präsident bestand immer darauf, dass die Treffen in Sharm-al-Sheikh stattfanden – von ägyptischen Bevölkerungszentren möglichst weit entfernt. Die Einladung nach Kairo war deshalb ein bedeutendes Zeichen dafür, dass die Beziehungen zunehmend enger geworden sind.

Als besonderes Geschenk für Netanyahu stimmte Mubarak zu, Hunderte Israelis nach Ägypten zu lassen, um am Grab des Rabbi Yaakov Abu Hatzeira zu beten, der vor 130 Jahren in der ägyptischen Stadt Damanhur auf dem Weg von Marokko ins Heilige Land gestorben war.
Das hat natürlich etwas geradezu Symbolisches an sich: zum einen die Blockierung der pro-palästinensischen Demonstranten auf dem Weg nach Gaza und zum anderen zum selben Zeitpunkt die Einladung der Israelis nach Damanhur.

MAN MAG sich wohl über die ägyptische Beteiligung an der Blockade des Gazastreifens wundern.

Die Blockade begann lange vor dem Gazakrieg und hat den Gazastreifen in das, was man als „das größte Gefängnis der Erde“ bezeichnet, verwandelt. Die Blockade betrifft alles, außer den wichtigsten Medikamenten und die Grundnahrungsmittel. US-Senator John Kerry, früherer Kandidat für die US-Präsidentschaft, war schockiert, zu hören, dass die Blockade auch Nudeln einschloss – die israelische Armee hatte in ihrer Weisheit entschieden, dass Nudeln Luxus seien. Die Blockade gilt allem: vom Baumaterial bis zu Schulheften. Abgesehen von extremsten humanitären Fällen, kann keiner aus dem Gazastreifen nach Israel und in die Westbank kommen oder umgekehrt.

Aber Israel kontrolliert nur drei Seiten des Gazastreifens. Die nördliche und östliche Grenze wird von der israelischen Armee blockiert, die westliche Grenze durch die israelische Flotte. Die vierte, die südliche Grenze wird von Ägypten kontrolliert. Deshalb wäre die ganze Blockade ohne ägyptische Beteiligung wirkungslos.

Eigentlich macht dies keinen Sinn. Ägypten betrachtet sich selbst als Führer der arabischen Welt. Es ist das arabische Land mit der größten Bevölkerungszahl und liegt mitten in der arabischen Welt. Vor fünfzig Jahren war der Präsident Ägyptens Gamal Abd-al-Nasser das Idol aller Araber, besonders der Palästinenser. Wie kann Ägypten mit dem „zionistischen Feind“ kollaborieren (wie Ägypten Israel damals nannte,) und 1,5 Millionen arabische Brüder in die Knie zwingen?

Bis vor kurzem fand die ägyptische Regierung ein Lösung, die der 6000 Jahre alten ägyptischen Weisheit entspricht. Es beteiligte sich an der Blockade, schloss aber seine Augen vor den Hunderten von Tunneln, die unter der ägyptischen Grenze nach Gaza gegraben waren, durch welche die täglichen Versorgungsmittel der Bevölkerung kamen (zu unglaublichen Preisen und mit viel Gewinn für die ägyptischen Händler) zusammen mit einer Menge von Waffen. Selbst Menschen passierten die Tunnel – von Hamas-Aktivisten bis zu Bräuten.

Das ändert sich jetzt. Ägypten beginnt mit dem Bauen einer – buchstäblich – eisernen Mauer entlang der ganzen Länge der südlichen Gazagrenze. Sie besteht aus stählernen Pfeilern, die tief in die Erde gestoßen werden, um die Tunnel zu blockieren. Das wird den Bewohnern den Rest geben.

Als der extremste Zionist Vladimir Ze’ev Jabotinsky vor etwa 80 Jahren von einer „eisernen“ Mauer gegen die Palästinenser schrieb, hat er nicht davon geträumt, dass dieser Bau einst ausgerechnet durch Araber verwirklicht würde.

WARUM TUN sie dies?

Es gibt mehrere Erklärungen. Zyniker weisen daraufhin, dass die ägyptische Regierung jedes Jahr einen riesigen amerikanischen finanziellen Zuschuss erhält – fast zwei Milliarden Dollar – freundlicherweise mit israelischer Zustimmung. Es begann als Belohnung für den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag. Die Pro-Israel-Lobby im US-Kongress kann dies jederzeit stoppen.

Andere glauben, dass Mubarak sich vor der Hamas fürchtet. Die Organisation begann als palästinensischer Zweig der Muslim-Bruderschaft, die noch immer die Hauptopposition seines autokratischen Regimes ist. Die Kairo-Riadh-Amman-Ramallah-Achse steht gegen die Damaskus-Gaza-Achse, die mit der Teheran-Hisbollah-Achse verbunden ist. Viele Leute glauben, Mahmoud Abbas sei daran interessiert, die Gazablockade noch enger zu ziehen, um die Hamas zu schädigen.

Mubarak ist ärgerlich über die Hamas, die sich weigert, nach seiner Flöte zu tanzen. Wie seine Vorgänger, erwartet er, dass die Palästinenser seinen Befehlen gehorchen. Präsident Abd-al-Nasser war über die PLO verärgert (eine Organisation, die von ihm geschaffen worden war, damit die Ägypter die Kontrolle über die Palästinenser hätten, die sich ihm aber entzogen, als Arafat sie übernahm). Präsident Anwar Sadat war über die PLO verärgert, weil sie das Camp-David-Abkommen zurückwies, das den Palästinensern nur „Autonomie“ versprach. Wie können es die Palästinenser – ein kleines, unterdrücktes Volk – wagen, den „Rat“ des „großen Bruders“ auszuschlagen?

All diese Erklärungen sind verständlich, doch die ägyptische Haltung ist doch erstaunlich. Die ägyptische Blockade des Gazastreifens zerstört das Leben von 1,5 Millionen Menschen, Männern und Frauen, alten Leuten und Kindern, von denen die meisten keine Hamas-Aktivisten sind. Es geschieht öffentlich vor den Augen der Hundert Millionen Araber, vor 1,25 Milliarden Muslimen. In Ägypten selbst schämen sich Millionen Menschen, dass sich ihr Land am Aushungern der arabischen Brüder beteiligt.

Es ist eine sehr gefährliche Politik. Warum folgt ihr Mubarak ?

DIE WIRKLICHE Antwort ist wahrscheinlich: er hat keine andere Wahl.

Ägypten ist ein sehr stolzes Land. Jeder, der einmal in Ägypten war, weiß, sogar die ärmsten Ägypter sind voller Nationalstolz und sind leicht beleidigt, wenn ihre nationale Würde verletzt wird. Das wurde vor ein paar Wochen deutlich, als Ägypten ein Fußballspiel gegen Algerien verlor und sich benahm, als hätte es einen Krieg verloren.

„Denk daran, dass von der Spitze der Pyramiden 40 Jahrhunderte auf euch herunterschauen,“ soll Napoleon seinen Soldaten am Vorabend der Schlacht von Kairo gesagt haben. Jeder Ägypter fühlt, dass 6000 – einige sagen 8000 – Jahre Geschichte ständig auf ihn herabschauen.

Dieses tiefe Gefühl stößt in einer Zeit mit der Realität zusammen, in der Ägyptens Situation immer miserabler wird. Saudi Arabien hat mehr Einfluss; das winzige Dubai wird ein internationales Finanzzentrum; der Iran wird eine weit bedeutendere Regionalmacht. Im Gegensatz zum Iran, wo die Ayatollahs die Familien aufgerufen haben, sich mit zwei Kindern zu begnügen, verschlingt die ägyptische Geburtenrate alles und verurteilt das Land zu permanenter Armut.

In der Vergangenheit gelang es Ägypten, seine interne Schwäche mit externen Erfolgen auszugleichen. Die Welt betrachtete Ägypten als den Führer der arabischen Welt und behandelte es entsprechend. Nun nicht mehr.

Ägypten ist in einer schlimmen Lage. Deshalb hat Mubarak keine andere Wahl, als den Diktaten der USA zu folgen – die praktisch wiederum israelische Diktate sind. Das ist die wirkliche Erklärung seiner Beteiligung an der Blockade.

Als ich heute bei der Demonstration in Tel Aviv redete, nachdem wir durch die Straßen marschiert waren, um gegen die Blockade zu protestieren, habe ich mich zurückgehalten, den ägyptischen Teil daran zu erwähnen.

Ich bekenne, dass ich die Menschen dort, denen ich während meiner Besuche in Ägypten begegnete, sehr mochte. Der „Mann auf der Straße“ ist sehr zuvorkommend. Das Verhalten zu einander geschieht in Ruhe und Gelassenheit, keine Aggressionen, dazu kommt ein besonderer ägyptischer Humor. Selbst der Ärmste hält seine Würde aufrecht, auch unter miserablen, übervölkerten und oft elenden Bedingungen. Ich habe sie nicht murren gehört. In all den Tausenden von Jahren ihrer Geschichte haben die Ägypter nur drei oder viermal revoltiert.

Diese legendäre Geduld hat auch ihre negativen Seiten. Wenn die Leute sich mit ihrem Los abfinden, verhindert dies wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fortschritt.

Es scheint, dass das ägyptische Volk bereit ist, alles zu akzeptieren. Von den Pharaonen der alten Zeiten bis zum „Pharao“ der Gegenwart – ihre Herrscher hatten es leicht. Aber eines Tages wird der nationale Stolz sogar die Geduld überwinden.

Als Israeli protestiere ich gegen die israelische Blockade. Wenn ich ein Ägypter wäre, würde ich gegen die ägyptische Blockade protestieren. Als Bewohner des Planeten protestiere ich gegen beides.

2.1.2010

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, von Verfasser autorisiert).

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