Teil I – “Volkspartei” und Spannungsfall
Seit der Entsendung eigener Truppen in den Irak im Jahre 2003 fragte man sich in den Niederlanden allen Ernstes, wie es eigentlich dazu gekommen war. Wie in vielen Ländern des US-Einflussraumes nach dem 11.September 2001 stand man überall, manchmal verschämt leise ein bisschen diskutierend, mit grossen Augen glotzend in der Gegend rum und schaute den Operateuren der Kriegspolitik zu. Diese ergriffen planmässig, und mit enormen Ressourcen ausgestattet, die Initiative, stellten sich bei sanftmütig-höflich vorgetragenen Beschwerden der überrollten Bevölkerungen einfach taub und gingen weiter nach Plan vor.
Es dauerte bis zum Jahre 2009 – sechs Jahre nach dem Eintritt in den Irak-Krieg – bis sich die Befürworter einer Untersuchung durchsetzten; wohlgemerkt, einer Untersuchung darüber, wie und warum man überhaupt gemeinsam in einen Krieg gezogen war, der bereits zum Zeitpunkt des Beginns der Untersuchung über eine Million Tote gekostet hatte.
DIE DAVIDS-KOMMISSION
Im Januar 2009 veröffentlichte die eher konservative Zeitung „NRC Handelsblad“ geheime Memos von Beamten des niederländischen Aussenministeriums aus der Zeit vor der Invasion des Irak. Die Memos kamen zum Schluss, dass es zum Zeitpunkt des Angriffs auf den Irak im Jahre 2003 keine legale völkerrechtliche Basis gab. Der damalige Aussenminister Jaap de Hoop Scheffer aus den Reihen der konservativen CDA, hatte diese Analyse seiner Experten schlicht ignoriert und geheim gehalten. Des Weiteren wurde durch den Zeitungsbericht bekannt, dass die Sozialdemokraten unter Wouter Bos sich bei ihren Koalitionsverhandlungen nach den Parlamentswahlen am 22.November 2006 der CDA gebeugt hatten: die PdvA hatte für die Dauer der gemeinsamen Regierungszeit unter dem Druck der Konservativen auf ihre alte Forderung nach einem Untersuchungsausschuss zum Beitritt der Niederlande in den Irak-Krieg verzichtet. (1)
Diese nun bekannt werdende skandalöse Vertuschungspolitik der CDA, sowie die Unterwerfung der PdvA von Wouter Bos als Preis für eine Regierungsbeteiligung, liess Anfang 2009 schliesslich das Fass überlaufen.
Am 2.Februar gab die „grosse Koalition“ unter Premierminster Balkenende (CDA) nach: Balkenende selbst, sowie vier weitere Minister, schrieben an die Vorsitzenden der Parlamentskammern Unterhaus und Oberhaus und verkündeten die Einsetzung einer Kommission. Am gleichen Tag schickte Balkenende der Presse eine weitschweifige schriftliche Erklärung, die seinen Schritt begründen und die lästige Debatte schnell beenden sollte. Seine Erklärung hatte jedoch einen gegenteiligen Effekt: im Parlament begann sofort eine hitzige Diskussion, in deren Folge der Ministerpräsident nur einen Tag später sieben ausführliche Fragen beantworten musste. Balkenende tat dies abermals mit einem schriftlichen Statement, welches auf den Tag der Parlamentsdebatte datiert war, aber bereits zuvor geäusserte Stellungnahmen enthielt. Wieder einen Tag später wurde die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses mit den Stimmen von CDA und PdvA abgebügelt.
Am 6.März 2009 wurde dann unter Vorsitz von Willibrord Davids, ehemals Richter am Obersten Gerichtshof der Niederlande, die „Davids-Kommission“ zur Untersuchung des Eintritts der Niederlande in den Irak-Krieg förmlich eingesetzt. Am 12.Januar 2010 schliesslich veröffentlichte die Kommission einen 551 Seiten langen Bericht (2). Dieser in holländisch verfasste Bericht, mit einer englischen Zusammenfassung am Ende der umfangreichen Dokumentation, beleuchtete die politischen Abläufe im Zeitraum zwischen Sommer 2002 bis Sommer 2003 – also praktisch vom Zeitpunkt der Ermordung Pim Fortuyns, bis zur Entsendung niederländischer Truppen in den Irak.
Es sollte der Spiegel einer weiteren heruntergekommenen, falschen Demokratie in Europa werden.
VON KRIEG ZU KRIEG
Während des ersten Irak-Krieges einer durch die USA angeführten internationalen Kriegskoalition im Jahre 1991 hatten alle Parteien der Niederlande – bis auf die „Grüne Linke“ („GroenLinks“, GL) – den Krieg unterstützt. In diesem Krieg, welcher offiziell zur Rückgabe des von Irak besetzten Kuwaits an seinen rechtmässigen Diktator geführt wurde, waren nach Schätzung der US Air Force 20.000 irakische Soldaten gefallen. Auf Seiten der Koalition starben nach offiziellen Angaben 618 Soldaten, die meisten davon durch Beschuss eigener Verbände.
Es war die US-Regierungsagentur „United States Census Bureau“, welche normalerweise die Bevölkerungen anderer Staaten zählt, welche zu einem ganz anderen Ergebnis kam. Einem Bericht des Census Bureau aus 1992 zufolge starben im Irak infolge des Krieges 156.000 Menschen, darunter 40.000 Soldaten im Kampf und durch Bombardements, sowie 70.000 Zivilisten durch normalerweise leicht zu behandelnde Seuchen (3). Tausende weitere starben durch die anschliessend ausbrechende Verfolgung des Saddam-Regimes gegen Kurden und Schiiten. Diese hatte die Regierung von George Bush Senior erst zum Aufstand aufgefordert, um dann dem einsetzenden Massaker der irakischen Verbände tatenlos zuzusehen.
Wie die niederländische Davids-Kommision in ihrem Bericht weiter minutiös aufführte (2), blieb die Zustimmung der niederländischen Parteien zu der ab 1991 einsetzenden permanten Kriegführung der USA im Golfraum gegen den Irak konstant; das galt auch für Angriffe und Militäroperationen der allierten Westmächte, die nicht durch Beschlüsse der UNO gedeckt waren.
Erst mit der Zeit wendeten sich nach der GL auch die Sozialisten der SP gegen die fortgesetzten Bombardierungen und Luftschläge. Und als die USA und das Vereinigte Königreich vom 16.-20. Dezember 1998 in „Operation Desert Fox“ mit Marschflugkörpern und Luftflotten über 100 Ziele im Irak angriffen, regte sich selbst innerhalb der vom sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Wim Kok (PdvA) angeführten Regierung der Niederlande leise Kritik an dem Vorgehen der transatlantischen Militärmächte.
Diese Kritik wurde aber nicht öffentlich gemacht. „Der öffentliche Widerspruch fiel durch seine Abwesenheit auf“, so die lapidare Bilanz der Davids-Kommission.
In den Jahren 2002 und 2003, so der Bericht weiter, sei die Niederlande aufgrund der „politisch instabilen Situation“ mit Inlandsthemen beschäftigt gewesen – eine klare Anspielung auf den Fortuyn-Mord und seine Auswirkungen. In der Tat stand das erste Kabinett Balkenende aus CDA, der Fortuyn-Liste LPF und den Wirtschaftsliberalen der VVD, welches am 22.Juli 2002 sein Amt antrat, von Anfang an unter dem Eindruck des Mordes an Pim Fortuyn. Dieser hatte kurz vor den Wahlen stattgefunden. Bereits unmittelbar nach der Tat wurden überall im Land, wie aus dem Nichts heraus, plötzlich überall ethnische und religiöse Spannungen beschworen, die Parlamentswahl massiv beeinflusst. Für Aussenpolitik blieb wenig Platz – jedenfalls in der öffentlichen Debatte.
Die Regierung selbst aber, zumindest deren Vertreter der konservativen CDA, sie verfolgte still, aber äusserst zielorientiert, den Eintritt der Niederlande in den heraufziehenden Irak-Krieg. Allen voran: der damalige Aussenminister und spätere Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer.
Bereits Anfang August 2002 kontaktierte CDA-Aussenminister de Hoop Scheffer seine zivilen Angestellten bezüglich der Causa Irak. Am 4.September 2002 übergab er dann dem Unterhaus ein schriftliches Statement, welches fortan die Leitlinien der Regierung bezüglich des Irak bestimmen sollte. Von dieser Erklärung de Hoop Scheffers war Ministerpräsident Balkenende nicht einmal informiert worden, auch nicht Verteidigungsminister Benk Korthals (VVD), der sowieso nur von Juli bis zum Dezember 2002 amtierte.
Balkenende, der für viele Beobachter der niederländischen Politik stets seltsam konturlos und wie ein langatmiger Garderobenständer wirkte, überliess in den Monaten nach der Erklärung de Hoop Scheffers diesem vollständig die Aussenpolitik. Derweil wurde durch die entscheidenden Spieler seiner Regierungsmannschaft dafür gesorgt, dass CDA und VVD ihre Kabinettskollegen der Fortuyn-Liste elegant wieder los wurden.
Quellen:
(1) http://www.nrc.nl/international/article2139420.ece/Balkenende_bows_to_pressure_for_Iraq_inquiry
(2) http://weblogs.nrc.nl/discussie/files/2010/01/rapport_commissie_irak.pdf
(3) http://www.commondreams.org/views03/0214-03.htm