DAS ENDE DES KRIEGES DER NIEDERLANDE (III): Chaos und Komplott
Teil I: “Volkspartei” und Spannungsfall
Teil II: Operateure einer zweiten Invasion
Das erste Kabinett Balkenende, mit seinen Ministern der Fortuyn-Liste LPF, erwies sich sehr schnell als völlig unfähig. In der LPF brach Chaos aus. Bereits am 16.Oktober 2002, nur knapp fünf Monate nach den Parlamentswahlen, wählte die LPF-Fraktion ihren gerade erst ersetzten Fraktionsvorsitzenden Harry Wijnschenk ab. Die Koalitionspartner der wirtschaftsliberalen VVD und konservativen CDA hatten zuvor in einer Intrige die LPF-Abgeordneten überredet, auch zwei ihrer vier Minister zum Rücktritt zu zwingen, mit dem Versprechen zwei neue nominieren zu können. Aber als Vize-Premierminister und Gesundheitsminister Eduard Bomhoff, sowie Wirtschaftsminister Herman Heinsbroek, auf Druck der eigenen Fraktion zurückgetreten waren, sprachen CDA und VVD am selben Tag dem gesamten verbliebenen Kabinett – also den eigenen Ministern, sowie den verbleibenden zwei Minister der LPF – das Misstrauen aus. Noch am Abend reichte CDA-Premierminister Balkenende bei Königin Beatrix ein Entlassungsgesuch für das gesamte Kabinett ein. Damit beinhaltete Balkenendes erste Regierung die kürzeste Amtszeit seit (ausgerechnet) Hendrikus Colijn (25.Juli 1939 – 10.August 1939).
Das Ergebnis war, dass nun die Königin entsprechend der weitgehend auf Brauchtum basierenden Verfassung der niederländischen Monarchie, das Parlament auflösen und Neuwahlen verkünden konnte. Die Fortuyn-Liste war ausgebootet worden, sie hatte ihren Zweck erfüllt.
Die Regierung Balkenende aber, sie konnte nun kommissarisch im Amt bleiben, bis zur Bildung einer neuen Regierung durch das Parlament. Dies aber sollte sich noch eine ganze Weile hinziehen – bis weit über den Zeitpunkt der Invasion des Irak hinaus.
DER IRAK-KRIEG ZIEHT HERAUF
Wie beschrieben, endete in den Niederlanden das erste Kabinett Balkenende am 16.Oktober 2002. Dennoch blieb die Befehlskette intakt, die entscheidenden Operateure der Regierung führten weiter kommissarisch ihre Ämter; darunter Aussenminister Jaap de Hoop Scheffer, der spätere Generalsekretär des Nordatlantikpaktes, der die Fäden des aussenpolitischen Kurses weiter fest in seiner Hand behielt.
Nun erreichten zwei bis merkwürdige Botschaften die nur kommissarisch amtierende Regierungsspitze der Niederlande. Eine kam von der US-Regierung unter George Bush Junior und eine vom Premierminister des Vereinigten Königreiches, Tony Blair. Der genaue Inhalt dieser Botschaften ist bis heute durch Balkenende nicht bekannt gegeben worden und wurde nicht nur dem vor dem aufgelösten Parlament, sondern auch vor (den nur noch geschäftsführenden) Ministern seines eigenen Kabinetts geheim gehalten.
Am 8.November 2002 hatte die US-Regierung im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen die berühmte Resolution 1441 erwirkt. Das „Foartien-Foartie-Uann“ zog sich fortan als der bislang grösste bekannte rhetorische Fetisch der Menschheitsgeschichte durch jede Nachrichtensendung des US-Einflussraumes.
Wie die Davids-Kommission später dokumentierte (1), erging am 15.November 2002 von den USA an die Regierungen mehrerer nahestehender Staaten die Bitte – man könnte auch sagen: Anforderung – sich im Rahmen eines „Host Nation Support“ („Unterstützung befreundeter Staaten“) an der Phase einer „militärischen Vorbereitung“ hinsichtlich eines Angriffs auf den Irak zu beteiligen. Unter den angesprochenen Staaten war auch die Monarchie Niederlande. Die Regierung hielt den Inhalt dieses Ersuchens „grösstenteils“ vor dem Parlament geheim. Der Zeitpunkt war günstig – das Parlament war aufgelöst, bis zu den Neuwahlen am 22.Januar 2003 war nicht viel vom Unterhaus zu erwarten.
Bis heute ist der Inhalt dieser Anforderung Washingtons nicht öffentlich. Wie es im Bericht der Davids-Kommission später hiess, lehnte die Regierung Balkenende „den zweiten Teil der US-Anforderung“ nach einer Unterstützung offensiven Vorgehens ab, sagte aber defensive Massnahmen gegen den Irak zu. Des Weiteren wurde die Einschränkung gemacht, dass man sich auch an offensiven Massnahmen beteiligen könnte, wenn „unabhängig bestätigt“ würde, dass der Irak weitere Verstösse gegen Auflagen begangen habe, welche ihm durch Beschlüsse des UN-Sicherheitsratsbeschlüsse auferlegt worden seien.
Nie, zu keinem Zeitpunkt, wurde genau definiert, was damit eigentlich gemeint war. Das Ergebnis war natürlich, dass auch diese Aussage beliebig von den Regierungsinterpreten ausgelegt wurde.
Dazu kam folgendes: den Verteidigungsminister stellte zum Zeitpunkt der US-Anforderung am 15.November 2002 nicht die CDA von Balkenende und de Hoop Scheffer, sondern immer noch die VVD mit Benk Korthals. Dieser war in der Vorgängerregierung unter Wim Kok (PdvA) noch dessen Justizminister gewesen. In dieser Funktion hatte er das Parlament angelogen.
Am 12.Dezember 2002 erschien der Abschlussbericht einer seit Jahren tagenden Untersuchungskommission, mit dem vielsagenden Titel „Absprachen als Konzept zwischen Korruption und staatlicher Wirtschaftsverbrechen“. Er beleuchte eine tiefverwurzelte Korruption, welche praktisch den gesamten staatlichen Bausektor des Landes umfasste (2). Korthals wurde der Lüge bezüglich eines Bauskandals rund um den Tunnel zum Amsterdamer Shiphol-Flughafen überführt, welche er am 14.Nobember 2001 gegenüber dem Parlament abgegeben hatte und trat am gleichen Tag noch als Verteidigungsminister zurück. Der kommissarische CDA-Ministerpräsident Balkenende nahm es in tiefer Trauer, aber dennoch einigermassen gelassen auf und begrüsste die „weise“ Entscheidung seines Verteidigungsministers, mitten in einer schweren internationalen Krise. Korthals gab noch die rätselhafte Erklärung ab, ein „irgendwie gelähmter Minister“ könne nicht „die groß angelegte Umstrukturierung seines Ministeriums“ durchführen, die vor kurzem angekündigt worden sei. (3)
Das Verteidigungsministerium der Niederlande wurde nun, 17 Tage nach dem Eintreffen der US-Anforderung nach Unterstützung der Kriegsvorbereitungen gegen den Irak, vom geschäftsführenden Bau- und Umweltminister Henk Kamp (VVD) übernommen – zusätzlich.
Irgendwann um den Zeitpunkt der US-Anforderung nach „Host Nation Support“ am 15.November 2002, so fand die Davids-Kommission später heraus, hatte eine weitere ominöse Nachricht die kommissarische Rumpfregierung Balkenendes erreicht.
Der britische Premierminister Tony Blair hatte, so die heute darüber vorliegenden Informationen, durch den britischen Botschafter dem kommissarisch amtierenden Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende persönlich einen Brief zukommen lassen. Dieser Brief sei, so behaupteten die Regierungen in Den Haag und London später, durch den britischen Botschafter wieder mitgenommen worden, so dass er nicht in den Regierungsunterlagen der Niederlande archiviert worden sei (4).
Diese Aussage gab Balkenende die juristische Möglichkeit, gegenüber der Davids-Kommission eine Herausgabe dieses Dokuments zu verweigern, da es sich ja nicht mehr in seinem Besitz oder im offiziellen Regierungsarchiv befände. Die Regierung in London, mittlerweile durch die Chilcot-Untersuchungskommission zum Eintritt Grossbritanniens in den Irak-Krieg selbst schwer unter Druck, verweigerte gegenüber der Davids-Kommission ebenfalls die Herausgabe des Dokuments. Rob Sebes, Sprecher der Davids-Kommission, am 12.Januar 2010 zur britischen Presse (5):
„Es war eine Überraschung für unser Komitee, als wir Informationen über diesen Brief entdeckten. Er wurde nicht im Zuge einer zwischen Ländern normalen Prozedur gesendet – stattdessen war es eine persönliche Botschaft von Tony Blair an unseren Premierminister Jan Peter Balkenende, musste zurückgegeben und nicht in unseren Archiven abgelegt werden“
Niederländische Regierungsbeamte (darunter der damalige Geheimdienstkoordinator Balkenendes) gaben an, den Brief ebenfalls gelesen zu haben. Ihren Angaben zufolge enthielt der Brief zwei Spionage-Dossiers, eines vom britischen Auslandsdienst MI6 und eines der CIA.
Das MI6-Dossier, so Regierungsbeamten zur Kommission (1), sei ein paar Tage später an die niederländischen Spionagedienste gegangen: den „Algemene Inlichtingen- en Veiligheidsdienst“ (AVID) und den Militärgeheimdienst „Militaire Inlichtingen- en Veiligheidsdienst“ (MIVD).
in Teil IV: Das stille Murren der stillen Krieger
Quellen:
(1) http://weblogs.nrc.nl/discussie/files/2010/01/rapport_commissie_irak.pdf
(2) http://www.allacademic.com/meta/p_mla_apa_research_citation/1/2/6/8/5/p126856_index.html
(3) http://www.nisnews.nl/dossiers/royal_house/131202_1178.htm
(4) http://www.peterwierenga.eu/?p=393
(5) http://www.guardian.co.uk/world/2010/jan/12/iraq-war-illegal-dutch-tribunal
letzte Korrektur: 27.02., 04.20 Uhr