Teil I: “Volkspartei” und Spannungsfall
Teil II: Operateure einer zweiten Invasion
Teil III: Chaos und Komplott
Wie sämtliche anderen Organe der Militärs von Staaten im US-Einflussbereich, unterlagen auch die militärischen Nachrichtendienste nach Ausbruch des weltweiten Krieges im Zuge der Attentate des 11.Septembers 2001 einer grundlegenden Transformation. Die Militärspionage wurde systematisch ausgebaut, den parlamentarischen Kontrollen entzogen (nicht nur den informellen, sondern speziell den finanziellen Kontrollen), wurden im Zuge der weltweiten Kriegführung und explodierenden Militäretats mit enormen Ressourcen ausgestattet und weltweit mit hochmodernen digitalen Netzwerken versehen. Die „traditionellen“ Spionagedienste wurden entweder geschwächt, strukturell entmachtet, oder erhielten (wie 2007 in Deutschland der Bundesnachrichtendienst nach der Auflösung des plötzlich enttarnten geheimen „Zentrums für Nachrichtenwesen der Bundeswehr“) selbst die Kontrolle über den exorbitant aufgeblasenen Spionageapparat des Militärs.
Dementsprechend wurden in den Niederlanden die Kompetenzen des umgebauten militärischen Nachrichtendienstes „Militaire Inlichtingen- en Veiligheidsdienst“ (MIVD) ab 2002 ins Uferlose ausgedehnt. Die niederländische Militärspionage – und damit natürlich das Militär selbst, sowie die Regierung – erhielt die Kompetenz, Informationen über „potentielle (Streit)Kräfte“ in allen Staaten der Welt zu sammeln; entsprechend des beliebten Tricks über schwammige Formulierungen erst einmal maximale operative Vollmachten in die Finger zu bekommen, wurde dies so aufgefasst, dass nicht nur militärische „Kräfte“, sondern erst einmal alle „Kräfte“ ausspioniert werden durften.
Über das Legitimationskonstrukt, das irgendwo alles mit allem zusammenhänge (und damit natürlich auch mit der militärischen Situation im weltweiten „Krieg gegen den Terror“), bekam so das Militär einen Freibrief für einen letztlich unbegrenzten Informationszugriff auch auf die eigene Bevölkerung, der sich im Zuge des Krieges und des Abbaus von Bürgerrechten, der Freiheiten der Gesellschaft und der Ausschaltung von Kontrolle durch Gewaltenteilung zur unbegrenzten Handlungsfreiheit der Regierungsbehörden auswuchs. Dazu passen dann auch solche Vollmachten des niederländischen MIVD wie „Counterterrorismus“ und „Counterspionage“, durchaus auch mit „Gegenterrorismus“ und „Gegenspionage“ übersetzbar. Was aber heisst schon „gegen“, wenn man präventiv handeln darf, vermeintlich um das zu verhindern, was man deswegen selbst begeht? Und welches Gebiet der Erde spioniert man nicht aus, wenn man die Vollmacht hat, jedes Gebiet und seine Bevölkerung zu durchleuchten, in dem „möglicherweise“ die eigenen Truppen stationiert werden? Das eigene Inland?
Genau nach diesem Rechtfertigungsmuster, was in allererster Linie dazu diente skeptische oder nachdenkliche Leute im eigenen Apparat ruhig zu stellen, gingen nach den Attentaten des 11.Septembers 2001 die von neokonservativer Ideologie geprägten politischen Truppenteile der Regierungen im gesamten US-Einflussbereich vor. Sie agierten dabei zielgerichtet, extrem gefühllos und wie auf Knopfdruck. Sie folgten der kleinen, aber äusserst einflussreichen Gruppe von Neokonservativen in den USA, die sich selbst „Demokratische Revolutionäre“ nannten und sich, enttäuscht von der liberalen Gesellschaft und klassischen konservativen Werten wie individueller Freiheit, seit den 70er Jahren mit fragwürdigen Methoden, erfundenen Bedrohungen und Fantasie-Feinden systematisch Zugang zum Weissen Haus verschafft hatten. (DIE MACHT DER ALBTRÄUME – Der Aufstieg der Politik der Furcht, 10.Februar 2010)
In den Niederlanden war nun nach dem geheim gehaltenen Brief Blairs an Balkenende selbst aus den Reihen des MIVD, sowie des „Algemene Inlichtingen- en Veiligheidsdienst“ (AVID), Murren laut geworden – allerdings ohne, dass dies an die Öffentlichkeit drang. Die Spione beschwerten sich, dass (vermeintliche) Geheimdienst-Informationen über sie hinweg auf Regierungsebene direkt in den Regierungspalast geflossen waren und äusserten gegenüber der Davids-Kommission, dass ihrer Auffassung nach der Brief dazu gedient hatte, Balkenende zu „überzeugen“. In der Tat fand die Davids-Kommission (1) später heraus, dass weiteres Spionage-Material aus dem Ausland auf oberster Ebene an das Kabinett Balkenende weitergereicht worden war.
Und nicht nur das: auch die Analyse dieses Materials nahmen die Minister und ihre Angestellten selbst vor. Das jedenfalls behauptete die Regierung Balkenende.
Dabei unterschieden sich bezüglich der vermeintlichem Gefahr aus dem Irak, die Behauptungen aus den Regierungshäusern in Washington und London fundamental von den Angaben der eigenen Spione. Laut Blairs Aussage vor der Invasion war der Irak fähig, innerhalb von 45 Minuten eine mit Massenvernichtungswaffen ausgestattete Mittelstreckenrakete zu starten. Die niederländischen Militärspionage MIVD schätzte diese Aussage Blairs als „sehr suggestiv“ ein. Beide Dienste kamen nach einer Analyse der ballistischen Kapazitäten Iraks zum Ergebnis, dass das irakische Saddam-Regime über keine solchen Kapazitäten verfüge. MIVD-Chef Joop van Reijn berichtete seinem Premierminister Balkenende, ebenso Aussenminister de Hoop Scheffer und Verteidigungsminister Henk Kamp (der als Wohnungsbau- und Umweltminister nach dem Rücktritt von Benk Korthals am 12.Dezember 2002 dieses Amt zusätzlich übernommen hatte), dass der Irak „nicht in der Lage sei, effektiv seine eigenen Nachbarn anzugreifen“.
Aber die Regierung hielt diese Berichte der eigenen Spione vor der Öffentlichkeit geheim. Denn auf einem „informellen Treffen“ im Aussenministerium de Hoop Scheffers, welches bereits im August 2002 über die Bühne gegangen war und gerade mal eine Dreiviertelstunde gedauert hatte, war die Entscheidung bereits gefallen: die entscheidenden Operateure der Regierung in Den Haag hatten entschieden, dass die Niederlande an der Seite der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreiches den Diktator des Irak „entwaffnen“ sollte. (2)
Am 15.November traf das Ersuchen der USA nach „Host Nation Support“ gegen den Irak ein, dessen Inhalt vor dem Parlament logischerweise verborgen blieb, es war aufgelöst. Irgendwann in dieser Zeit erreichte auch der geheime Brief Tony Blairs den kommissarisch amtierenden niederländischen Premierminister Jan Peter Balkenende.
Die Öffentlichkeit aber wurde von den inneren Spannungen, die nach dem Fortuyn-Mord weiter anhielten und durch verschiedene Kreise systematisch geschürt wurden, weiter desorientiert und abgelenkt. Eine Beteiligung der Niederlande an einem zweiten Irak-Krieg war für die meisten Bewohner unserer Nachbarmonarchie noch ausserhalb jeder Vorstellungskraft.
Dennoch rückte dieser Tag immer näher.
Teil V: Koalition, Kabale und Krieg
Quellen:
(1) http://weblogs.nrc.nl/discussie/files/2010/01/rapport_commissie_irak.pdf
(2) http://www.peterwierenga.eu/?p=393