Zivilgesellschaft fordert Stopp des europaweiten Zwangs zur Vorratsdatenspeicherung
In einem gemeinsamen Brief haben über 100 Organisationen aus 23 europäischen Ländern die EU-Kommission letzte Woche aufgefordert, „die Aufhebung der EU-Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung zugunsten eines Systems zur schnellen Sicherstellung und gezielten Aufzeichnung von Verkehrsdaten vorzuschlagen“.
Unter den Unterzeichnern befinden sich Bürgerrechts-, Datenschutz- und Menschenrechtsorganisationen ebenso wie Telefonseelsorge- und Notrufvereine, Berufsverbände etwa von Journalisten, Juristen und Ärzten, Gewerkschaften wie ver.di, Verbraucherzentralen und auch Wirtschaftsverbände wie der deutsche eco-Verband.
Die 2006 beschlossene EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung zwingt in ihrer gegenwärtigen Fassung alle Telekommunikations- und Internetanbieter, Daten über die Kommunikation sämtlicher ihrer Kunden zu sammeln. Die Unterzeichner des Briefes warnen, dass eine solche allgemeine Verbindungsdatenaufzeichnung vertrauliche Tätigkeiten und Kontakte etwa zu Journalisten, Beratungsstellen und Geschäftspartnern dem ständigen Risiko eines Bekanntwerdens durch Datenpannen und -missbrauch aussetzt, unvertretbare Kosten nach sich zieht und die Kommunikationsfreiheit Unschuldiger unzumutbar behindert. „Eine generelle Verbindungsdatenspeicherung hat sich in vielen Staaten Europas als überflüssig, schädlich oder sogar verfassungswidrig herausgestellt“, so die Organisationen weiter.
„Die Zivilgesellschaft ist sich europaweit einig, dass sich der 2006 beschlossene EU-weite Zwang zur flächendeckenden Verbindungsdatenspeicherung überlebt hat“, kommentiert Patrick Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. „Wo eine Vorratsdatenspeicherung eingeführt wurde, hat sie die Zahl der aufgeklärten Straftaten nicht erhöht. Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen etwa wurden 2007 84%, nach Einführung einer Vorratsdatenspeicherung im Jahr 2008 77% und 2009 ebenfalls 77%der bekannt gewordenen Internetdelikte aufgeklärt. Nützlichkeit ist nicht gleich Notwendigkeit. Die EU-Vorgaben müssen jetzt flexibler gestaltet werden und intelligentere Alternativen als eine ungezielte Datenanhäufung zulassen.“
„Rund 70% der Bundesbürgerinnen und -bürger lehnen eine verdachtslose Protokollierung ihrer Kontakte und Aufenthaltsorte ab“, erklärt Florian Altherr vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. „Sie wollen sicher sein, dass ihre privaten und geschäftlichen Kontakte etwa zu Eheberatungsstellen, Rechtsanwälten oder Journalisten nicht in die falschen Hände geraten oder zu einem falschen Verdacht gegen sie führen können. Die vielen Datenskandale, etwa bei der Deutschen Telekom, haben uns gelehrt, dass nur nicht gespeicherte Daten sichere Daten sind. Deswegen erwartet die Zivilgesellschaft von der EU-Kommission jetzt, dass sie ein Ende des europaweiten Zwangs zur Erfassung aller Verbindungsdaten in die Wege leitet!“
In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht im März einer von 30.000 Menschen unterstützten Verfassungsbeschwerde stattgegeben und die Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung aufgehoben. Unter Berufung auf die fortbestehende EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung fordern CDU und CSU jedoch ihre Wiedereinführung in Deutschland. Im Mai entschied der irische High Court in Dublin, dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorzulegen, ob die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar ist. Die EU-Kommission prüft zurzeit eine Überarbeitung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung.
Der Brief an die EU-Kommissarinnen im Wortlaut (deutsche Übersetzung)
An
1. Cecilia Malmström, EU-Kommissarin für Inneres
2. Viviane Reding, Vizepräsidentin der EU-Kommission und zuständig für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft
3. Neelie Kroes, Vizepräsidentin der EU-Kommission und zuständig für die Digital Agenda
Sehr geehrte Frau …,
die EU-Richtlinie 2006/24 zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtet Telekommunikationsgesellschaften, Informationen über die Verbindungen ihrer sämtlichen Kunden aufzubewahren. Obwohl sie vorgeblich Hindernisse für den gemeinsamen Binnenmarkt abbauen sollte, wurde die Richtlinie als Maßnahme zur Erleichterung der Strafverfolgung vorgeschlagen. Der Richtlinie zufolge werden Informationen darüber aufgezeichnet, wer mit wem über verschiedene elektronische Kommunikationskanäle in Verbindung gestanden hat. Bei Handy-Telefonaten und SMS wird auch der jeweilige Standort des Benutzers festgehalten. In Verbindung mit anderen Informationen soll zudem die Nutzung des Internet nachvollziehbar gemacht werden.
Eine derart weitreichende Überwachung der gesamten Bevölkerung halten wir für inakzeptabel. Im Zuge einer Vorratsdatenspeicherung werden ohne jeden Verdacht einer Straftat sensible Informationen über die sozialen Beziehungen (einschließlich Geschäftsbeziehungen), die Bewegungen und die individuelle Lebenssituation (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Betriebsräten, Psychologen, Beratungsstellen usw.) von 500 Millionen Europäern gesammelt. Damit höhlt eine Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten das Berufsgeheimnis aus, bringt das permanente Risiko von Datenverlusten und Datenmissbrauch mit sich und schreckt Bürger von vertraulicher Kommunikation über elektronische Kommunikationsnetze ab. Sie untergräbt den Schutz journalistischer Quellen und beschädigt damit die Pressefreiheit. Sie beeinträchtigt insgesamt Funktionsbedingungen unserer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft. Wegen des Fehlens einer Kostenerstattung in den meisten Staaten sind die enormen Kosten der Vorratsdatenspeicherung von den tausenden von betroffenen Telekommunikationsunternehmen zu tragen. Dies zieht Preiserhöhungen nach sich, führt zur Einstellung von Angeboten und belastet mittelbar auch die Verbraucher.
Untersuchungen belegen, dass bereits die ohne Vorratsspeicherung verfügbaren Kommunikationsdaten ganz regelmäßig zur effektiven Aufklärung von Straftaten ausreichen. Eine generelle Verbindungsdatenspeicherung hat sich in vielen Staaten Europas als überflüssig, schädlich oder sogar verfassungswidrig herausgestellt, etwa in Österreich, Belgien, Deutschland, Griechenland, Rumänien und Schweden. Diese Staaten verfolgen Straftaten ebenso effektiv mit gezielten Verfahren, wie etwa das in der internationalen Cybercrime-Konvention vereinbarte Verfahren zur gezielten Sicherstellung ohnehin vorhandener Daten. Es ist nicht nachgewiesen, dass eine Vorratsdatenspeicherung besser vor Kriminalität schützte. Dagegen ist sicher, dass sie Millionen von Euro kostet, die Privatsphäre Unschuldiger gefährdet, vertrauliche Kommunikation behindert und den Weg in eine immer weiter reichende Massenansammlung von Informationen über die gesamte Bevölkerung ebnet.
Rechtsexperten erwarten, dass der Europäische Gerichtshof im Anschluss an den Verfassungsgerichtshof Rumäniens und an die Marper-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Pflicht zur Vorratsspeicherung von Kommunikationsdaten ohne jeden Verdacht für unvereinbar mit der EU-Grundrechtecharta erklären wird.
Als Vertreter der Bürgerinnen und Bürger, der Medien, der Berufstätigen und der Wirtschaft lehnen wir die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung geschlossen ab. Wir appellieren an Sie, einen Vorschlag zur Abschaffung der EU-Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung zugunsten eines Systems zur schnellen Sicherstellung und gezielten Aufzeichnung von Verkehrsdaten, wie es in der Cybercrime-Konvention des Europarats vereinbart worden ist, vorzulegen. Seien Sie sich unserer Unterstützung dabei versichert.
Mit freundlichen Grüßen,
1. Patrick Breyer für den Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, Deutschland
2. Gergana Jouleva für das Access to Information Programme, Bulgarien
3. Terri Dowty für Action on Rights für Children, Großbritannien
4. Rainer Hammerschmidt für Aktion Freiheit statt Angst e.V., Deutschland
5. Andrea Monti für ALCEI – Electronic Frontiers Italy, Italien
6. David Banisar für ARTICLE 19: Global Campaign für Free Expression, Großbritannien
7. Dr. Roland Lemye für die Association Belge des Syndicats Médicaux, Belgien
8. Alen Nanov für die Association für Advising, Treatment, Resocialization and Reintegration of Drug Users and Other Marginalized and Vulnerable Groups IZBOR, Makedonien
9. Bogdan Manolea für die Association für Technology and Internet – APTI, Rumänien
10. Martine Simonis für L‘association Générale des Journalistes Professionnels de Belgique (AGJPB), Belgien
11. Ute Groth für bdfj Bundesvereinigung der Fachjournalisten e.V., Deutschland
12. Ot van Daalen für Bits of Freedom, Niederlande
13. Gabriele Nicolai für Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V., Deutschland
14. Torsten Bultmann für Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler e.V., Deutschland
15. Marina Jelic für Center für Peace and Democracy Development CPDD, Serbien
16. Sabiha Husic für Citizens‘ Association Medica Zenica, Bosnien und Herzegowina
17. Zdenko Duka für die Croatian Journalists‘ Association CJA, Kroatien
18. Christian Jeitler für Cyber Liberties Union, Österreich
19. Vagn Jelsoe für den Danish Consumer Council, Dänemark
20. Karl Lemmen, Deutsche AIDS-Hilfe e.V., Deutschland
21. Ulrich Janßen für Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union dju in ver.di, Deutschland
22. Michael Konken für Deutscher Journalisten-Verband, Deutschland
23. Stefanie Severin für DFJV Deutscher Fachjournalisten-Verband AG, Deutschland
24. TJ McIntyre für Digital Rights Ireland, Irland
25. Martina Haan für DPV Deutscher Presse Verband – Verband für Journalisten e.V., Deutschland
26. Prof. Michael Rotert für eco – Verband der Deutschen Internetwirtschaft, Deutschland
27. Eleni Alevritou für EKPIZO Consumers Association the Quality of Life, Griechenland
28. Ville Oksanen für Electronic Frontier Finland, Finnland
29. Katitza Rodriguez für die Electronic Frontier Foundation, U.S.A.
30. Thomas Gramstad für Electronic Frontier Norway, Norwegen
31. Máté Dániel Szabó für Eötvös Károly Institute, Ungarn
32. Andreas Krisch für European Digital Rights, Europa
33. Anne Margrethe Lund, European Movement in Norway, Norwegen
34. Werner Korsten für die Evangelische Konferenz für Telefonseelsorge und Offene Tür e.V., Deutschland
35. Simona Conservas für exgae, Spanien
36. Stefan Hügel für FIfF – Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V., Deutschland
37. padeluun für FoeBuD e.V., Deutschland
38. Beate Ziegler für Forum Menschenrechte, Deutschland
39. Stephan Uhlmann für die Foundation für a Free Information Infrastructure (FFII) e.V., Europa
40. Valentina Pellizzer für Foundation Oneworld – platform für Southeast Europe (owpsee), Bosnien und Herzegowina
41. Ross Anderson für FIPR Foundation für Information Policy Research, Großbritannien
42. Lutz Donnerhacke für FITUG e.V., Deutschland
43. Matthias Kirschner für Free Software Foundation Europe FSFE, Europa
44. Martin Grauduszus für Freie Ärzteschaft e.V., Deutschland
45. Jürgen Wahlmann für GameParents.de e.V., Deutschland
46. Christoph Klug für Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit e.V. (GDD), Deutschland
47. Arvind Ganesan für Human Rights Watch, international
48. Joyce Hes für Humanistisch Verbond, Niederlande
49. Sven Lüders für Humanistische Union e.V., Deutschland
50. Dr. Balázs Dénes für die Hungarian Civil Liberties Union, Ungarn
51. Jo Glanville für Index on Censorship, Großbritannien
52. Dr. Rolf Gössner für die Internationale Liga für Menschenrechte (Berlin), Deutschland
53. Rudi Vansnick für Internet Society Belgium, Belgien
54. Veni Markovski für die Internet Society Bulgaria, Bulgarien
55. Gérard Dantec für die Internet Society France, Frankreich
56. Jan Willem Broekema für Internet Society, Niederlande
57. Marcin Cieslak für die Internet Society Poland, Polen
58. Eamonn Wallace für IrelandOffline, Irland
59. Mark Kelly für den Irish Council für Civil Liberties, Irland
60. Niels Elgaard Larsen für die IT-Political Association of Denmark, Dänemark
61. Markéta Nováková für Iuridicum Remedium, Tschechische Republik
62. Milan Antonijevic für Koalicija za slobodu pristupa informacijama (Coalition für Free Access to Information), Serbien
63. Elke Steven für das Komitee für Grundrechte und Demokratie, Deutschland
64. Agata Szczerbiak für Krytyka Polityczna (Political Critic), Polen
65. Jérémie Zimmermann für La Quadrature du Net, Frankreich
66. Milan Antonijevic für Lawyers Commitee für Human Rights YUCOM, Serbien
67. Klaus Jetz für Lesben- und Schwulenverband LSVD, Deutschland
68. Isabella Sankey für Liberty (the National Council für Civil Liberties), Großbritannien
69. Astrid Thienpont für Liga voor Mensenrechten (Human Rights League), Belgien
70. Manuel Lambert für Ligue des droits de l’Homme (Human Rights League), Belgien
71. Bardhyl Jashari für Metamorphosis Foundation, Makedonien
72. Christian Bahls für MOGiS e.V., Deutschland
73. Dennis Grabowski für naiin – no abuse in internet e.V., Deutschland
74. Thomas Bruning für Nederlandse Vereniging van Journalisten, Niederlande
75. Harry Hummel für Netherlands Helsinki Committee, Niederlande
76. Albrecht Ude für netzwerk recherche e.V., Deutschland
77. Christine Nordmann für Neue Richtervereinigung e.V., Deutschland
78. Phil Booth für NO2ID, Großbritannien
79. Jim Killock für Open Rights Group, Großbritannien
80. Laurence Evrard für die Ordre des barreaux francophones et germanophone, Belgien
81. Annelies Verstraete für die Orde van Vlaamse Balies, Belgien
82. Katarzyna Szymielewicz für Panoptykon Foundation, Polen
83. Stefan Kaminski für das Polish Chamber of Commerce für Electronics and Telecommunications, Polen
84. Simon Davies für Privacy International, Großbritannien
85. Mag. Georg Markus Kainz für q/uintessenz, Österreich
86. Christian Rickerts für Reporter ohne Grenzen e.V., Deutschland
87. Jean Francois Julliard für Reporters Sans Frontières, international
88. Carsten Gericke für Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V., Deutschland
89. Walter van Holst für ScriptumLibre Foundation/Stichting Vrijschrift.org, Niederlande
90. Tony Bunyan für Statewatch, Großbritannien
91. Janet de Jonge für Stichting Meldpunt Misbruik ID-plicht, Niederlande
92. Hans van der Giessen für das board of Stichting NBIP – Nationale Beheersorganisatie Internet Providers, Niederlande
93. Lars-Henrik Paarup Michelsen für Stopp Datalagringsdirektivet, Norwegen
94. Paul Jansen für Die dotindividual Foundation, Niederlande
95. Karin Ajaxon für Die Julia Group, Schweden
96. Bernadette Ségol für UNI europa, Belgien
97. Frank Bsirske für ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, Deutschland
98. Dr. Carla Meyer für den Verband der Freien Lektorinnen und Lektoren VFLL e.V., Deutschland
99. Dr. Werner Weishaupt für den Verband freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e.V., Deutschland
100. Gerd Billen für die Verbraucherzentrale Bundesverband e.V., Deutschland
101. Prof. Dr. Wulf Dietrich für den Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte, Deutschland
102. Anna Bauer für die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V., Deutschland
103. Arnout Veenman für die Vereniging ISPConnect Nederland, Niederlande
104. Miek Wijnberg für Vereniging Vrijbit, Niederlande
105. Daniel Jahre für Verein Linuxwochen, Österreich
106. Claudio Agosti für das Winston Smith Project, Italien
Der Brief in englischer Originalfassung (pdf):
http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/DRletter_Malmstroem.pdf
http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/DRletter_Reding.pdf
http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/DRletter_Kroes.pdf
Quelle: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/370/55/lang,de/