Stuttgart 21: Wer trägt die Verantwortung für den “Schwarzen Donnerstag”?
Immer noch ist unklar, wer welche Verantwortung für den brutalen Gewalteinsatz der Polizei am 30.September gegen Stuttgarter Bürger im Schloßgarten trägt und wer für welchen Schaden aufkommen muss. Im Zentrum der Fragen stehen Baden-Württembergs CDU-Innenminister Heribert Rech, Stuttgarts Polizeipräsident Siegfried Stumpf, Einsatzleiter Winfried Ellinger, sowie das Ordnungsamt der Stadtverwaltung Stuttgart.
Am Donnerstag, dem 30.September, kam es im Stuttgarter Schloßgarten zu einem massiven Gewalteinsatz der Polizei gegen Bürger, die sich zum Schutze des Parks vor Baumfällarbeiten im Zuge des verkehrsindustriellen und städtebaulichen Programms „Stuttgart 21“ dort versammelt hatten. (ALARM IN STUTTGART – massiver Polizei-Einsatz im Gange)
Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU) hatte noch am Abend den Demonstranten – darunter die Teilnehmer einer angemeldete Schülerdemonstration – in mehreren Interviews für die TV Industrie Gewaltbereitschaft und Gewalteinsatz unterstellt. Die Polizei sei angegriffen worden, so Rech. Die anwesenden Kinder der angemeldeten Demonstration seien durch die „Stuttgart 21“-Gegner „instrumentalisiert“ worden. Hier Rechs Aussagen am Abend des 30.September im „Heute Journal“:
Laut Aussage des Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Joachim Lautensack am 2.Oktober gab „den Auftrag für den Einsatz“ allerdings „die Politik, namentlich Innenminister Heribert Rech“ (1). Polizeigewerkschaftler Lautensack führte weiter aus:
„Man kann nicht die Polizei losschicken, um den Platz freizumachen, und nicht gleichzeitig berücksichtigen, dass es zu Tumulten und einer Eskalation der Lage kommt..Unter realistischen Gesichtspunkten hätte man nicht erwarten dürfen, dass das friedlich von statten geht.“
Stuttgarts Polizeipräsident Siegfried Stumpf enthüllte dem „Spiegel“ (2) am 2.Oktober ein paar bemerkenswerte Fakten. Eigentlich sei für den 30.September ein Einsatz der örtlichen Stuttgarter Polizei um 15 Uhr vorgesehen gewesen. Leider sei dies bereits am Mittwoch im Internet zu lesen gewesen. (29.09.10 Parkschützer in Stuttgart rufen zu gewaltfreiem Widerstand gegen drohende Baumfällungen und Großeinsatz der Polizei)
Daraufhin habe er, Stumpf, „Plan B“ aus der Tasche gezogen: einen Einsatz von Polizeieinheiten „aus anderen Bundesländern“ schon um 10 Uhr. Diesen „Plan B“ hatte Polizeipräsi Stumpf im Gepäck, weil er offenbar seine eigene Stuttgarter Polizei verdächtigte mit den Stuttgartern unter einer Decke zu stecken und Termine über Einsätze an die Parkschützer weiterzugeben.
Stumpfs Pech: er übersah – leider, leider – diese klitzekleine Schülerdemonstration mit über 1000 Teilnehmern. Diese war mit einer Auftaktkundgebung um 10 Uhr in der Lautenschlagerstraße und ab 11 Uhr mit dem „Aufbau der Versammlungsmittel“ im Schloßpark für die Abschlußkundgebung um 12 Uhr angemeldet (3).
Von der Lautenschlagerstraße – dem Auftaktort – war es aber nur ein Katzensprung bis zum Ort der Abschlusskundgebung im Schloßgarten. Was machten also die Schüler, also sie kurz nach 10 Uhr die Nachricht vom Eintreffen der Polizei am Schloßgarten erreichte? Sie setzen sich zügig in Bewegung, um ihre Freunde und Helfer aus „den anderen Bundesländern“ im Park zu empfangen – und das den Umständen entsprechend unwillig. Die Schüler weigerten sich schlicht und einfach ihren Park zu räumen.
Die Polizeieinheiten „aus den anderen Bundesländern“ taten daraufhin das, was sie gelernt und wofür sie offenbar entsprechende Befehle bekommen hatten: draufhauen. Und das ohne Rücksicht auf Verluste bei den Befreundeten und Beholfenen.
Laut einer Chronik der „Stuttgarter Nachrichten“ (4) war an jenem Donnerstag gegen 14 Uhr auch der Fraktionsführer von Bündnis 90/Die Grünen im baden-württembergischen Landtag präsent – entweder eilig herbei geeilt oder in weiser Voraussicht. Jedenfalls hat Winfried Kretschmann die Handy Nummer des Innenministers auf Tasche. Kretschmann ruft Rech an.
„Winfried Kretschmann, Fraktionschef der Grünen im Landtag, ruft über Handy Innenminister Heribert Rech an. „Bitte, lassen Sie das nicht eskalieren“, sagt Kretschmann. Nach dem Telefonat berichtet der Grüne, Rech habe zugesagt, mit der Einsatzleitung zu reden. Für eine halbe Stunde scheint es, als ob die Polizei inne hält. Dann heißt es wieder über Lautsprecher: „Wenn Sie nicht den Weg frei machen, setzt die Polizei unmittelbaren Zwang ein.“ Dann gibt der Wasserwerfer die nächste Salven ab.“
Kurz danach zählt das Deutsche Rote Kreuz im Schloßgarten innerhalb weniger Minuten 69 neue Verletzte, mit Blessuren an den Augen durch Reizgas, mit Prellungen, Blutergüssen und blutenden Nasen. Bleibt die Frage: was genau waren Inhalt und Tenor des Telefongespräches zwischen Grünen-Fraktionsführer Kretschmann und CDU-Innenminister Heribert Rech eine halbe Stunde vor der weiteren Eskalation im Schloßpark?
Der Einsatzleiter vor Ort, Winfried Ellinger, sagt am 30.September während des Einsatzes höchstpersönlich aus:
„Hier ist Chaos. Wir betreiben hier im Grunde Katastrophenmedizin. Dass der Konflikt so eskaliert, hat uns überrascht.“
Das ist die Aussage eines knüppelschwingenden Spatzenhirns und tumben Barbaren, der erst auf Befehl die Keule niedersausen lässt, dann dümmlich in die Blutlache guckt die er verursacht hat und dann noch in die Runde fragt, was denn hier eigentlich vor sich gehe.
Auf einer Pressekonferenz der Polizei am 5.Oktober schließlich übernimmt dann Stuttgarts Polizeipräsident Siegfried Stumpf die Verantwortung für den Polizeieinsatz. Über die Pressekonferenz heisst es in den Medien (5):
„Stumpf ging zuvor in seiner Pressekonferenz weiter. Der Einsatzleiter vom vergangenen Donnerstag räumt Fehleinschätzungen ein und übernimmt die Verantwortung: „Es sind Fehler gemacht worden, weil jemand übervorsichtig war.“ Aber er „hätte nie gedacht, dass es so starken Widerstand gibt“.
Stumpf schiebt mit diesen Worten die gesamte Verantwortung für den Verlauf des Einsatzes einem LKW-Fahrer zu, der seiner Meinung nach nicht schnell genug in den Park eingefahren sei. Deshalb hätten Wasserwerfer und Mannschaftswagen nicht schnell genug nachrücken können.
Wie Stumpf auf der Pressekonferenz am 5.Oktober weiter aussagt, habe der Einsatzleiter (Winfried Dellinger) am 30.September um 11.53 Uhr „mehr Personal“ und die Freigabe von „unmittelbaren Zwang“ angefordert. Stumpf ordnete daraufhin den Einsatz von Wasserwerfern und Schlagstöcke an. (6)
Hier der TV Mitschnitt der Pressekonferenz aus dem Stuttgarter Polizeipräsidium. Teilnehmer: der baden-württembergische Landespolizeipräsident Wolf Hammann, der Inspekteur der Polizei Baden Württembergs Dieter Schneider, sowie Siegfried Stumpf.
Die hohe Zahl der Verletzten, sowie deren improvierte und stark zeitverzögerte Behandlung, hatte wiederum das Ordnungsamt Stuttgart zu verantworten. Dieses hatte den Aufbau einer ständigen Sanitätsstation im Bereich der „Parkwache“ im mittleren Schlosspark am 24.September verboten. Aus einem Brief der Stuttgarter Demo-Sanitäter vom 2.Oktober an das Ordnungsamt Stuttgart. namentlich Renate Hofmeister (Demosanitäterbrief an das Ordnungsamt):
„Tausende von Bürgern waren in der Nacht zum 1. Oktober Zeugen der Tatsache, dass der öffentliche Rettungsdienst sich nur in Einzelfällen und nur auf ausdrückliche Anforderung der Polizei näher als mehrere hundert Meter an die unter fortgesetztem Beschuss aus Kampfstoffsprühgeräten und Wasserwerfern stehenden Bürger heranbewegte, die Bereitstellung von Kräften damit auf einen für Verletzte nur nach langem Fußmarsch erreichbaren Bereich beschränkte und auch die Bestreifung des Einsatzgebietes strikt verweigerte.
Demosanitäter, privat anwesende Ärztinnen und Ärzte, dienstfreies Rettungs- und Pflegepersonal sowie engagierte Bürgerinnen und Bürger mussten die Hilfeleistung für zweifellos weit mehr als nur die 375 gezählten Opfer der Polizeigewalt unter spartanischen Bedingungen und nahezu vollständig ohne öffentliche Unterstützung leisten.
Für den extremen Mangel an Infrastruktur im unmittelbaren Bereich der Schadensstelle sind ausschließlich Sie, das Ordnungsamt der Stadt Stuttgart, durch Ihr Verbot unserer Maßnahmen verantwortlich.“
Angesichts von mindestens zwei Schwerverletzten, von denen eine Person wohl erblindet bleiben wird, sind die kommenden Gerichtsverfahren zu diesem Polizeieinsatz mit großem öffentlichen Interesse verbunden. Dieses wird solange anhalten und den Verantwortlichen den Dienst schwer machen, bis die Verantwortlichkeiten um den Polizeieinsatz am „Schwarzen Donnerstag“, dem 30.September von Stuttgart, endgültig aufgeklärt worden sind.
Quellen:
(1) http://www.swr.de/nachrichten/bw/-/id=1622/nid=1622/did=6967884/10vm5f8/index.html
(2) http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,720844,00.html
(3) http://www.bei-abriss-aufstand.de/wp-content/uploads/Versammlungsbescheid-30.09.10-anonymisiert-komplett.pdf
(4) http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.s21:-chronik-und-video-der-schlossgarten-ist-unser-park.8c367c32-3c50-451b-9edf-b299d0188cce.html?page=1
(5) http://www.morgenweb.de/nachrichten/dritte_seite/20101006_mmm0000000650122.html
(6) http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2657437_0_3659_-harter-polizeieinsatz-gegner-sollen-schuld-sein.html
letzte Änderung: 16.55 Uhr