(Un)Sicherheitskakophonie: Anmerkungen zur neuen NATO-Strategie
Am 19. November 2010 unterzeichneten die versammelten Staats- und Regierungschefs beim NATO-Gipfeltreffen in Lissabon ein neues Strategisches Konzept, das damit die bisherige Fassung aus dem Jahr 1999 ersetzt.
Hochtrabend kündigte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen einen großen Wurf an, den er griffig auf die Formel brachte, man würde damit „NATO 3.0“ einläuten und hierdurch die Allianz grundlegend neu aufstellen. Damit hatte sich der NATO-Chef, der darauf bestand, die Strategie persönlich abzufassen, ganz offensichtlich aber verhoben. Denn in dem Dokument bleibt vieles im Vagen, was darauf hindeutet, dass sich die NATO-Staaten entweder in zahlreichen Kernpunkten nicht auf bindende Maßnahmen einigen konnten oder bewusst konkrete Pläne schuldig bleiben wollten, um sich vor allzu großer Kritik zu immunisieren – vermutlich war es eine Kombination aus beidem.
Dennoch findet sich im Strategischen Konzept genug, um sich Sorgen zu machen. Zu nennen ist hier vor allem die zahllosen aufgeführten „Bedrohungen“ gegen die sich das Bündnis künftig buchstäblich zu rüsten gedenkt sowie der Aufbau NATO-eigener „ziviler“ Planungskapazitäten und damit die forcierte Instrumentalisierung nicht-militärischer Akteure und Instrumente. Auch die erhebliche Aufwertung der Europäischen Union als „strategischer Partner“ der NATO deutet auf eine noch stärkere künftige Verzahnung beider Organisationen hin, die aus friedenspolitischer Sicht alles andere als begrüßenswert ist. Demgegenüber wurde und wird viel Aufhebens um die neue Partnerschaft mit Russland gemacht, von der aber genauer besehen ebenso wenig übrig bleibt, wie von den Bekenntnissen zur nuklearen Abrüstung.
Ausufernde Bedrohungsszenarien
Die NATO setzte nun eine schlechte Tradition fort, die bereits mit dem ersten Strategischen Konzept nach dem Kalten Krieg ihren Anfang nahm, das seinerzeit 1991 in Rom verabschiedet wurde. Schon damals wurden hinter jeder Ecke Gefahren entdeckt, „multidirektionale Bedrohungen“ wie es hieß, die die weitere Existenz des Bündnisses ebenso wie hohe Rüstungsausgaben rechtfertigen helfen sollten.
Auch im aktuellen Konzept wird betont, man lebe in einer „unvorhersehbaren Welt“ (para. 1), um gleich darauf ein ganzes Bündel an Bedrohungen aufzuzählen: die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln, Terrorismus, „Instabilität und Konflikte außerhalb der NATO-Grenzen“ und so weiter (para. 9-11). Neu ist die explizite Aufzählung von Cyberangriffen (para. 12) sowie Klimawandel und Wasserknappheit (para. 15). Darüber hinaus fand die Sicherheit der Energieversorgung sowie von Handelswegen zwar auch früher bereits Erwähnung, aber bei weitem nicht so ausführlich wie in der aktuell verabschiedeten Fassung: „Alle Länder sind zunehmend abhängig von vitalen Kommunikationsmitteln sowie Transport- und Transitrouten, von denen die internationale Handels- und Energiesicherheit abhängt. Dies erfordert größere internationale Anstrengungen, um die Widerstandsfähigkeit gegenüber Attacken oder Unterbrechungen zu gewährleisten.“ (para. 13) Deshalb müsse die NATO „die Kapazitäten entwickeln, um zur Energiesicherheit beizutragen, einschließlich dem Schutz kritischer Infrastrukturen und Transitgebieten und -Routen.“ (para. 19)
Was gänzlich fehlt, ist eine irgendwie geartete Hierarchisierung dieser unzähligen Bedrohungen. Während der im Mai 2010 veröffentlichte Bericht „NATO 2020“ der von Rasmussen beauftragten Hochrangigen Gruppe noch den Versuch unternommen hatte, einzelne Aspekte Artikel 5 (gleichbedeutend mit einem militärischen Angriff), andere Artikel 4 (erfordert lediglich Konsultationen über das weitere Vorgehen) zuzuordnen, entfällt eine solche Prioritisierung im nun verabschiedeten Konzept. Es bleibt eine völlige Beliebigkeit, die schließlich auch zur Folge hat, dass das daraufhin beschriebene Einsatzprofil mit all diesen Bedrohungen umzugehen gedenkt – ohne dass adressiert würde, woher die hierfür notwendigen Finanzmittel herkommen sollen, um die fehlenden Kapazitäten aufzubauen.
Einsätze und der Comprehensive Approach
Ungeachtet (hoffentlich) sinkender Rüstungsausgaben hält die NATO am bisherigen ambitionierten Ziel fest, die „Fähigkeit zwei andauernde größere Operationen und mehrere kleinere Operationen zur kollektiven Verteidigung und Krisenreaktion auch in ferner Distanz aufrecht zu erhalten.“ (para. 19) Zwar wird die Verpflichtung auf die Verteidigung des Bündnisgebietes mehrfach als wichtige Aufgabe unterstrichen, dennoch wird unmissverständlich klar gemacht, dass künftig im Ausland die Musik spielen wird. „Wir müssen die die Doktrin und militärischen Fähigkeiten für Auslandseinsätze weiter ausbauen, einschließlich Aufstandsbekämpfungs- sowie Stabilisierungs- und Wiederaufbaumissionen.“ (para. 25)
Angesichts der gravierenden Probleme in Afghanistan erhofft sich die NATO von zwei Aspekten künftig „bessere“ Ergebnisse, was den „erfolgreichen“ Abschluss von Aufstandsbekämpfungsoperationen anbelangt: Die frühzeitige Einbindung und Instrumentalisierung ziviler Kapazitäten („Comprehensive Approach“) soll die Effektivität der Einsätze massiv erhöhen. Der Aufbau einheimischer Repressionsorgane (Sicherheitssektorreformen) – also von Armeen und Polizeien – soll das westliche Militär entlasten und deutlich geringere Truppenstationierungen erfordern.
Im Konzept finden sich beide Aspekte wieder, die eine der wichtigsten Neuerungen darstellen: „Die Lehren aus den NATO-Operationen, besonders auf dem Balkan und in Afghanistan, machen deutlich, dass eine umfassende politische, zivile und militärische Herangehensweise für ein effektives Krisenmanagement erforderlich ist.“ (para. 21) Erstmals wird darüber hinaus im Konzept der Aufbau NATO-eigener ziviler Planungskapazitäten anvisiert: „Wir werden […] angemesse aber moderate zivile Krisenmanagementkapazitäten herausbilden, um uns besser an zivile Partner ankoppeln zu können. […] Diese Kapazitäten können auch dafür verwendet werden, zivile Aktivitäten einzusetzen oder zu koordinieren.“ (para. 25) Kurz gesagt: ungeachtet der massiven Proteste nahezu sämtlicher ziviler Organisationen maßt sich die NATO an, diese künftig nach ihrem Gutdünken für ihre militärischen Kriegsziele wortwörtlich herumzukommandieren – der Instrumentalisierung ziviler Akteure in Krisengebieten wird damit Tür und Tor geöffnet.
Afghanistan spielt im Konzept selbst kaum eine Rolle, sondern wurde am zweiten Tag separat abgehandelt. Kernelement ist derzeit der Versuch, die Zielgröße der afghanischen Polizei und Armee von ursprünglich einmal 160.000 nun schnellstmöglich auf 400.000 hochzuschrauben. Dies soll es ermöglichen, ab nächstem Jahr mit der Übergabe der Kriegsführung an die afghanischen Kräfte beginnen zu können, ein Prozess, der nach derzeitigen Verlautbarungen 2014/2015 abgeschlossen sein und damit zum westlichen Abzug führen soll. Allerdings pfeifen es die Spatzen bereits von den Dächern, dass dieser Plan so nicht aufgehen wird. Ein Bericht nach dem anderen betont bereits jetzt, dass weder die afghanische Armee noch die Polizei auf absehbare Zeit auch nur annähernd in der Lage sein werden, das Land unter Kontrolle zu bringen. Dennoch sollen die Kapazitäten für Sicherheitssektorreformen, die in Afghanistan eher ad-hoc zusammengeschustert wurden, künftig systematisch aufgebaut und auch in anderen Regionen zur Anwendung gebracht werden: „Wir werden Kapazitäten zum Training und Aufbau lokaler Kräfte in Krisenzonen entwickeln, damit lokale Autoritäten in der Lage sind, so schnell wie möglich die Sicherheit auch ohne internationale Hilfe aufrecht zu erhalten.“ (para. 25)
Transatlantische Treueschwüre
Schon in den letzten Erklärungen der NATO-Gipfeltreffen war die Bedeutung der Europäischen Union erheblich aufgewertet worden. Hintergrund sind die immensen wirtschaftlichen und militärischen Probleme der USA, die Washington wenig andere Optionen lassen, als den Versuch zu unternehmen, die „Lasten der Weltordnungspolitik“ stärker auf die europäischen Verbündeten zu verlagern. Im Gegenzug beanspruchen die EU-Staaten mehr Mitspracherechte im Bündnis, in dem bislang die USA die erste und nahezu einzige Geige gespielt haben. Ferner erwarten die EU-Verbündeten, dass Washington seinen Widerstand gegen eine weitere Militarisierung der Europäischen Union, die auch Kapazitäten herausbildet, um Kriege notfalls ohne die USA führen zu können, aufgibt.
Dieses Bündel wurde im neuen Strategischen Konzept mehr oder weniger konkret adressiert, indem es heißt: „Die NATO erkennt die Bedeutung einer starken und fähigeren europäischen Verteidigungsfähigkeit an.“ Anschließend ist die Rede von einer „strategischen Partnerschaft zwischen der NATO und der EU“ und – entscheidend – vom „Respekt vor der Autonomie und institutionellen Integrität beider Operationen.“ (para. 32) Mit anderen Worten, implizit wird hier von Washington akzeptiert, dass die Europäische Union eigene Wege im Militärbereich gehen kann, solange sie dieses Zugeständnis mit einer größeren Unterstützung der USA im Rahmen von NATO-Operationen zurückzahlt. Schon heute arbeiten beide Organisationen „vor Ort“ teils eng zusammen, etwa bei der Aufstandbekämpfung im Kosovo oder dem Aufbau von Repressionsorganen in Afghanistan. Diese Zusammenarbeit soll offenbar systematisch ausgebaut werden, wenn es im Konzept heißt: „Wir werden […] unsere praktische Kooperation in Operationen im gesamten Spektrum an Kriseneinsätzen ausbauen, von der koordinierten Planung bis hin zum Feldeinsatz.“ (para. 32)
Gleichzeitig wird auch ein Kerninteresse der USA angesprochen, nämlich der Appell an eine „fairere Lastenverteilung“ (para. 3), die dazu führen soll, dass Washington nicht mehr länger den Großteil der Kosten trägt. Wie dies allerdings umgesetzt werden soll, bleibt das Konzept schuldig.
Liebesgrüße an Moskau?
Viel Aufhebens wird um die neue Partnerschaft mit Russland gemacht. Und in der Tat sind die Ausführungen gegenüber dem Bericht „NATO 2020“ deutlich abgemildert worden, wo noch vor einem aggressiven Russland explizit gewarnt worden war. Allerdings sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Substanz kaum Zugeständnisse an Moskau gemacht wurden.
Dies betrifft insbesondere eine weitere Expansion der NATO nach Osten. Hier wird auch im neuen Konzept eindeutig festgehalten, dass „die Tür für eine NATO-Mitgliedschaft weiter völlig offen bleibt.“ (para. 27) Zwar wurde es vermieden, im selben Paragrafen die aus Sicht Moskaus zwei problematischsten Kandidaten – die Ukraine und Georgien – hierbei explizit zu benennen, dies wird allerdings wenig später nachgeholt: „Wir werden […] die Partnerschaften mit der Ukraine und Georgien innerhalb der NATO-Ukraine und NATO-Georgien Kommissionen weiterentwickeln.“ (para. 35) Diese beiden Kommissionen wurden explizit als Heranführungsmechanismen für beide Länder an eine NATO-Mitgliedschaft geschaffen, weshalb diese Passage wenig zu Moskaus Beruhigung beitragen dürfte. Die Äußerungen, eine Partnerschaft mit Russland anstreben zu wollen, werden dadurch unglaubwürdig. Russland erhält außerdem weiterhin keinerlei substanzielle Mitentscheidungsrechte an der NATO-Politik. Der Medwedew-Vorschlag für einen Euro-atlantischen Sicherheitsvertrag, der dieses ermöglicht hätte, findet keinerlei Erwähnung.
Kostspieliger Raketenschild
Eine der wichtigsten Passagen des neuen Konzeptes bezieht sich auf das Bekenntnis, einen NATO-Raketenabwehrschild aufzubauen. „Wir werden […] die Kapazität entwickeln, um unsere Bevölkerung und Territorium gegen ballistische Raketenangriffe zu schützen.“ (para. 19) Damit scheint endgültig die Entscheidung gefallen, dass die Teile der US-Raketenabwehr, die in Osteuropa stationiert werden sollen, in ein gemeinsames NATO-System überführt werden. Ob und wie russischen Vorbehalten gegenüber einer Raketenabwehr entsprochen wird, ist bislang noch offen.
Die Formulierung im Konzept ist insofern wichtig, als bisher die NATO primär mit einer Regionalen Gefechtsfeldraketenabwehr (Theater Missile Defence) geliebäugelt hatte, die ausschließlich zum Schutz von im Ausland stationierten Soldaten in der Lage ist. Die nun gewählte Formulierung „Schutz der Bevölkerung und des Territoriums“ bedeutet eine – ungleich kostspieligere – Nationale Raketenabwehr, die das gesamte Bündnisgebiet abdecken soll.
Insofern sind die von NATO-Generalsekretär Rasmussen ins Spiel gebrachten Kosten von 147 Mio. Euro bzw. 200 Mio. Euro pure Luftnummern. Mit diesem Geld ist es lediglich möglich, existierende – und aus den nationalen Budgets separat zu finanzierende – Kapazitäten miteinander zu verbinden. Schon vor Jahren hatte die NATO eine Machbarkeitsstudie anfertigen lassen, in der sie zu dem Ergebnis kam, die nun anvisierte „High-End-Lösung“ werde Gesamtkosten von etwa 20 Mrd. Euro verursachen (Raketenabwehr: beschlossen, Geopowers.com, 05.03.2007).
Lippenbekenntnisse zur nuklearen Abrüstung
Auch das Bekenntnis zur nuklearen Abrüstung im neuen Strategischen Konzept ist ein schlechter Witz. Denn gleich darauf wird betont: „Solange es Atomwaffen geben wird, wird die NATO eine nukleare Allianz bleiben.“ (para. 17) Mehr noch, der „Wert“ nicht nur der amerikanischen, sondern auch der französischen und britischen Atomwaffen wird im selben Atemzug explizit gewürdigt (para. 18).
Gleichzeitig finden die im Rahmen der nuklearen Teilhabe weiterhin in fünf NATO-Ländern (darunter Deutschland) stationierten US-Atomwaffen keinerlei Erwähnung. Auch werden keine bindenden Abrüstungsschritte vorgeschrieben, die Modernisierung des Atomwaffenarsenals geht also weiter und die NATO wird ebenfalls nicht von ihrer bisherigen Strategie abrücken, ggf. Atomwaffen in einem Konflikt als erste einzusetzen („First-use“).
Geheimniskrämerei
Trotz so mancher konkreter Aspekte, das neue Strategische Konzept ist vor allem ein bunter Strauß an (Un)Sicherheit, aus dem sich jeder mehr oder weniger beliebig bedienen können wird. Wie – und ob überhaupt – die NATO diese Kakophonie zu ordnen gedenkt und Prioritäten festlegen will, bleibt im Dunkeln, obwohl dies schon allein deshalb erforderlich wäre, da nicht genug Ressourcen für sämtliche anvisierten Aufgaben zur Verfügung stehen werden.
Aufschlussreich hätte hier das parallel zur NATO-Strategie erarbeitete mehrere hundert Seiten umfassende geheime Dokument sein können, das dem Strategischen Konzept angehängt ist. Es enthält einem Bericht der New York Times (30.09.2010) zufolge, die militärische Feinausplanung auf Basis der im Strategischen Konzept vorgenommenen Bedrohungsanalyse. Schon die Ausplanung des Strategischen Konzeptes erfolgte ungeachtet aller Versprechungen hinter verschlossenen Tüten. Nicht einmal Parlamentarier, geschweige denn die Zivilgesellschaft wurden in den Prozess mit einbezogen. In Deutschland bekamen bspws. lediglich die Obleute des Außen- und Verteidigungs-Ausschusses den Entwurf zu Gesicht, der erstmals Ende September zirkulierte und danach mehrfach überarbeitet wurde. Sie wurden jedoch zu Stillschweigen verpflichtet – ein offener und transparenter Prozess, wie er versprochen wurde, sieht jedenfalls anders aus. Diese Geheimniskrämerei gilt scheinbar noch stärker für das dem Konzept angehängten Dokument: „Wenn sie glauben, das Strategische Konzept sei geheim, dann machen sie sich keinerlei Vorstellungen darüber, wie geheim das operationelle Papier ist und bleiben wird“, zitiert die New York Times einen ungenannten osteuropäischen Diplomaten.
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