Nordflügel-Prozess in Stuttgart: Milde Urteile, ein Freispruch

Staatsanwaltschaft ermittelt schlampig, Beweise mangelhaft

Stuttgart: Vier der fünf Angeklagten, die am 26. Juli 2010 den leeren Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs mehrere Stunden lang friedlich und gewaltfrei besetzt hatten, wurden heute zu zehn Tagessätzen zu 5 bis 35 Euro verurteilt. Sie hatten mit der Besetzung gegen den geplanten Abriss des denkmalgeschützten Gebäudes und gegen Stuttgart 21 demonstriert. Bereits zu Beginn seines Plädoyers forderte Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler einen Freispruch für einen der Angeklagten, da dieser sich nicht im Nordflügel aufgehalten hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte ihm trotzdem einen Strafbefehl zugestellt, gegen den er Einspruch eingelegt hatte.

„Wir sind mit dem Verlauf und dem Ergebnis der Verhandlung zufrieden, denn der Richter blieb im unteren Bereich des Strafmaßes; er halbierte sogar die Anzahl der Tagessätze, die die Staatsanwaltschaft beantragt hatte“, sagt Rechtsanwalt Frank-Ulrich Mann. „Es wäre jedoch schön gewesen, wenn das Gericht unserer Auffassung gefolgt wäre, wonach gar kein Hausfriedensbruch vorlag. In einem leerstehenden, geöffneten Gebäude, das sich im Eigentum der öffentlichen Hand befindet, muss das Demonstrationsrecht Vorrang haben vor dem Hausrecht. Mit guten Gründen hätte das Gericht die Angeklagten freisprechen können.“

Die Nordflügel-Besetzer forderten am 26. Juli 2010 mit ihrer gewaltfreien Protestaktion einen sofortigen Baustopp mit dem Slogan: „Kein Abriss für ein gescheitertes Projekt“. Außerdem forderten sie von Bundesverkehrsminister Ramsauer, die Kosten-Nutzen-Rechnung für das Projekt unverzüglich offenzulegen. Der Faktencheck im Herbst 2010 unter Heiner Geißler bewies, dass die Kosten für Stuttgart 21 über dem Nutzen liegen. Verkehrsminister Ramsauer selbst forderte im Sommer 2010, so viele Schienenkilometer wie möglich pro Million Euro zu bauen. Mit diesem Argument muss der Verkehrsminister Stuttgart 21 sofort beenden, da hierbei die 20-fache Summe pro Schienenkilometer anfällt im Vergleich zu Schienenbau an anderen Strecken.

Statements der Angeklagten

Gerhard Wick:

„Die Besetzer/innen des Nordflügels haben nichts anderes getan, als Verantwortung für das eigene Gemeinwesen wahr zu nehmen, wie es von Politkern aller Parteien in ihren Sonntagsreden immer gefordert wird. Wer soll sich mit diesem Staat noch identifizieren, wenn nun wegen Bruch des Hausfriedens bestraft wird, wer ein Gebäude, das letztlich der Bürgerschaft gehört, vor der Zerstörung zu retten trachtet, während diejenigen, die Gemeineigentum gegen den erklärten Willen der Staatsbürgerinnen und Bürger zerstören und damit den Frieden einer ganzen Stadt brechen, noch nicht einmal angeklagt sind?“

Simone Lang:

„Ich bin der Meinung, dass das im Grundgesetz garantierten Recht auf Demonstrationsfreiheit einen weit höheren Stellenwert hat als das Hausrecht für ein leerstehendes, zum Abriss freigegebenes, öffentliches Gebäude. Insbesondere, wenn dieses Hausrecht, das zum Schutze ganz anderer Dinge gedacht ist, hier verwendet werden soll, um nicht etwa den Schutz des Gebäudes, sondern in erster Linie den Schutz des Projekts Stuttgart 21 und die damit verbundenen wirtschaftlichen Interessen, sicherzustellen. Unser Ziel, den anstehenden Abriss dieses Architekturdenkmals zu verhindern und damit gleichzeitig weitere Projektschritte wie das Abholzen großer Teile des als grüne Lunge und Erholungsraum äußerst wertvollen Schlossgartens sowie die Gefährdung der Mineralwasserquellen zu verhindern, war und ist ein ehrliches und ehrenwertes Anliegen.“

Mark Pollmann:

„Mit dem Aufenthalt im ehemaligen Nordflügel des Bonatzbaus, ein inzwischen ehemaliges ‚Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung‘ habe ich gegen staatlich legitimiertem Vandalismus an unseren Baudenkmälern als Protest gegen die Schmierenkomödie Stuttgart 21 demonstriert.
Dieses Projekt ist für die Stadt zerstörerisch und potentiell lebensgefährlich. Die angebliche formaldemokratische Legitimation wurde durch vielfachen Betrug an den Parlamenten durchgesetzt. S21 ist ein Fall von milliardenschwerer Steuerveruntreuung, um ein Immobilienprojekt zu finanzieren, in dem sich eine Elite auf Kosten der Allgemeinheit bereichert und dabei das Kulturerbe zerstört. Und Menschenleben durch Banalisierung der Risiken sowie verantwortungslose Planung billigend in Kauf nimmt. Stuttgart 21 ist in Baden-Württemberg die Geschichte des Versagens unserer Demokratie.“

Peter Schadt:

„Wir lassen uns nicht kriminalisieren. Vor Gericht stehen nie die Verantwortlichen solcher Projekte, auch wenn ihnen vieles nachgewiesen wird. Wie im Falle von Stuttgart 21. Vor Gericht stehen nicht die Verantwortlichen für den Polizeieinsatz im Schlosspark. Oder diejenigen, welche Sitzblockaden mit Armumdrehen und Gesichtsschlägen räumen. Vor Gericht stehen die Ohnmächtigen, die sowenig Einfluss haben, die sowenig gehört werden, dass sie ihren Körper einsetzen müssen, um ein Kiesel im Getriebe dieses Projektes sein zu können. Dann, wenn wir uns organisieren, werden wir vor Gericht gezerrt: Wir würden Recht brechen.“

Andrea Schmidt:

„Das stundenlange Ausharren hunderter Menschen in strömendem Regen vor dem Nordflügel zeigt wie viele Menschen hinter dieser Aktion stehen. Auch der Empfang mit heißen Getränken und Pizza nach der Entlassung aus der Gewahrsamnahme in der Hahnemannstraße zeigt die große Solidarität. Das Gefühl der Verbundenheit war überwältigend, und ich bin doch nur durch eine offene Tür in ein vom Abriss bedrohtes Gebäude gegangen und habe mein Grundrecht auf Demonstration und Versammlungsfreiheit wahrgenommen.“

Rückfragen an Matthias von Herrmann, Pressesprecher der Parkschützer, Tel. 0174-7497868 oder an Carola Eckstein, Tel. 01525-3684818 oder an Fritz Mielert, Tel. 0176-66681817
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