„Die Montagsdemonstration ist und bleibt die Bühne für gelebte Demokratie“
Dokumentation: Die Rede von Joe Bauer, Kolumnist und Publizist, bei der heutigen 127. Stuttgarter Montagsdemonstration gegen das Industrie- und Immobilienprogramm „Stuttgart 21“ (S21).
Guten Abend, meine Damen und Herren, willkommen im Wanderzirkus des Stuttgarter Protests. Nach Bahnhof, Schlossgarten und Schlossplatz ist der Marktplatz heute für mich eine weitere Station als Gastredner des Protests. Das bedeutet: Lasst sie bellen. Die Karawane zieht weiter – durch die Stadt.
Zwar begibt man sich nur mit ungutem Gefühl in den Ausdünstungskreis des Rathauses. Aber der Marktplatz ist ein guter Ort. Er ist das neue Wahrzeichen des Aufbegehrens, die Stätte gezielter Aufklärung und Aufmüpfigkeit. Hier treffen sich Menschen, die sich dagegen wehren, getäuscht, verarscht und mit Propaganda zugemüllt zu werden.
Bis vor wenigen Wochen gab es Diskussionen, auch innerhalb der Bürgerbewegung, ob die Montagsdemonstration noch einen Sinn habe. Einige sagten, sie sei nicht mehr zeitgemäß.
Diese Überlegung ist falsch. Die Montagsdemonstration ist und bleibt der Marktplatz für Informationen, das Forum für den Meinungsaustausch, die Bühne für gelebte Demokratie.
Und vergessen Sie bitte nicht, werte Mitstreiter: Von wenigen Aufrechten abgesehen, gibt es in den Stuttgarter Parlamenten keine Opposition. Deshalb ist dieser politische Montagsmarkt wichtiger denn je.
Dieser politische Montagsmarkt ist das Open-Air-Parlament aller Initiativen für eine neue Politik, für eine Politik gegen die Machtlosigkeit der Menschen und gegen die Arroganz der Macht. —-
Womöglich haben Rathauswände Ohren. Die Insassen allerdings haben die Empfänger für das Begehren der Bürger längst abgeschaltet. Es gibt hier keine politischen Sensoren für die Menschen, es walten die Kräfte der Ignoranz und der Manipulation. Dass viele Leute diese Verhältnisse durchschauen, haben auch die Politiker gemerkt. Deshalb veranstalten sie neuerdings abenteuerliche Alibi-Aktionen unter der scheinheiligen und falschen Verwendung der Begriffe Bürger, Bürgerbeteiligung, Mitsprache.
Meine Damen und Herren, wo Bürger draufsteht, ist kein Bürger drin. Das ist fauler Zauber. Der Bürger dient als Wortkrücke für Reklame und Meinungsmache.
Die Notwendigkeit, über die Fallgrube Stuttgart 21 hinauszuschauen, diesen Immobilien-Deal gegen das demokratische Zusammenleben nicht als Stuttgarter Einzelfall zu sehen, ist i ins Bewusstsein gerückt. Die Vernetzung mit anderen Initiativen und Bewegungen ist das Ziel. Den Appell von Volker Lösch vom vergangenen Montag zur solidarischen Ausdehnung des Protests hat noch jedermann im Ohr.
Die Menschen, die weiterhin in dieser Stadt gegen die Angriffe auf ihren Lebensraum und ihre Lebensqualität kämpfen, haben begriffen, um was es geht: Sie gehen auf die Straße gegen Zocker-Gier, gegen Spekulanten-Wahn und gegen die Zerstörung ihrer Stadt.
Viele von uns, wir haben es in der Rede von Dr. Heißenbüttel gehört, müssen sich an die eigene Nase fassen: Wir haben die sogenannte Stadtplanung in der Vergangenheit nicht so wahrgenommen, wie es nötig gewesen wäre. Erst Stuttgart 21 hat den Druck im Kessel für viele unerträglich gemacht. Erst da ging der Deckel hoch. Die Kessel-Flickerei der Jahre zuvor, die krummen Immobilien-Geschäfte von Banken und Versicherungen im Zusammenspiel mit den Politikern, haben wir zu spät oder überhaupt nicht mitbekommen.
Schauen Sie sich einfach um, meine Damen und Herren: Drüben steht das Schwabenzentrum, einer dieser glorreichen Betonkomplexe. Er wurde nach der bus heute gültigen Verdummungsleier errichtet: Büros, Einzelhandel, Gastronomie. Schauen Sie sich das hässliche Schwabenzentrum an, was daraus geworden ist: Sie stehen vor Spielhöllen, Kaschemmen und einer heruntergekommenen Fassade an der Hauptstätter Straße. Wie im schlimmsten Provinzkaff. So enden die Kommerz-Produkte städtebaulicher Gleichmacherei. Es sind Betonbunker aus den Konfektions-Abteilungen der Investoren-Architektur. Viereckig, einfallslos, billig – ohne Zukunft.
Egal ob in Stuttgart, Passau oder Frankfurt. Man versucht, uns bei jeder neuen Shopping-Mall den gleichen Marketing-Schwindel unterzujubeln: Überall entsteht angeblich eine neue Mitte. In Passau wie in Stuttgart wächst angeblich die Stadt zusammen. Man bedient sich bei den Floskeln des Mauerfalls von 1989, um die Menschen zu täuschen.
Gehen Sie in die Tübinger Straße, lesen Sie die Marketing-Propaganda: „Heute schippen, morgen shoppen“. Was soll das heißen? Was gibt es zu schippen auf einer Baustelle, meine Damen und Herren? Ich kann es Ihnen sagen: Kohle —- und Kohle ist meines Wissens schwarz.
Sehen Sie sich den amerikanischen Dokumentarfilm „Inside Job“ über den Börsen-Crash von 2008 an. Darin erfahren Sie alles über die Zusammenhänge von shoppen und schippen, von Kohle und Schnee. —
In der Tübinger Straße ist auch dieser Spruch zu lesen: „Ein Ort, der die Stadt verbindet, der uns noch näher zusammenbringt.“
Aber nicht uns bringen diese Konsum-Kästen zusammen. Sie dienen allein den Profitmaximierungs-Interessen einer Immobilienindustrie, die Menschen wissentlich aus der Stadt hinausbaut. Auch aus unserer.
Wäre es den Politikern im Rathaus jemals darum gegangen, einen Ort zu schaffen, der uns verbindet, der die Stadt tatsächlich zusammenbringt, dann hätten sie keinen blödsinnigen Blubberblasen-Bahnhof geplant. Diesen Murks nennen sie Zukunft und Fortschritt. Dabei erinnert er nur an die aggressive Landnahme der Eisenbahntruppen des 19. Jahrhunderts.
Meine Damen und Herren, hätten sich die Politiker dieser Stadt jemals um die Lebensqualität der Bürger gekümmert, hätten sie die Menschen wirklich zusammenbringen wollen – dann wäre heute ein Deckel über der hässlichen und dreckigen Konrad-Adenauer-Straße. — Daran aber hatten die Politiker kein Interesse. Da wäre kein Profit zu machen.
Deshalb wird die Kultur-Landschaft dieser Stadt im Schatten der Bahnhofs- und Parkzerstörung bis heute von einer scheußlichen Stadtautobahn tranchiert. Die großartige Neue Staatsgalerie von James Stirling ist ins Abseits gerutscht, der Weg hinüber zu Theater und Oper eine Zumutung. Wo bitte gibt es eine Situation wie in Stuttgart: Beim Verlassen des wichtigsten Kunstmuseums am Platze laufen die Besucher Gefahr, von einem Lastwagen überrollt zu werden. Dieser urbane Schandfleck spiegelt den Geist, der im Rathaus herrscht.
Die gewählten Vertreter dieser Stadt, meine Damen und Herren, haben kein Interesse an einer menschengerechteren Stadt. Sonst hätten sie beispielsweise Respekt vor dem Wasser, dann würden sie ihre Mineralquellen und auch den Neckar nicht wie ein lästiges Übel behandeln.
Das Gleiche gilt für den Umgang mit historischer Bausubstanz. Auch in diesem Fall bekommen wir nur einen Steinwurf entfernt Anschauungsunterricht, nämlich im Leonhardsviertel. Man lässt dieses zentrale Viertel seit Jahrzehnten wissentlich verkommen.
All diese Dinge handeln von Stuttgart. Der neoliberale Ungeist aber, der dahintersteckt, ist überall präsent. Deshalb ist es für uns wichtig, das Große und Ganze zu durchschauen. Die manipulierte Volksabstimmung über die Finanzierung von Stuttgart 21 dient den Politikern als Persilschein für die Machenschaften der Geldindustrie. Wir müssen das Ganze als ein milliardenschwer subventioniertes Lehrstück in der Provinz betrachten. Es ist nämlich gar nicht die Kultur, die – wie sie behaupten – subventioniert wird. Sowieso wird der Kulturetat gerade von der grün-roten Regierung zusammengestrichen. Und da zeigen diese Herrschaften mit ihrem obersten Kalenderspruch-Philosophen ihr wahres Gesicht.
Es wird die Mär verbreitet, die Regierenden finanzierten gönnerhaft unsere Kultur. Das ist falsch. Eine Lüge. Sie schenken uns gar nichts.
Kultur steht uns nämlich zu. Wir haben ein politisches Recht auf Kultur. Dafür zahlen wir unsere Steuern. Bei uns aber fließen Steuergelder massenhaft in Banken und Spekulationsobjekte – und werden verschleudert bei haarsträubenden Deals aus Gründen parteipolitischen und privaten Größenwahns. Siehe Mappus und die EnBW.
Wenn wir diese Stuttgarter Machenschaften als reine Symptome begreifen, erkennen wir auch globale Zusammenhänge.
Wir müssen noch wacher werden, unsere Antennen ausfahren, sobald wir mit dämlichen Formeln wie Zukunft und Fortschritt traktiert werden. Zukunft ist nur ein anderes Wort für die Aussicht auf Profit.
Deshalb, verehrtes Klientel vom Stuttgarter Montagsmarkt: Schalten Sie auf Alarmstufe eins, wenn Regierungspolitiker behaupten, wir dürften neuerdings mitgestalten, mitbestimmen. Der Begriff Bürger ist nichts anderes als eine inflationäre Reklamefloskel. Immer noch gilt: Nirgendwo in diesem Land ist der Bürger … King.
Man faselt etwas von Bürgerdialog und Zukunftsdialog, von Mitbestimmung und Kommunikation. All diese Hohlwörter dienen nur der Meinungsmache. – In Wahrheit haben die Politiker Angst vor den kritischen Zeitgenossen, die sie seit dem Widerstand gegen Stuttgart 21 als Bürger hofieren. Sie merken, dass der internationale Bürgerprotest gegen die Kasino-Politik nicht mehr mit der Hetze gegen die üblichen Verdächtigen, gegen linke Revoluzzer, zu stoppen ist. Die Opposition der Straße hat eine neue gesellschaftliche Dimension.
Und wenn jetzt ein Reklametyp daherkommt und sagt, er sei der Bürger-Oberbürgermeister aus der Bürgerstadt – dann tauft er demnächst wohl die Königstraße um: Sie heißt dann Bürgersteig.
Das ist das Niveau parteipolitischer Kampagnen. Worthülsen, Kalauer, Schnäppchenmarkt-Sprüche.
Diese Art Politik der Bürger-Verarsche machen wir nicht mit. Unser Marktplatz ist Teil der Straße, der Ort, um Kräfte zu bündeln. Noch gilt zumindest hier die Versammlungsfreiheit. Seien wir wachsam, damit es so bleibt. Sie wissen, meine Damen und Herren: Dieser Marktplatz hier ist berühmt für seine Unterwelt. Ich meine damit nicht die Nachbarschaft im Rathaus, ich meine die Bauten in der Tiefe. In diesem Sinne: Monday, Monday: Die Luft ist oben besser.