Karlsruhe demokratisiert die „institutionelle Architektur“ des EU-Staatenbundes
Das Bundesverfassungsgericht erklärt in Urteil 2 BvE 4/11 den Fiskalpakt (zuvor „Euro-Plus-Pakt“), den gesamten „Europäischen Stabilisierungsmechanismus“ (ESM), sowie alle völkerrechtliche Verträge, die „in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis zum Recht der Europäischen Union stehen“, zu „Angelegenheiten der Europäischen Union“ nach Artikel 23 Grundgesetz. Gleichzeitig schafft es faktisch ein neues Grundrecht auf „parlamentarische Öffentlichkeit“, stellt dieses unter den Schutz der „grundgesetzlichen Verfassungsidentität“ und definiert die „institutionelle Architektur“ des EU-Staatenbundes nach dem „Bild“ des „verfassungsändernden Gesetzgeber des Jahres 1992“.
Das hat äußerst weitreichende Konsequenzen.
Zuerst einmal umschreibt das Bundesverfassungsgericht in seinem heutigen Urteil in zwei ausführlichen Chronologien jeweils das Entstehen der völkerrechtlichen Vertragsentwürfe zum „Europäischen Stabilisierungsmechanismus“ und zum „Euro-Plus-Pakt“ (später „Fiskalpakt“). Die präzise Auflistung der Versuche von Kanzleramt und Finanzministerium, das Parlament über die Vorgänge auf internationaler Ebene im Unklaren zu lassen, überrascht und kann bereits per se als sehr deutliches Signal gegen die Handlungsweise der Regierung gewertet werden.
Dann urteilt das Gericht, daß die Klage der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen fristgerecht eingegangen ist. Das ist insoweit von einiger Bedeutung, als sich die Grünen-Fraktion mit ihrer Klage sehr viel Zeit nahm. Sie reichte diesen erst am 25. Juli 2011 ein – einen Tag vor Ablauf der sechsmonatigen Frist. Das Bundesverfassungsgericht definierte, ab wann diese Frist in Gang gesetzt wurde. Nämlich am 26. Januar 2011.
„An diesem Tag lehnte der Bundesminister der Finanzen gegenüber dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union die Weiterleitung eines inoffiziellen Papiers (non paper) der Europäischen Kommission mit Inhalten und Plänen zum Gesamtpaket („comprehensive package“) von Europäischer Finanzstabilisierungsfazilität und Europäischem Stabilitätsmechanismus ausdrücklich mit der Begründung ab, dass im Hinblick auf Sitzungen der Finanzminister der Euro-Gruppe eine mündliche Unterrichtung ausreiche.“
Die Grünen-Fraktion verlangte übrigens in ihrer Klage nicht etwa die Aufhebung irgendwelcher Regierungsbeschlüsse, die Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Regierungshandeln – etwa der Unterschrift unter die Verträge von ESM oder Fiskalpakt – nein, nein….sie verlangte lediglich
„die Feststellung, dass die Antragsgegnerin die Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 23 Abs. 2 GG verletzt habe, indem sie diesen über den Europäischen Stabilitätsmechanismus und über den Euro-Plus-Pakt nicht hinreichend und nicht rechtzeitig unterrichtet habe.“
Ganz nebenbei ist dieses Urteil, welches eben diese Verletzung des Grundgesetzes feststellt, der Beweis, daß jede Fraktion des Bundestages sowohl ESM als auch Fiskalpakt bereits mit einer Klage in Karlsruhe hätte verhindern können. Denn diese Verträge wurden, so hat das Bundesverfassungsgericht heute geurteilt, unterschrieben, nachdem die Regierung die Verfassung verletzte.
Nun Auszüge aus dem Urteil, mit Kommentaren.
Als dezenter Hinweis kann diese Passage bewertet werden:
„Der Bundestag kann sein Frage-, Debatten- und Entschließungsrecht ausüben, seine Kontroll- und Haushaltsbefugnisse wahrnehmen und dadurch auf die Entscheidungen der Regierung einwirken oder durch Wahl eines neuen Bundeskanzlers die Regierung stürzen“
Hier wird der Vorbehalt zu noch anstehenden Entscheidungen formuliert, u.a. zur laufenden Verfassungsbeschwerde unserer Kollegin Sarah-Luzia Hassel-Reusing gegen das Stabilisierungsmechanismusgesetz (StabMechG) in der am 9. Oktober 2011 verkündeten Fassung.
„Bei der Gestaltung völkerrechtlicher Verträge ist der Bundestag grundsätzlich auf die nachträgliche Zustimmung gemäß Art. 59 Abs. 2 GG verwiesen („Ratifikationslage“). Inwieweit die Bundesregierung in diesem Zusammenhang Unterrichtungspflichten treffen, die in den Bereich der vorausgehenden Vertragsverhandlungen hineinreichen, ist nicht grundsätzlich geklärt und hier nicht zu entscheiden.“
Dieser Abschnitt des Urteils markiert sowohl einen Richtungsentscheid , als auch eine rückwirkende Definition des gesamten „europäischen Integrationsprozesses“ seit Gründung der „Europäischen Union“ im Jahre 1992:
„Eine verbesserte Mitwirkung des nationalen Parlaments an den Entscheidungen der an der Rechtsetzung im Rat beteiligten Bundesregierung wurde als Bedingung ausreichender demokratischer Legitimation der supranationalen Rechtsetzung betrachtet“
Hier holt sich Karlsruhe Hilfe aus anderen Verfassungen, sogar dem EU-Recht und definiert die gesamte real existierende „institutionelle Architektur“ der EU, mit ihrem in 20 Jahren gewucherten Komplex aus Regierungsräten, Mehrheitlern, Staats- und Parteifunktionären, Bankern und Bürokraten, aus deren Sicht komplett neu:
„Die verglichen mit der allgemeinen Gewichtsverteilung zwischen Bundesregierung und Deutschem Bundestag im Bereich der auswärtigen Gewalt stärkere Einbindung des Parlaments in Angelegenheiten der Europäischen Union durch weitreichende Informations- und Mitwirkungsrechte (zu ähnlichen Regelungen in anderen Mitgliedstaaten vgl. etwa Art. 6 des Dänischen Gesetzes über den Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften; Art. 88-4 der Französischen Verfassung; Art. 23e des Österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes; Art. 197lit. i der Portugiesischen Verfassung; Kap. 10 §§ 2 und 3 der Schwedischen Reichstagsordnung) ist zudem Teil einer institutionellen Architektur, die den nationalen Parlamenten in der Europäischen Union eine über die Mitgliedstaaten hinausweisende Rolle zuweist und auf diese Weise ihr demokratisches Legitimationspotential für die Europäische Union fruchtbar machen will.. Art. 23 Abs. 2 GG korrespondiert insoweit mit Art. 12 EUV, der den nationalen Parlamenten eine stärkere Rolle im institutionellen Gefüge der Europäischen Union beimisst.“
Artikel 23 und der Passus „Angelegenheiten der Europäischen Union“ werden neu interpretiert und ausgelegt. Dabei behält sich das Bundesverfassungsgericht geschickterweise die genauen Bedingungen für die dafür notwendige „Gesamtbetrachtung der Umstände“ vor.
„Um Angelegenheiten der Europäischen Union kann es sich auch in anderen Fällen handeln. Insbesondere gehören völkerrechtliche Verträge unabhängig davon, ob sie auf eine förmliche Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG) gerichtet sind, zu den Angelegenheiten der Europäischen Union, wenn sie in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis zum Recht der Europäischen Union stehen.“
Das Bundesverfassungsgericht atomisiert alle mühsam von den etablierten Parteien seit Gründung der EU organisierte Mattigkeit, Passivität, Entbildung und Geistlosigkeit der Öffentlichkeit in Deutschland und bezieht sich, zurück bei der Zukunft, auf den Willen und die Intentionen des „verfassungsändernden Gesetzgebers“ von 1992:
„Der verfassungsändernde Gesetzgeber des Jahres 1992 hatte somit ein Bild der Europäischen Union vor Augen, in der die – allein supranationalen – Europäischen Gemeinschaften und die intergouvernementalen Bereiche unterschieden wurden. Wenn er die Mitwirkungsrechte des Bundestages vor diesem Hintergrund auf die Angelegenheiten der Europäischen Union bezogen hat, liegt es nahe, dass er zwischen den Säulen der Europäischen Union nicht differenzieren wollte. Vielmehr sollte sich Art. 23 Abs. 2 GG auf „alle Vorhaben der Europäischen Union [erstrecken], die für die Bundesrepublik Deutschland bzw. den Bundestag von Interesse sein könnten“ „
Das Bundesverfassungsgericht erschafft den verfassungsrechtlichen Terminus „parlamentarische Öffentlichkeit“, bindet an diesen Artikel 23 Grundgesetz und stellt dieses neue faktische Grundrecht unter den Schutz von Artikel 20 und damit der grundgesetzlichen Verfassungsidentität.
„Die Auslegung und Anwendung des Art. 23 Abs. 2 GG hat darüber hinaus dem Umstand Rechnung zu tragen, dass diese Bestimmung auch dem im Demokratieprinzip verankerten Grundsatz parlamentarischer Öffentlichkeit dient. (..)
Erst die Öffentlichkeit der Beratung schafft die Voraussetzungen für eine Kontrolle durch die Bürger (..)
Dies gilt auch, wo die parlamentarische Beratung sich, sei es mitwirkend oder kontrollierend, auf das Entscheidungsverhalten bezieht (..) Die parlamentarische Verantwortung gegenüber den Bürgern ist wesentliche Voraussetzung des von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG geforderten effektiven Einflusses des Volkes auf die Ausübung der Staatsgewalt.“
Nun wird die Haushaltshoheit noch einmal ausdrücklich festgestellt und an die „parlamentarische Öffentlichkeit“ gekoppelt, durch den Terminus „Budgetöffentlichkeit“.
„Entscheidungen von erheblicher rechtlicher oder faktischer Bedeutung für die Spielräume künftiger Gesetzgebung muss grundsätzlich ein Verfahren vorausgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und das die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Umfang der zu beschließenden Maßnahmen zu klären (..) Exemplarisch dafür ist, dass der Deutsche Bundestag auch in einem System intergouvernementalen Regierens die haushaltspolitische Gesamtverantwortung nach diesen Grundsätzen wahrzunehmen hat. Nach seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung muss der Deutsche Bundestag der Ort sein, an dem eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden wird, auch im Hinblick auf internationale und europäische Verbindlichkeiten (..)
Hierfür gilt der Grundsatz der Budgetöffentlichkeit als Ausprägung des allgemeinen Öffentlichkeitsprinzips der Demokratie„
Die Informierung des Parlaments durch die Regierung nach Artikel 23 wird genau definiert:
„Nach Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG muss die Unterrichtung des Bundestages in sachlicher Hinsicht umfassend sein.., in zeitlicher Hinsicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgen..und in einer zweckgerechten Weise ausgestaltet sein“
Das Bundesverfassungsgericht rechnet bereits mit einem Sabotageversuch Dr. Wolfgang Schäubles und seiner Kanzlerin und nagelt diese daher fest:
„1) Adressat der Unterrichtung gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG ist der Bundestag als Ganzer“
„Eine „Überflutung“ des Bundestages mit Informationen, die aufgrund ihrer Masse weder administrativ noch durch die Abgeordneten verarbeitet werden können, ist nicht Sinn des Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG“
„„Inoffizielle“ Informationen einzelner Abgeordneter oder von Fraktionen und deren Beauftragten wie den Obleuten in den Ausschüssen erfüllen den Anspruch des Bundestages aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG nicht.“
„2) Der Zweck des Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG verlangt im Grundsatz eine schriftliche Unterrichtung durch die Bundesregierung.“
Karlsruhe behält sich, gleichermaßen geschickt wie höchst brisant, die Entscheidung darüber vor, ob die vorgesehene Änderung des EU-Vertrages für den ESM in einem „ordentlichen Vertragsänderungsverfahren“ (Artikel 48 Absatz 2-4 AEUV, „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“) oder in einem „vereinfachten Änderungsverfahren“ erfolgen darf, oder ob der ESM gar insgesamt gegen EU-Recht verstößt.
„Die Gründung des Europäischen Stabilitätsmechanismus soll durch eine Änderung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union unionsrechtlich ermöglicht und abgesichert werden. Die insoweit vorgesehene Einfügung von Art. 136 Abs. 3 AEUV muss im Wege einer Vertragsänderung nach Art. 48 EUV erfolgen. (..)
Ob in der gewählten Form des völkerrechtlichen Vertrages über den Europäischen Stabilitätsmechanismus eine Umgehung des Unionsrechts liegt, namentlich ob der Vertrag mit Art. 48 EUV vereinbar ist, ist hier nicht zu entscheiden.“
In jedem Fall ist es dem ESM-Mechanismus, wie auch seinen „ausgeliehenen“ Organen der EU, verboten, die grundgesetzliche Verfassungsidentität zu berühren. Diese hat das Bundesverfassungsgericht im Urteil zum Lissabon-Vertrag definiert: Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz, in Verbindung mit Artikel 1 und 20. Ebenso ist es verboten, ESM und EU-Organen die „Kompetenz-Kompetenz“ einzuräumen.
„Für die Kompetenzausstattung der Organe gelten daher auch insoweit der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (vgl. auch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 EUV) sowie die Verbote, ihnen eine Kompetenz-Kompetenz einzuräumen oder den Kern der grundgesetzlichen Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 und 20 GG) zu berühren (vgl. BVerfGE 89, 155; 123, 267). Andernfalls könnten die der Fortentwicklung der europäischen Integration von Verfassungs wegen gezogenen Grenzen und die insoweit vorgesehenen verfahrensrechtlichen Sicherungen umgangen werden. Jede Zuweisung von Aufgaben und Befugnissen an die Europäische Union und/oder ihre Organe ist daher in der Sache eine Übertragung von Hoheitsrechten, und zwar auch dann, wenn die Organe für die Erledigung der Aufgabe „nur“ im Wege der Organleihe in Anspruch genommen und mit Befugnissen ausgestattet werden“
Kurze Einschätzung
Das von der Bundesregierung angestrebte „zweite Europa“, „neue Europa“, „Euro-Europa“, „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ durch die Staaten mit Euro-Finanzsystem in einer „Föderation“ ist tot. Alle entsprechenden Versuche der Bundesregierung irgendwelche Parallelverträge zum EU-Recht aufzubauen, auch der ESM, sind soeben von Karlsruhe kassiert und zu „Angelegenheiten der Europäischen Union“ nach Artikel 23 Grundgesetz gemacht worden.
Das Bundesverfassungsgericht stärkt mit diesem Urteil die strukturelle Integrität des EU-Staatenbundes, stutzt ihn gleichzeitig auf seine ursprüngliche Größe zurück und demokratisiert ihn per Definition. Ein ausgesprochen mutiger Schritt, der zudem beweist, daß das Grundgesetz (unserer) europäischer Demokratie nicht im Wege ist, sondern deren Fundament, Standart und wertvollster Bestandteil.
Natürlich hat dieses Urteil auch direkte Auswirkungen auf die derzeitigen Versuche Wolfgang Schäubles und Angela Merkels, fingerwedelnd in Berlin herum zu laufen und Bundestag und Bundesrat Anweisungen zu erteilen. Das gilt natürlich auch hinsichtlich dem von den lieben, guten, total verängstigten Geldmärkten verlangten Schnellbeschluss der Ausführungsgesetze von ESM und Fiskalpakt.
Ähnlich wie beim Urteil zum Lissabon-Vertrag („Wir sind souverän“) wird sich die Tragweite dieses – für alle Pro-Demokraten und Verfassungsfreunde in der Republik sehr positive – Urteils der überbreiten Öffentlichkeit erst nach und nach erschließen.