Rosa Luxemburg über die „Vereinigten Staaten von Europa“: „Eine imperialistische Mißgeburt“

In ihrem vor über hundert Jahren erschienenen Essay „Friedensutopien“ äußerte sich die Sozialdemokratin Rosa Luxemburg über ein bereits damals in ihrer Partei, der S.P.D.,  umgehendes Gespenst: die „Vereinigten Staaten von Europa“. Geschrieben drei Jahre vor Ausbruch des 1. Weltkriegs, nach einer Phase von 40 Jahren Frieden in Mitteleuropa, lesen sich die Worte der Sozialdemokratin und Sozialistin nicht nur wie eine Abrechnung mit der heutigen „Europäischen Union“ des Jahres 2013, sondern auch mit der gesamten Kaste der etablierten und damit paneuropäisch-imperialistischen Parteien explizit in Deutschland, mit der von der damaligen „Partei des Demokratischen Sozialismus“ P.D.S. und Dr. Gregor Gysi in 2004 mitbegründeten „Europäischen Linken“, mit deren später in 2007 in der Republik geschaffenen Ableger „Die Linke“, mit deren einflussreichen Finanzierungsträger Rosa-Luxemburg-Stiftung, sowie mit der paneuropäisch-imperialistischen Linken in Deutschland, die sich selbst als marxistisch bezeichnet und deren Bodentruppen heute in Berlin ihre „Marx is Muss“-Konferenz 2013 beendet.

Rosa Luxemburg 1911 in „Friedensutopien“:

„Jedes Mal, wo bürgerliche Politiker die Idee des Europäertums, des Zusammenschlusses europäischer Staaten auf den Schild erhoben, da war es mit einer offenen oder stillschweigenden Spitze gegen die „gelbe Gefahr“, gegen den „schwarzen Weltteil“, gegen die „minderwertigen Rassen“, kurz, es war stets eine imperialistische Mißgeburt“

„Die Losung des europäischen Zusammenschlusses kann objektiv innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nur wirtschaftlich einen Zollkrieg mit Amerika und politisch einen kolonialpatriotischen Rassenkampf bedeuten. Der Chinafeldzug der vereinigten europäischen Regimenter mit dem Weltfeldmarschall Waldersee an der Spitze und dem Hunnenevangelium als Panier – das ist der wirkliche und phantastische, der einzig mögliche Ausdruck der „europäischen Staatenföderation“ in der heutigen Gesellschaft.“

In einer geradezu gespenstischen Parallele zur Welt hundert Jahre später, behelfs ihrer technologischen Entwicklung vermeintlich so fortschrittlich und weit über den Ersten Imperialismus hinaus, beschreibt Rosa im Jahre 1911 die damals letzten 15 Jahre:

„1895 den Krieg zwischen Japan und China, der das Präludium der ostasiatischen Periode der Weltpolitik bildete, 1898 den Krieg zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten, 1899-1902 den Burenkrieg Englands in Südafrika, 1900 den Chinafeldzug der europäischen Großmächte, 1904 den Russisch-Japanischen Krieg, 1904-1907 den deutschen Hererokrieg in Afrika; dazu kommt 1908 die militärische Intervention Rußlands in Persien, im gegenwärtigen Moment die Militärintervention Frankreichs in Marokko, ohne der unaufhörlichen Kolonialscharmützel in Asien und in Afrika zu gedenken. Schon die nackten Tatsachen zeigen also, das seit 15 Jahren beinahe kein Jahr ohne eine Kriegsaktion vergangen ist.“

Erinnern wir uns nun im Jahre 2013 eigentlich was in den letzten 15 Jahren alles geschehen ist? Erinnern wir uns daran, wer 1999 den Krieg gegen das damalige, bereits durch nationalistische Kriege in den 90ern fast vollständig auseinandergerissene Rest-Yugoslawien begann? Erinnern wir uns heute, wer die Teilnahme deutscher Truppen an diesem Angriffskrieg befahl, deckte, befürwortete und heute in der Republik Deutschland immer noch gewählt werden will? Erinnern wir uns daran, dass heute immer noch deutsche Truppen in der ehemals yugoslawischen und serbischen Provinz Kosovo stehen? Erinnern wir uns daran als Bürgerinnen und Bürger der Berliner Republik ehrenwerte Mitbesetzer, Verzeihung, Besitzer einer Besatzungszone in Zentralasien zu sein, während deutsche Soldaten, Agenten und sogar Polizisten seit Ausbruch eines erklärtermaßen weltweiten Krieges in 2001 an von unserem Parlament regelmäßig mandatierten Kriegs-, „Antiterror“- und Spionageoperationen teilnehmen?

„Nur wenn man plötzlich all diese Vorgänge und Verschiebungen aus den Augen verliert und sich in die seligen Zeiten des europäischen Konzerts zurückversetzt, kann man z. B. davon reden, das wir seit 40 Jahren einen ununterbrochenen Frieden haben. Dieser Standpunkt, für den nur die Vorgänge auf dem europäischen Kontinent existieren, bemerkt gar nicht, das wir gerade deshalb seit Jahrzehnten keinen Krieg in Europa haben, weil die internationalen Gegensätze über die engen Schranken des europäischen Kontinents ins ungemessene hinausgewachsen sind, weil europäische Fragen und Interessen jetzt auf dem Weltmeer und nicht in dem europäischen Krähwinkel ausgefochten werden. Die „Vereinigten Staaten Europas“ sind also eine Idee, die sowohl wirtschaftlich wie politisch dem Gang der Entwicklung direkt zuwiderläuft, von den Vorgängen des letzten Vierteljahrhunderts gar keine Notiz nimmt.“

Geschrieben drei Jahre vor Ausbruch des 1. Weltkriegs, ohne den kein zweiter möglich gewesen wäre, finde ich es äußerst bemerkenswert wie groß der Bogen ist, den hundert Jahre später die deutsche paneuropäisch-imperialistisch-marxistische Linke nicht nur um diese Worte Rosa Luxemburgs, sondern um jede relevante Politik macht – zumindest wenn es darum geht irgendetwas besser und nicht immer schlimmer zu machen. Dabei ist erschütternd, wie sich die Probleme gleichen. Nur das zu Rosas Zeiten Sozialisten noch über Kartelle und Magnaten reden konnten, ohne das jemand von linksrechtshintenobenunten „Verschwörungstheorie“ dazwischen keifte, um dann dafür eifrig hechelnd bei einer Rosa-Luxemburg-Stiftung die Hand aufzuhalten.

„Die mittleren und die kleinbürgerlichen Schichten der Bourgeoisie stöhnen seit jeher über die Last des Militarismus, genauso wie sie über die Verwüstungen der freien Konkurrenz, über die wirtschaftlichen Krisen, über die Gewissenlosigkeit der Börsenspekulation, über den Terrorismus der Kartelle und Trusts stöhnen. Die Tyrannei der Trustmagnaten in Amerika hat sogar einen ganzen Aufruhr breiter Volksschichten und eine langwierige Aktion der Staatsgewalten gegen sie hervorgerufen. Erblickt etwa die Sozialdemokratie hierin die Anzeichen einer beginnenden Einschränkung der Trustentwicklung..?“

Nun, es gibt Leute, die reden davon sogar noch heute. Und reden. Und reden. Und wollen derweil immer noch gewählt werden, nicht nur in den virtuellen „Vereinigten Staaten von Europa“ – deren Tag nie kommt –  sondern auch in den Vereinigten Staaten von mindestens Amerika, die so gern einen kleinen Fernwärmeversorger von handzahm zusammengepferchten Vollidioten auf der anderen Seite des Atlantiks hätten.

„Ebenso wie wir stets den Pangermanismus, den Panslawismus, den Panamerikanismus als reaktionäre Ideen bekämpfen, ebenso haben wir mit der Idee des Paneuropäertums nicht das geringste zu schaffen.“

Rosa Luxemburg stand Utopien stets kritisch gegenüber. Auch und gerade in „Friedensutopien“, geschrieben drei Jahre vor dem 1. Weltkrieg, kommt dies zum Ausdruck. Rosa Luxemburg sah sich selbst stets als wissenschaftliche Materialistin und Marxistin.

Es ist nun an der Zeit zu fragen, wer derzeit der Utopie der „Vereinigten Staaten von Europa“ hinterher läuft und dafür bereit ist buchstäblich alle Mittel von willigen, verfügungsbereiten, pseudowissenschaftlichen Politikreligiösen heiligen zu lassen.

Es ist nun nicht etwa an der Zeit, Utopien, Träume oder/und Konzepte eines Sozialismus aufzugeben, sondern Verwirrung, Desorientierung und Mystizismus zu beenden und sich der Realität von Krieg, Kapitalismus und Imperialismus zu stellen, der gerade die einflussreichen und finanzstarken Kader / Akademiker der deutschen politischen Linken in der letzten Dekade aktiv oder passiv zugearbeitet haben.

Und es ist an der Zeit, die negative Utopie eines über die verfassungsmäßige „enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten“ hinaus gehenden Paneuropas, einer (nach Isaiah Berlin definierten) Idee „positiver Freiheit“, als Mißgeburt des Imperialismus auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.