Der Kapitalismus als condicio sine qua non

Volker Pispers hat es einmal treffend auf den Punkt gebracht: Der Kapitalismus habe den Sieg davon getragen, nur wohin, das wisse keiner so genau.Innerhalb des europäischen Staatenbundes hat sich in den letzten drei Jahrzehnten eine Politik etabliert, welche die soziale Gerechtigkeit den gesamtwirtschaftlichen Zielsetzungen nachordnet. Die Anbieter dieser Politik stellen ihre Glaubensgrundsätze und daraus resultierende Reformen als Sachzwang dar. Es wird behauptet, es gäbe keine Alternative. In linksliberalen Blättern wird manchmal von T.I.N.A.-Politik gesprochen: „There Is No Alternative“. Politik wird dadurch totalitär. Das Fatale dieser Politik ist jedoch vor allem die Entpolitisierung von Politik.

Der fortschreitende Rückzug aus staatlichen Aufgaben begründet sich auf die Annahme, Staaten – und somit letztlich Gesellschaften – seien wie Unternehmen zu führen. Um diese Erkenntnis umzusetzen, sei ein „gesellschaftlicher Wandel“ notwendig. Rückzug des Staates beinhaltet immer auch den Verlust demokratischer Kontrolle. Doch dieser Wandel umfasst neben der Entstaatlichung auch das Stagnieren der Löhne sowie den Rückbau der Sozialleistungen.

Eine der mächtigsten Förderinnen dieses Wandels ist die Bertelsmann-Stiftung. Ausgehend von ökonomischen Rankings und Modellen betreibt sie eine ideologische Politik der Unterwerfung auch des Privatesten unter das Primat der Wirtschaft. Dazu Harald Schumann im Tagesspiegel [1]:

Vorrang hat vielmehr die direkte Beeinflussung politischer Entscheidungen, und dies vor allem im Sinne des Stifters Reinhard Mohn. Gespeist aus seinem Erfolg als Europas Medien-Tycoon Nr. 1 entwickelte Mohn das missionarische Bedürfnis, die ganze Gesellschaft nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Indem „die Grundsätze unternehmerischer, leistungsgerechter Gestaltung in allen Lebensbereichen zur Anwendung gebracht werden“, soll das Regieren besser werden, stets nach dem Prinzip „so wenig Staat wie möglich“.

Kaum eine Verwaltungsbehörde oder politische Institution, die nicht mit der Stiftung zusammenarbeitet – und den vermeintlichen notwendigen Wandel propagiert. Selbst die umstrittenen „Hartz-Reformen“ gehen zum Gros auf Initiativen der Bertelsmann-Stiftung zurück. Mittlerweile ist die Bertelsmann-Tochter dabei, Erfahrungen aus England auf die Stadt Würzburg zu übertragen. [2] Der Bürger wird zur Kostenstelle:

Kapitalismus in Ämtern und Behörden: Der Bertelsmann-Konzern krempelt die Verwaltung der Stadt Würzburg radikal um. In Zukunft gelten hier die Gesetze der Privatwirtschaft, aus Bürgern sollen Kunden werden.

Im Bezirk East Riding im englischen Yorkshire hat das Unternehmen fast sämtliche kommunale Aufgaben übernommen. Arvato betreibt dort die Bürgerbüros, kassiert die Steuern und zahlt das Wohngeld an Bedürftige. Das Prinzip heißt Public Private Partnership (PPP): Öffentliche Institutionen gehen Bündnisse mit privaten Firmen ein, die dann dem Staat einen Teil seiner Arbeit abnehmen.

Zweifellos ist die kapitalistische Ordnung eine derart strenge Hierarchie, daß von demokratischen Verhältnissen selbst bei wohlmeinendster Betrachtungsweise nicht gesprochen werden kann. Problematisch wird es, wenn so getan wird, als gäbe es zur Symbiose von Kapitalismus und Demokratie keine Alternative. Schnell werden hier Denkverbote aufgestellt. Das Stellen der Systemfrage ist kein revolutionärer Akt. Dennoch löst es in Politik und Medien oft barsche Reaktionen hervor. Eine inhaltliche Auseinandersetzung wird nicht gesucht. Eine erste Einsicht jedoch liegt bereits vor: Der Kapitalismus ist ein fehlerhaftes System.

Ist diese Erkenntnisstufe erreicht, wird das Argument der mangelnden Alternative hinzugezogen. In gedanklicher Umkehrung wird nun der Kapitalismus zum einzigen System erhoben, Wirtschaft und Gesellschaft trotz der Fehler des Menschen an sich zu organisieren. Die Widersprüche des Kapitalismus treten regelmäßig hervor. Wirtschaftskrisen wechseln sich mit Phasen des vermeintlichen Aufschwungs ab. Tatsächlich hängen diese scheinbaren Gegensätze mit der verfügbaren Kaufkraft zusammen. Die in privaten Haushalten vorhandenen Geldmittel sind drastisch unterschiedlich verteilt.

Der Unterschied zwischen libertärem und sozialistischem Ansatz liegt nun in der Art der zu realisierenden Gerechtigkeit. Während hier eine Chancengerechtigkeit gefordert wird, setzt man sich dort für eine Ergebnisgerechtigkeit ein. Unterschiedlicher könnten die Antworten auf die soziale Frage kaum ausfallen. Wenn unterstellt wird, in diesem Lande hätte jeder aufgrund seines eigenen Geschickes die Möglichkeit, bestimmte gesellschaftliche Positionen (und somit Einkommen) zu erreichen, ist das schlichtweg irreführend. Es wird ausser Acht gelassen, daß Reichtum und Wohlstand nicht vordergründig in der persönlichen Arbeit des Kapitalisten begründet sind, sondern in Kapitaleinkünften, also etwa in Zinsertrag oder Spekulationsgewinnen. Die These, nach der Wohlstand relativ sei, ärmere Schichten (um nicht das böse Brandwort „Klassen“ zu verwenden) durch Sickereffekte vom Reichtum der Wohlhabenden profitieren würden, erweist sich als immer haltloser.

Die Entwicklung von Realeinkommen und Transferleistungen [3] sprechen eine deutlichen Sprache. Als nur scheinbar harmloses Indiz darf hier galten, daß beispielsweise erstmals nach 1945 die Höhe des Unterhaltsanspruches für Kinder herabgesetzt, bzw. der Selbstbehalt erhöht worden ist. Kurzum: die Löhne sinken, aber das Leben wird teurer. Nicht jeden in der Gesellschaft ficht dies an. Ruhendes Kapital vermehrt sich in den Händen weniger. Die Mittel sind jedoch dem Wirtschaftskreislauf entzogen, die allgemeine Kaufkraft sinkt weiter.

Der sozialistische Ansatz verfolgt die Aufhebung der persönlichen Abhängigkeit vom Verkauf der Arbeitskraft. Es wird argumentiert, daß diese Abhängigkeit die Freiheit des Einzelnen bedroht, bishin zur Inkaufnahme psychischer und physischer Folgen. Als Beispiele sind hier die sich vertiefende Kinderarmut und die Zunahme der Krankheitsanfälligkeit bei Arbeitslosen. In einer Gesellschaft, die sich vor allem über Arbeitskraft und Statussymbole definiert, entfremdet sich der Einzelne zunehmend von der individuellen (politischen) Verantwortung. Er wird nicht länger bereit sein, innerhalb der Gesellschaft die ihm zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Vor allem dann nicht, wenn diese zugedachte Rolle den eigenen Vorstellungen von der Entfaltung der Persönlichkeit diametral gegenübersteht. In der Theorie wird die Befreiung von derlei (und damit verbundener) Abhängigkeit als Voraussetzung für die Entfaltung des Geistes und der Persönlichkeit des Einzelnen gesehen.

Weiter oben wurde bereits über den Kapitalismus als angebliche condition humaine gesprochen. Das System des Eigennutzes soll der Natur des Menschen am besten entsprechenden. Der Fehler der real existierenden Liberalen [Albrecht, 2007] liegt nun in einem fatalen Zweckbündnis mit dem Konservatismus: die schlechten Eigenschaften der Menschen seien unveränderbar. Ulrich Schacht schreibt über die Vertreter eines neuen Konservatismus [4]:

Das Potential des Menschen zum Bösen hält er deshalb auch nicht primär für ein Produkt unzureichender gesellschaftlicher Zustände, sondern für eine anthropologische Konstante insofern, als er die Grunderkenntnis der Bibel, daß das Streben des Menschen „von Jugend auf böse“ sei, prinzipiell anerkennt, ja, allem politischen Wissen voraussetzt.

Diese Liberalen genügen sich selbst, sind nicht mehr an der Freiheit der Massen orientiert. Dabei weist Oscar Wilde [5] nach, daß erst der Sozialismus die Freiheit des Einzelnen ermögliche, weil er die Gesamtheit der Individuen von den sozioökonomischen Zwängen befreie – so würde der neue Mensch gemacht.

Im weiteren Verlauf der Diskussion wird von den Verfechtern der neuliberalen (kapitalistischen) Ordnung auf das Scheitern der real existierenden sozialistischen Systeme in der jüngeren Vergangenheit hingewiesen. Der Verzicht auf die Unterscheidung zwischen Realsozialismus und dem wissenschaftlichen bzw. utopischen Sozialismus findet sich heute lediglich in der Trivialliteratur. Das Scheitern des Realsozialismus hatte vielfältige Ursachen. Nicht zuletzt waren die Haushaltsdefizite aufgrund der Aufrüstung sowie die Menschenrechtsverletzungen in den realsozialistischen Staaten verantwortlich für den Zusammenbruch. Doch auch eine andere Voraussetzung wurde nicht erreicht: die Erziehung des neuen Menschen. Diese Aufgabe könnte nicht gelöst werden. Es mangelte schlicht an guten Vorbildern. Die verknöcherte Führung konnte in diesem Zusammenhang kaum Vorbild sein.

Das Ende des an menschlichen Fehlern gescheiterten Systems bedeutet keineswegs das Ende der Idee. Noch weniger aber bedeutet es, den Kapitalismus als das Ende der Geschichte betrachten oder gar akzeptieren zu müssen. Dazu schreibt Christoph Hein [6]:

Für alle jene, für die die sogenannten Staatshandelsländer oder sozialistischen Länder, für die der real existierende Sozialismus allein ein Terrorregime darstellt, und für jene, die in dem gleichen System die einzig tatsächliche Alternative zur alten Welt sahen und sehen, sind die heutigen Vorgänge am einfachsten zu fassen und zu werten. Sie können den Sieg des Kapitalismus konstatieren, freudig oder entsetzt, sie können ein Ende feststellen, das Ende eines fatalen und verbrecherischen Irrwegs oder das Ende einer sozialistischen Alternative. Und beide Seiten sprechen sogar von einem „Ende der Geschichte“.

Der sogenannte real existierende Sozialismus war, gemessen an den Vorstellungen, an den eigenen Maßstäben des Mythos Sozialismus, eine Karikatur, ein Verbrechen und ein Betrug. Schon die erklärte Einschränkung – realexistierend – war ein Eingeständnis dieses Betrugs, ein Offenbarungseid, der jeden Kritiker daran hindern sollte, die Realität am Entwurf und Anspruch zu messen. Der Mythos, die Vision – im Urchristentum wurzelnd und im 19. Jahrhundert vor allem von Marx in der Sprache der politischen Ökonomie formuliert – wurde mit diesem Betrug und Verbrechen nachhaltig geschädigt und vermutlich anhaltend.

Die Debatte über die Gesellschaft von morgen muss zwingend schon heute geführt werden. Ein starres Festhalten am Kapitalismus mag der Bedürfnisbefriedigung einer Oligarchie dienen, dem Einzelnen hingegen nutzt das nicht. Der Mensch wäre nicht er selbst, wenn er nicht in seinem Innersten – auch im Angesichte einer zunehmend aggressiver werdenden Kapitalisierung sämtlicher Lebensbereiche – nach der Vervollkommnung seiner Persönlichkeit streben würde. Der Bau am Tempel des Humanismus ist eine langwierige Aufgabe – sie geht über den Einzelnen weit hinaus.

Artikel mit Quellen:
http://www.mein-parteibuch.com/blog/2007/08/19/der-kapitalismus-als-condicio-sine-qua-non/

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