Lucentis – Auge um Auge

50 Euro oder 1.500 Euro? Das ist die Preisfrage beim Streit um die Behandlung von Patienten mit altersbedingter feuchter Makuladegeneration (AMD). Bei soviel Mehrkosten, sollte man annehmen, dass der Nutzen und die Wirksamkeit der teureren Behandlung erheblich grösser sei. Bei genauerer Betrachtung ist die Wahl zwischen Lucentis® oder Avastin® ein Milliardenpoker – und gibt einen Vorgeschmack darauf, wie die Pharmaindustrie zukünftig drohende Verluste durch Patentablauf bei ihren Umsatzbringern, den „Blockbustern“, ausgleichen will.Ausgangslage
Seit Anfang des Jahres ist in Europa der Lucentis® (Ranibizumab) zur Behandlung der AMD auf den Markt. Die Leser von Boocompany werden andere Gesundheitsprobleme haben, aber im Alter ist es eine häufige Erkrankung führt unbehandelt zu nicht reversiblen Sehverlusten bis zur Erblindung. Bisher konnten Schäden allenfalls für eine Weile gestoppt werden, eine wirkliche Hilfe gab es nicht. Weltweit ein Milliardenmarkt. Lucentis® würde auf ungeteilten Jubel stossen, wenn es nicht Avastin® gäbe. Ein Medikament zur Behandlung von Darmkrebs. Darmkrebs? Avastin® gehört wie Lucentis® zu den VEGF-Antagonisten, das sind gentechnisch hergestellte Wirkstoffe – monoklonale Antikörper – die die Gefässneubildung (Angiogenese) hemmen. Bei der AMD wachsen Blutgefäße in die Makula hinein, die zu Blutungen und Wucherungen führen und die Sehkraft schlechter werden lassen. Klingt wie geschaffen für einen Behandlungsversuch. Was auch erfolgreich ist. Dass Avastin® für die AMD-Behandlung nicht zugelassen ist (off-label-use), hat selbst die Krankenkassen nicht gestört. Es war die einzige Hoffnung für die Betroffenen.

Preislage
Da Avastin® für einen anderen Einsatz gedacht ist, ist die im Handel erhältliche Dosierung für die Injektion in den Glaskörper des Auges zu gross. Nach dem Teilen der Ampulle werden Kosten von rund 50 Euro fällig. Hingegen liegt der Preis von Lucentis® bei 1500 Euro für eine Dosis. Es sind mehrere Behandlungen nötig. Die Anzahl ist genau wie die Schätzung der potentieller Patienten von den jeweiligen Interessen bestimmt. Mit sechs im Jahr liegt man sicher nicht schlecht. Mit Lucentis® wären das allein in Deutschland etwa 700 Millionen Euro, aber es gibt auch Experten die Ausgaben von 7 Milliarden Euro prognostizieren. Für die Über-den-Daumenrechner: 1 Milliarde ist etwa 0,1%-Punkte beim Krankenkassenbeitrag.

Interessenslage
Bei soviel Konkurrenz müsste doch Lucentis® ganz schnell preiswerter und Avastin® auch für AMD zugelassen werden. Marktwirtschaft eben. Lucentis® wird in Europa von Novartis vertrieben, Avastin® von Roche. Hersteller beider Wirkstoffe ist Genentech. Genentech wiederum ist eine Tochter von Roche und Novartis hält 30% der Roche-Anteile. Vorbei mit der Marktwirtschaft. Die beiden rekombinante monoklonale Antikörper unterscheiden sich lediglich durch sechs Aminosäuren. Sieht so aus, als sollten Indikationen und Gewinne geschickt optimiert und aufgeteilt werden.

Lagebeurteilung
Weltweit wird Avastin® seit etwa 2 Jahren gegen AMD eingesetzt. Ausser von den beteiligten Unternehmen wird die Sicherheit und Wirksamkeit kaum in Frage gestellt. Selbst die bei Novartis auf der Honorarliste stehenden Experten der Fachverbände räumen dies in einer Stellungnahme ein.

„Wegen des identischen Wirkprinzips von Bevacizumab stellt, trotz des Status einer off label Anwendung und dem Fehlen von Phase-III-Studienergebnissen zur Wirksamkeit und Sicherheit, die intravitreale Injektion von Bevacizumab eine rationale und inzwischen durch zahlreiche Berichte untermauerte Behandlungsalternative dar.“

Es laufen mehrere unabhängige Studien zum Einsatz von Avastin® bei AMD, weitere sind in geplant. Novartis-Vorstandvorsitzende Thomas Ebeling hat schon mal im Voraus in einem Interview die Qualität dieser Studien bezweifelt, da Novartis nicht beteiligt wäre.

Lageveränderung
Novartis hält dagegen. Mitte September startete die FTD eine Kampagne unter der Überschrift „Kassen drängen zur Billigtherapie“ und einem Leitartikel, der „Medikamente – Billiges Abenteuer titelte. Andere Medien übernahmen dies. Auch der Focus, der sonst eher unter Gesundheits „Wellness“ versteht, zeigte sich besorgt: Billigtherapie gegen Altersblindheit. Initiator war der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband, der sich bei den „praktischen Hinweisen“ auf den von Novartis gesponserten Verband „pro retina“ stützt.

Auch in anderen Ländern versucht Novartis den Umsatz zu retten. In Österreich argumentiert der Novartis-Chef mit einer Kosten-Nutzen-Studie eines Instituts, in dem er selbst als Kuratoriumsmitglied sitzt. In den USA wird die Lieferung von Avastin® an Augenärzte gestoppt. In den Hochpreisländern Deutschland und der Schweiz will sich Novartis sogar an den Kosten der Behandlung beteiligen, um den Preis zu retten und die Verhandlungen in anderen Ländern nicht zu gefährden.

Politische Lage
Avastin® und Lucentis® war Thema bei einer Sitzung des Gesundheistausschusses des Bundestags am 10. Oktober. Boocompany liegt die Vorlage mit dem „Bericht der Bundesregierung zur Anwendung des Arzneimittels Avastin für die Behandlung bestimmter Augenerkrankungen“ vor. Hier zum download.. Dem ist zu entnehmen, dass sich die bayerische Sozialministerin Christa Stewens schon im Dezember um die Erstattung für Lucentis gesorgt hat. Ansonsten ist der Bericht ein Desaster für Novartis. Die Volksvertreter müssen sich fragen, warum es eigentlich Lucentis® gibt. Die pharmaindustrie-freundliche Ärzte-Zeitung rang sich ein „Off-Label-Use bleibt höchst unsicher“ ab – ohne zu erläutern, für wen.

Rechtslage
Mit einem Wort: Unübersichtlich. Einige Krankenkassen haben Versorgungsverträge über die Avastin-Behandlung mit Augenärzten abgeschlossen – mit Billigung des Bundesversicherungsamtes. Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz von Novartis dagegen sind von den Gerichten abschlägig beurteilt worden. An einer Zulassungserweiterung hat Roche als Inhaber von Genentech kein Interesse. Ein Ausweg böte der zulassungübergreifende Einsatz, der die Erstattung von Medikamenten auch in nicht-zugelassenen Indikationen ermöglicht, wenn die Bewertungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis dies nahelegt. Die Mitwirkung des Herstellers an der Entscheidung ist eine „Soll“-Bestimmung, kein Muss. Das lässt Raum für die Einbeziehung sonstiger Gesichtspunkte. Dieser Möglichkeit existiert seit 2006 im SGB V. Wäre der erste Fall in dem diese Bestimmung zur Anwendung käme.

Schlusslage
Im Artikel der FTD wird ein Verantwortlicher im NRW-Sozialministerium mit den Worten zitiert:
„Das wäre der Dammbruch für ähnliche Fälle, in denen das Kostenargument über die Sicherheitsfrage gestellt würde.“
Mal abgesehen davon, dass die Sicherheitslage auch im Bericht der Bundesregierung anders beurteilt wird, ist „Dammbruch“ der treffende Ausdruck. Falls Novartis, Roche und Genentech mit ihrer Strategie Erfolg haben, wäre dies der Dammbruch der Krankenversicherungskassen. Wenn der innovative Charakter bei der Markteinführung eines neuen Präparats vorwiegend in der juristisch-ökonomischen Cleverness des Herstellers liegt, muss angesichts der Aufbringung und Verteilung zunehmend knapperer Mittel im Gesundheitswesen die Frage nach der Legitimität entsprechend generierter Gewinne gestellt werden.

Quelle:
http://boocompany.com/index.cfm/content/story/id/15188/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert