Artikel von Thomas Marschner, 15-08-2008
In Berlin geht zurzeit wieder die Angst um – ALG2 Empfänger könnten ihre Wohnung verlieren!
Seit einigen Monaten steht die Regelung der Wohnungskosten bei ALG2 Bezug, die als Ausführungsvorschriften zur Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft, kurz AV Wohnen genannt erheblich unter politischem Druck.
Zustande gekommen war diese Regelung zu Beginn des Rot-Roten Senats in Berlin, als der Wirtschaftssenator mit der Sozialsenatorin einen Kompromiss schloss, mit dem eine Allgemeinverbindliche Regelung zur Kostenübernahme der Unterkunftskosten bei Hartz IV Bezug vereinbart wurde. Ein Jahr später wurde diese Regelung schon verschlechtert, um die Ausgaben im Bereich ALG2 zu verringern. Insgesamt bildet aber die AV Wohnen mit ihren Regelungsinhalten die einzige Vereinbarung dieser Art in der Bundesrepublik.
Viele Bundespolitiker, der Landesrechungshof Berlin und auch der Bundesrechnungshof üben heftige Kritik an dieser Regelung. Sie sei zu großzügig und zu kostspielig, sie würde die falschen Impulse setzen. Die Kritik unterstellt, dass durch die Regelung dem Steuerzahler ein finanzieller Schaden von etwa 30 Millionen Euro entstehen würde.
Was ist dran an der Kritik?
Wahr ist, dass die Kostenübernahme durch der Bund, Länder und Kommunen für Hartz IV Bezieher für Kosten der Unterkunft müssen tatsächlich steigen. Verursacht wird dies durch steigende Kosten der Müllabfuhr, Abwasser oder auch Instandhaltungskosten (Nebenkosten), vor allem aber wegen der stetig steigenden Heizkosten. Die durchschnittlichen Kosten für die Unterkunft einer Bedarfsgemeinschaft betragen im April 394,80 Euro.
Als Grundlage der Kritik wird der Bericht des Landesrechnungshofes zugrunde gelegt, der an 277 geprüften Fällen eine Prognose für die insgesamt fast 330.000 ALG2 Empfänger in Berlin stellt.
Die Kritik richtet sich hauptsächlich gegen die in der AV Wohnen vereinbarten Kostenübernahme auch bei überhöhten Kosten von einem Jahr (als Bestandsschutz).
Auch die zu lasche Überprüfung von Mietverträgen, der Prüfung tatsächlich angemessener Wohnkosten (Nebenkosten etc.), Mieterhöhungen etc. wird beanstandet.
Es gibt im Bundesgebiet eine überwiegende Mehrheit, die keine Regelung nach Art der AV Wohnen will, obwohl der Bundesrechnungshof gerade so eine Regelung fordert (als verbindliche Aussage). Im Bund scheint man sich ziemlich einig darüber zu sein, bei den ALG2 Empfängern weiterhin die „Daumenschrauben“ anzuziehen.
Was ergibt die realistische Betrachtung?
Wenn man Aussagen der an der Umsetzung von ALG2 Regelungen direkt Beteiligten politisch Verantwortlichen hört, könnte man glauben, dass ALG2 Empfänger geradezu in Palästen oder jedenfalls überwiegend zu groß und zu teuer wohnen. Es wird unterstellt, dass sie sich nicht für die Kosten interessieren, wobei dies auch für Heizkosten gilt. Aber wie ist die Realität wirklich?
Nach Angaben von TOPOS Stadtforschung (im Auftrag des Bezirksamtes von Friedrichshain / Kreuzberg) und der Berliner Mietergemeinschaft haben sich in den letzten Jahren teilweise erhebliche Veränderungen im Spektrum des Mietwohnungsangebotes ergeben.
Seit 10 Jahren ist kaum neuer Wohnraum hinzugekommen und überwiegend besteht der Berliner Wohnungsmarkt aus Altbauten, die häufig durch Verbesserung der Ausstattung (infolge teurer Sanierungen) aufgewertet bzw. verteuert wurden. Das Angebot an hochwertigem Wohnraum ist etwas mehr geworden. Ebenso das Angebot an Reihen- oder Einfamilienhäusern.
Einfache Wohnlagen bzw. Wohnausstattungen verschwinden zunehmend, weil untere Preissegmente zunehmend zu mittleren werden. Mietsteigerungen in den Preissegmenten bzw. in den Wohnsegmenten, die üblicherweise durch Singles nachgefragt werden, führen zu Verteuerung und Verknappung des Wohnungsangebots in diesem Bereich. Bei Ein- bis Zweizimmer Wohnungen ist eine deutliche Verknappung bei gleichzeitigem deutlichen Anstieg der Mietpreise zu beobachten. Diese Preissegmente sind es überwiegend auch, die auch durch Arbeitslose angemietet bzw. nachgefragt werden.
Bereits heute gelten etwa 40% der durch ALG2 Bezieher angemieteten Wohnungen in ihrer Miethöhe, Ausstattung als unangemessen, gemäß den Kriterien der AV Wohnen.
Infolge der Preispolitik (Mietspiegel) bzw. der Entwicklung am Wohnungsmarkt ist seit einigen Jahren feststellbar, dass Wohngebiete großflächig als „sozial bereinigt“ bezeichnet werden können. In diesem Wohngebieten wohnen entweder keine oder nur noch wenige ALG2 Empfänger. Die soziale Durchmischung der Wohngebiete wird einseitig durchbrochen.
Steigende Mieten und die Auswahl der Mieter durch die Wohnungseigentümer benachteiligen Sozialabhängige (und Migranten) in der Wahl ihres Wohnortes massiv. Sie gelten als nicht kreditwürdig und sie werden als Wettbewerbsnachteil für neue Mietkunden betrachtet, weil sie Problembehaftet sind. Welcher Gutbetuchte will unter Armen wohnen?
Was würde ohne die AV Wohnen geschehen?
Unabhängig der Kritik an der AV Wohnen, stimmen zumindest in Berlin die überwiegende Zahl der im Abgeordnetenhaus vertretenen Politiker darin überein, dass die AV Wohnen bisher Massenumzüge in der Stadt verhindert hat. Die Parteien als Machtlager positionieren sich anders.
Wenn die AV Wohnen durch eine „schlechtere“ Lösung (Absenkung der Miethöchstsätze) ersetzt würde oder ganz wegfiele, müssten nach Studien von TOPOS insgesamt etwa 50 bis 70.tausend Berliner umziehen. Zwar haben nach deren eigenen Schätzungen inzwischen etwa 15. bis 20.000 Berliner ihre Wohnkosten seit 2005 abgesenkt (durch Umzug oder Zahlung aus der Regelleistung), dennoch müssten weitere 30.tausende ihre Wohnung wechseln müssen.
Soziale Verwerfungen in den Bezirken würden damit verschärft und in die Außenbezirke der Stadt verlagert. Nicht mehr „Soziale Bereinigung“ wäre das Kernthema, sondern „Gettoisierung“.
Der Wohnungsmarkt Berlin hat für eine so große Anzahl von „Neumietern“ keine Angebote.
Wie aktuelle Referentenentwürfe belegen geht die Einsparungswelle in den Sozialsystemen unbeeindruckt weiter. Auch im Bereich Kinderarmut werden nur „Scheinkorrekturen“ durchgeführt.
Welche sozialen Anforderungen bestehen?
Die Privatisierung des kommunalen Wohnungseigentums führt dazu, dass immer weniger staatliche Lenkung direkt erfolgen kann. Privatisierung führt überall zur Verteuerung und verschlechtert das Wohnungsangebot bei billigem Wohnraum. Auswahlkriterien führen zur Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen.
Staatliche Lenkung und Steuerung des Wohnungsangebotes und der Preise läuft klar entgegen privatwirtschaftlicher Interessen der Wohneigentümer, zu denen häufig auch Politiker gehören.
Die Sozialgesetzgebung berücksichtigt nicht die tatsächliche Entwicklung unserer Gesellschaft und spiegelt die Grundlagen internationaler Vereinbarungen kaum wieder.
Die Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze von ALG2 oder Streitigkeiten bei der Übernahme von Kosten der Unterkunft vor den Sozialgerichten belegen dies eindrucksvoll. Die Sozialgerichte sind häufig die letzte Chance für Betroffene, sich gegen Willkür und Unmenschlichkeit von Behörden und deren Sachbearbeiter durchzusetzen.
Sozialgerichte verkommen Zusehens zur Korrekturinstanz mangelhaft definierter Gesetze und Verordnungen. Dahinter mag manch einer keinen Zufall sondern Absicht erkennen.
Eines der reichsten Länder dieser Erde hält seine Armen für nicht finanzierbar und betreibt einen großen Drangsalierungsapparat, um diese in menschenwürdige, schlecht bezahlte Arbeit zu zwingen, ohne das dies dazu führt, dass ihre Armut beendet würde. In Deutschland erhalten immer mehr Menschen zusätzlich zu einer Vollzeittätigkeit, Transferleistungen auf ihre viel zu geringe Löhne. Vor allem Familien sind auf staatliche Zuwendungen angewiesen.
Bundespolitiker halten den Sozialstaat „alter Prägung“ nicht mehr für finanzierbar und sind der Meinung, auch heutige Leistungen zielen viel zu weit. Da darf es nicht wundern, dass sie als Gesetzgeber in der Sozialgesetzgebung auch einfachste Wohnlagen als zumutbar für Empfänger staatlicher Wohlfahrtsleistungen halten, unabhängig vom tatsächlichen Angebot am Wohnungsmarkt oder den durchschnittlichen Lebensniveau.
Welche Verfassungsrechtliche Verpflichtung hat die Politik?
Als Verursacher der heutigen sozialen Probleme muß die Politik zumindest mitverantwortlich gemacht werden, denn sie schafft gesetzliche Grundlagen, die sich auf die Lebensumstände der Menschen entscheidend auswirken. Zwar ist sie nicht für die Erwerbssituation der Menschen verantwortlich, aber sie bestimmt der Arbeitsbedingungen maßgeblich mit.
Bisher führt die ungenaue Definition über das sozialstaatliche Leistungsprinzip dazu, sich aus der politischen Verantwortung herauszuziehen und Menschen, die die Folgen unternehmerischer Entscheidungen spüren, mehr oder weniger Allein damit zu lassen.
Was geschieht wenn „Berufspolitiker“, die abgehoben von der Realität solche Bedingungen schaffen, die sich gegen das Volk richten, ist die Folge nur deren Abwahl?
Unter dem Eindruck der Entwicklungen unserer Gesellschaft muß an der Ernsthaftigkeit des Amtseides deutscher Politiker, wenn sie vereidigt werden gezweifelt werden, weil sie schwören
>>dass sie ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, um dessen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm abwenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen wollen, ihre Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werden<<
Wenn ihre politischen Entscheidungen sich gegen die bestehende Sozialordnung, das Grundgesetz und andere für unsere Gesellschaft garantierte Grundrechte richten, ist die Frage, warum diese Politiker nicht für Fehler in irgendeiner Weise haften nicht mehr nur rethorisch.
Denn für gewöhnlich ist es die Gesellschaft, die diese Fehler aushalten muß.
Dabei geht es nicht um inhaltlichen Fehler, die jedem von uns passieren, sondern darum, dass sie wissentlich und willentlich Vorraussetzungen schaffen, die Teile unserer Bevölkerung sozial ausgegrenzt, wirtschaftlich benachteiligt, sie in ihrer Lebensgestaltung massiv eingeschränkt und letztendlich ihrer Gesundheit beraubt und mit ihrem Morbilitätsfaktor zu rechnen scheint.
Alles Zulasten einer Allgemeinheit, die dafür zahlen soll, obwohl ihre Lebensumstände ständig verschlechtert werden, fern jeder Ethischer oder Moralischer Verantwortung.
Welche Lösungsansätze bieten Regelungen wie die AV Wohnen?
Die AV Wohnen muß erhalten bleiben und soll weiterentwickelt werden, weil viele Details gar nicht oder nur ungenügend geregelt sind. Dies belegen viele Sozialgerichtsprozesse und deren Urteile.
Mit der AV Wohnen schafft die Politik ein wenig mehr Sicherheit und Berechenbarkeit für ALG2 Bezieher und Massenumzüge hat sie bisher verhindert. Die AV Wohnen wirkt steuernd auf die Mietpreise, wobei kritisch zu bewerten ist, das teilweise als Subvention in diesem Bereich wirkt.
Die AV Wohnen abzuschaffen oder verschlechternde Regelungen einzuziehen hätte eine Vielzahl sozial negativer Folgen für die gesamte Stadt.
Wenn keine Gettos entstehen sollen, muß soziale Durchmischung in Wohngebieten besehen.
Die Privatwirtschaft hat kein Interesse an wirtschaftlich oder sozial prekären Mietern
Statt Privatisierung kommunalen Wohnungseigentum sollte mehr sozialer Wohnungsbau bestehen oder neu geschaffen werden, weil dort die Mieten günstiger und reglementiert sind.
Öffentliche Wohnungseigentümer haben soziale Auswahlkriterien für zukünftige Mieter, weil sie durch ihre gesellschaftliche Aufgabe dazu verpflichtet sind, die Privatwirtschaft handelt anders.
Wenn das Wohnungsangebot vergrößert werden würde, könnten die durchschnittlichen Mietkosten sinken; Weil zwischen Angebot und Nachfrage kein Mangel bestünde.
Bessere Regelungen sollen Mietwucher oder stetige Mietsteigerungen unterbinden.
Die bestehenden Mietspiegel sind nicht als Grundlage zur Festsetzung ortsüblicher Mieten geeignet, sie müssen weiterentwickelt und verbessert werden.
Das Recht auf Wohnen sollte als ein Grundrecht unverhandelbar garantiert werden.