Der totale Krieg hat tausend Fronten; in so einem Krieg sind alle an der Front, auch wenn sie niemals in einem Schützengraben liegen oder von ihrer Waffe Gebrauch machen.
Wenn ich mich gedanklich in diese Zeit zurückversetze, dann realisiere ich mit gewissem Erstaunen, dass ich den Anfang des Krieges besser im Gedächtnis habe als das Ende. Sein Beginn hat sich mir zeitlich und örtlich genau eingeprägt. Ich kann mir das Bild davon leicht ins Gedächtnis rufen, weil es all seine Farben, seine emotionale Intensität behalten hat. Es beginnt damit, dass ich im azurblauen Himmel des zu Ende gehenden Sommers (und der Himmel im September 1939 war wundersam blau und wolkenlos), ganz weit oben, plötzlich zwölf funkelnde silberne Punkte bemerke. Die helle, erhabene Himmelskuppel wird gänzlich erfüllt von einem dumpfen, monotonen Knattern, wie ich es noch nie zuvor gehört habe. Ich bin sieben Jahre alt, ich stehe in einer Wiese im Osten Polens und ich starre auf die Punkte, die sich kaum über den Himmel bewegen. Plötzlich gibt es einen schrecklichen Knall in der Nähe, am Waldesrand. Ich höre, wie Bomben explodieren. Erst viel später erfahre ich, dass es Bomben sind, denn zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass es so etwas wie Bomben gibt; allein die Vorstellung ist mir fremd, einem Kind aus der tiefsten Provinz, das ja noch nie Radio gehört hatte oder ins Kino gegangen war, das nicht Lesen oder Schreiben konnte, das noch nie von Kriegen und tödlichen Waffen gehört hatte. Ich sehe, wie gigantische Fontänen aus Erde himmelwärts sprühen. Ich will diesem außergewöhnlichen, mich betäubenden und faszinierenden Spektakel entgegenlaufen, denn dadurch dass ich bisher noch keine Erfahrung mit Kriegen habe, ist es mir nicht möglich, diese glänzenden silbernen Flugzeuge, das Donnern der Bomben, die bis zu den Baumwipfeln aufschießenden Erdfahnen und die unmittelbare Todesgefahr als eine einzige Ursachen- und Wirkungskette miteinander zu verbinden. Ich fange an zu laufen, auf den Wald und die fallenden und explodierenden Bomben zu, aber eine Hand packt mich von hinten und wirft mich zu Boden. ‚Bleib still liegen!‘ Ich höre die zitternde Stimme meiner Mutter. ‚Beweg dich nicht!‘ Und ich erinnere mich daran, wie meine Mutter, als sie mich dicht an sie drückt, etwas sagt, was ich nicht verstehe und worüber ich sie später fragen möchte. Sie sagt, ‚Kind, dort drüben ist der Tod.‘
Es ist Nacht und ich bin schläfrig, aber ich darf nicht schlafen; wir müssen laufen, wir müssen entkommen. Wohin, das weiß ich nicht. Aber ich verstehe, dass Flucht plötzlich eine Art höherer Notwendigkeit geworden ist, eine neue Lebensform, denn alle fliehen. Alle Fernstraßen, Landstraßen und Feldwege sind voll von Wagen, Fuhrwerken und Fahrrädern; voll von Bündeln, Koffern, Taschen und Eimern; voll von verängstigten und hilflos umherwandernden Menschen. Einige machen sich auf den Weg in Richtung Osten, andere nach Westen, wieder andere nach Norden und nach Süden. Sie laufen in alle Richtungen, drehen sich im Kreis, brechen vor Erschöpfung zusammen, schlafen überall, wo es geht und dann, nachdem sie einen Moment verschnauft haben, bringen sie ihre letzten Kräfte auf, um ihre verwirrte und endlose Reise wieder zu beginnen.
Ich soll meine kleine Schwester fest an der Hand halten. Meine Mutter warnt, wir dürfen nicht verloren gehen. Aber ich spüre, ohne dass sie es sagt, dass die Welt plötzlich gefährlich, fremd und böse geworden ist und dass man auf der Hut sein muß. Ich gehe mit meiner Schwester neben dem Pferdegespann; es ist ein einfacher, mit Heu zugedeckter Holzwagen. Ganz oben auf dem Heu, auf einem Leinenlaken, liegt mein Großvater. Er ist gelähmt und kann sich nicht bewegen. Wenn ein Luftangriff kommt, dann gerät die Menge, die sich bis dahin geduldig vorwärts schleppte, in Panik und taucht zum Schutz in die Straßengräben ab, versteckt sich in den Büschen, fällt zu Boden in den Kartoffeläckern. Auf der leeren, verlassenen Straße bleibt nur der Wagen und auf ihm mein Großvater. Er sieht die Flugzeuge auf ihn zukommen, sieht sie jäh absteigen, sieht sie auf den verlassenen Wagen zielen, sieht sie die Bomben abfeuern, hört das Donnern der Flieger über seinem Kopf. Wenn die Flugzeuge verschwinden, kehren wir zum Wagen zurück und meine Mutter tupft das schwitzende Gesicht meines Großvaters ab. Manchmal finden am Tag mehrere Luftangriffe statt. Jedesmal danach rinnt der Schweiß über das erschöpfte Gesicht meines Großvaters.
Die Landschaft um uns wird immer trostloser. Fern am Horizont sieht man Rauch, wir passieren leere Siedlungen, einsame, ausgebrannte Häuser. Wir gehen an Schlachtfeldern, die von verlassenem Kriegsgerät übersät sind, an ausgebombten Bahnhöfen, an umgestürzten Wagen vorbei. Es riecht nach Schießpulver, nach Verbranntem, nach verrottendem Fleisch. Wir stoßen überall auf tote Pferde. Das Pferd – ein großes, wehrloses Tier – weiß nicht, wie es sich verstecken kann; während eines Bombenhagels steht es stockstill, den Tod erwartend. Tote Pferde liegen auf den Straßen, in den Gräben, etwas weiter draußen auf den Äckern. Sie liegen dort mit ihren Beinen in die Luft gestreckt, als ob sie ihre Hufe der Welt entgegen schütteln. Nirgendwo sehe ich tote Menschen; sie werden schnell beerdigt. Nur die Pferde – Rappen, Braune, Schecken, Füchse – liegen, wo sie gestanden haben, als wäre dies kein Krieg der Menschen, sondern der Pferde, als wären es sie, die untereinander eine Schlacht bis zum Tode ausgetragen hätten und seine einzigen Opfer wären.
Ein kalter und harter Winter bricht an. In schwierigen Umständen spürt man die Kälte viel mehr, der Frost ist viel durchdringender. Der Winter ist manchmal einfach nur eine Jahreszeit, ein Warten auf den Frühling; aber jetzt ist der Winter ein Desaster, eine Katastrophe. Dieser erste Kriegswinter ist wirklich bitter. In unserer Wohnung sind die Öfen kalt und die Wände von dickem weißen Reif bedeckt. Es gibt nichts zu verbrennen, es gibt keinen Brennstoff zu kaufen und es ist zu gefährlich, welchen zu stehlen. Wenn man beim Klauen von Kohle oder Holz erwischt wird, bedeutet das den Tod. Ein Menschenleben ist jetzt sehr wenig wert, nicht mehr als ein Brocken Kohle oder ein Stück Anmachholz. Wir haben nichts zu essen. Mutter steht stundenlang bewegungslos am Fenster und starrt hinaus. In vielen Fenstern kann man Menschen sehen, die so auf die Straße blicken, als ob sie auf etwas zählten, auf etwas warteten. Ich treibe mich mit einer Gruppe von Jungen in den Hinterhöfen herum, weder spielen wir, noch jagen wir gezielt nach etwas Essbarem; das würde erst Hoffnung und dann Enttäuschung bedeuten. Manchmal weht der Geruch von warmer Suppe durch eine Tür. Wenn das passiert, dann steckt einer meiner Freunde, Waldek, seine Nase in die Spalte und beginnt, hastig den Geruch einzuatmen und entzückt seinen Bauch zu reiben, als säße er an einem reich gedeckten Tisch. Einen Moment später wird er wieder traurig und antriebslos.
Eines Tages hören wir, dass in einem Laden nahe dem Platz Süßigkeiten ausgegeben werden. Wir stellen uns sofort an – eine Kette von erfrorenen und hungrigen Kindern. Es ist schon nachmittags und wird langsam dunkel. Wir stehen den ganzen Abend bei eisiger Kälte, dann die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag. Wir stehen eng zusammengedrängt, umarmen uns gegenseitig für ein bisschen Wärme, damit wir nicht frieren. Endlich öffnet der Laden, aber statt Süßigkeiten bekommt jeder von uns eine leere Metalldose, die früher einmal Fruchtbonbons enthielt. Kraftlos, steif vor Kälte und doch glücklich in diesem Moment, trage ich meine Beute nach Hause. Sie ist wertvoll, weil innen an der Dose an den Wänden noch ein Rest Zucker ist. Meine Mutter erhitzt etwas Wasser und gießt es in die Dose, somit haben wir ein heißes, leicht süßes Getränk: unsere einzige Nahrung an diesem Tag.
Dann sind wir wieder unterwegs, von unserer Stadt Pinsk machen wir uns auf in Richtung Westen, weil meine Mutter davon gehört hat, dass unser Vater in einem Dorf außerhalb von Warschau wohnt. Er wurde an der Front gefangen, entkam und unterrichtet nun, so glauben wir, die Kinder in einer kleinen Dorfschule. Wenn diejenigen von uns, die während des Krieges Kinder waren, sich diese Zeit in Erinnerung rufen und ‚Vater‘ oder ‚Mutter‘ sagen, vergessen wir, weil diese Worte so feierlich klingen, dass unsere Mütter junge Frauen und unsere Väter junge Männer waren und dass sie einander sehr begehrten, einander furchtbar vermissten und zusammen sein wollten. So verkaufte meine Mutter alles, was sie im Haus hatte, mietete einen Wagen und wir machten uns auf, um unseren Vater zu suchen. Wir fanden ihn zufällig. Wir reiten durch das Dorf Sierakow, als meine Mutter plötzlich einem Mann, der gerade die Straße überquert, zuruft: ‚Dziudek!‘ Von diesem Tag an wohnen wir zusammen in einem winzigen Zimmer ohne Wasser oder Strom. Wenn es dunkel wird, gehen wir ins Bett, weil wir nicht einmal Kerzen haben. Der Hunger ist uns von Pinsk bis hierher gefolgt. Ich suche unaufhörlich nach etwas Essbarem – eine Kruste Brot, eine Karotte, alles. Eines Tages sagt Vater, weil er keinen anderen Ausweg wusste, zu seiner Klasse: ‚Kinder, jeder, der morgen in die Schule kommen will, muß eine Kartoffel mitbringen.‘ Vater wusste nichts vom Handeln und Geschäftemachen und bekam kein Gehalt, also entschied er, dass er nur eine Wahl hatte: seine Schüler um einige Kartoffeln zu bitten.. Die halbe Klasse erscheint am nächsten Tag nicht. Einige Kinder bringen eine halbe Kartoffel mit, andere ein Viertel. Eine ganze Kartoffel ist ein ungeheuer großer Schatz.
Neben meinem Dorf liegt ein Wald und in diesem Wald, nahe einer Siedlung, die Palmira heißt, ist eine Lichtung. In dieser Lichtung führen SS-Männer Hinrichtungen durch. Zunächst schießen sie nachts und wir werden von dem dumpfen, wiederholten Knall der Schüsse aufgeweckt. Später machen sie es auch am Tag. Sie transportieren die Verurteilten in geschlossenen, dunkelgrünen Lastwagen, wobei das Exekutionskommando das Schlusslicht des Konvois in einem Lastwagen ohne Abdeckung bildet .
Die Mitglieder des Hinrichtungskommandos tragen immer lange Mäntel, als wäre ein langer Mantel mit Taillengürtel eine unverzichtbare Requisite im Ritual des Mordens. Wenn so ein Konvoi passiert, beobachten wir Kinder vom Dorf ihn von unseren Verstecken in den Büschen am Straßenrand aus. Verdeckt von den Bäumen wird in einem Moment etwas beginnen, dessen Zeugen zu sein uns verboten ist. Ich spüre, wie ein kalter Schauder über meinen Rücken läuft – ich zittere. Wir warten auf den Lärm der Salven. Da ist er. Dann kommen die einzelnen Schüsse. Nach einer Weile kehrt der Konvoi nach Warschau zurück. Die SS-Männer bilder wieder das Schlusslicht. Sie rauchen Zigaretten und reden.
Nachts kommen die Partisanen. Sie tauchen plötzlich auf, ihre Gesichter dicht an die Fenster gedrückt. Ich starre sie an als sie am Tisch sitzen, immer erregt von demselben Gedanken: dass sie heute Nacht noch sterben könnten, dass sie vom Tod gezeichnet sind. Natürlich könnten wir alle sterben, aber sie nehmen diese Möglichkeit bereitwillig an, stellen sich ihr direkt. Sie kommen in einer regnerischen Herbstnacht und reden mit meiner Mutter im Flüsterton (ich habe meinen Vater seit einem Monat nicht gesehen und werde ihn bis zum Ende des Krieges nicht wiedersehen; er muß sich versteckt halten). Wir ziehen uns schnell an und gehen: in der Nähe werden Menschen zusammengetrieben und ganze Dörfer werden in die Lager deportiert. Wir fliehen nach Warschau, zu einem zugewiesenen Versteck. Das erste Mal sehe ich eine große Stadt: Trambahnen, mehrstöckige Gebäude, große Warenhäuser. Dann sind wir wieder auf dem Land, in einem neuen Dorf, dieses Mal am jenseitigen Ufer der Weichsel. Ich kann mich nicht daran erinnern, warum wir dorthin gingen. Ich erinnere mich nur daran, dass ich wieder einmal neben einem Pferdegespann ging und höre, wie der Sand der warmen Landstraße durch die hölzernen Speichen der Räder rieselt.
Den ganzen Krieg hindurch träume ich von Schuhen. Schuhe zu haben. Aber wie? Was muß man tun, um ein Paar Schuhe zu bekommen? Im Sommer gehe ich barfuß und die Haut meiner Fußsohlen ist wie Leder. Am Anfang des Kriegs machte mein Vater mir ein Paar Schuhe aus Filz, er ist aber kein Schuhmacher und die Schuhe sehen komisch aus; außerdem bin ich gewachsen und sie sind mir schon jetzt zu eng. Ich fantasiere über ein Paar großer, robuster, mit Nägeln beschlagener Schuhe, die einen charakteristischen Laut erzeugen, wenn man in ihnen auf dem Plaster geht.. Hochschaftige Stiefel waren damals in Mode; stundenlang konnte ich ein gutaussehendes Paar anstarren. Ich liebte den Glanz des Leders, liebte das quietschende Geräusch, das sie machten. Bei meinem Traum von Schuhen ging es aber um mehr als Schönheit oder Komfort. Ein guter, robuster Schuh war ein Symbol von Prestige und Macht, ein Symbol von Autorität; ein minderwertiger Schuh war ein Zeichen von Erniedrigung, das Brandmal eines Mannes, dem die ganze Würde genommen und der zu einer unmenschlichen Existenz verdammt wurde. Aber in jenen Jahren schritten all die Schuhe, die ich begehrte, gleichgültig an mir vorbei. Ich blieb zurück in meinen groben Holzclogs mit ihrer Oberseite aus schwarzem Segeltuch, auf die ich manchmal eine derbe Salbe auftrug, in dem erfolglosen Versuch, ihnen ein klein wenig Glanz zu verleihen.
Gegen Ende des Krieges wurde ich ein Ministrant. Mein Priester ist der Geistliche eines Feldlazaretts des polnischen Militärs. Reihen getarnter Zelte standen versteckt in einem Fichtenwald am linken Ufer der Weichsel. Während des Warschauer Aufstands, bevor die russische Armee im Januar 1945 in die Stadt einmarschiert, herrscht hier ein aufreibendes Gewühl. Krankenwagen rasen her von den nahegelegenen Frontlinien, an denen es grollt und raucht. Sie bringen die oft bewusstlosen Verwundeten, die hastig und unordentlich übereinander geschichtet sind, als wären sie alle Getreidesäcke (nur dass diese Säcke bluttriefend sind). Die Ärzte, die vor Erschöpfung selbst fast umfallen, nehmen die Verwundeten heraus, legen sie auf das Gras und schütten einen guten Schuss kalten Wassers über sie. Diejenigen, die ein Lebenzeichen zeigen, werden in das Operationszelt getragen (vor diesem Zelt befindet sich stets ein frischer Haufen amputierter Arme und Beine). Diejenigen, die sich nicht mehr bewegen, werden zu einem großen Grab hinter dem Lazarett gebracht. Dort, über diesem gähnenden Grab, stehe ich stundenlang neben dem Priester, halte sein Gebetsbuch und den Kelch mit Weihwasser. Ich sage ihm das Totengebet nach. ‚Amen,‘ sagen wir zu jedem Verstorbenen, ‚Amen,‘ dutzende Male am Tag, aber schnell, denn irgendwo hinter den Wäldern arbeitet die Maschine des Todes unentwegt. An einem Tag ist dann plötzlich alles still und leer – die Krankenwagen kommen nicht mehr, die Zelte verschwinden. Das Lazarett ist nach Osten gezogen. Im Wald bleiben nur die Kreuze übrig.
Und später? Die obigen Passagen sind einige Seiten aus einem Buch über meine Jahre während des Krieges, an dem ich zu schreiben begann und dann aufgab. Ich frage mich nun, wie die letzten Seiten des Buches aussehen würden, sein Schluss, sein Epilog. Was würde darin stehen über das Ende des Zweiten Weltkriegs? Nichts, denke ich. Ich meine, nichts Endgültiges. Denn in einem ganz elementaren Sinn hat der Krieg für mich nicht 1945 oder irgendwann kurz danach geendet. In vieler Hinsicht dauert etwas davon immer noch in mir fort. Für diejenigen, die einen Krieg durchlebt haben, ist er niemals vorbei, nicht auf eine absolute Weise. Es ist eine Binsenweisheit, dass ein Mensch nur dann stirbt, wenn die letzte Person, die ihn kannte und sich an ihn erinnerte, stirbt, dass ein menschliches Wesen erst dann wirklich aufhört zu existieren, wenn alle Träger seines Andenkens diese Welt verlassen. Etwas Ähnliches passiert auch mit Kriegen. Diejenigen, die einen durchgemacht haben, können sich davon nie frei machen. Er bleibt ihnen als geistiger Buckel, als schmerzhafter Tumor, den sogar ein so fabelhafter Chirurg wie die Zeit nicht zu entfernen vermag. Man braucht nur Leuten zuzuhören, die einen Krieg durchlebt haben, wenn sie Abends an einem Tisch zusammensitzen. Es ist gleich, welche Konversationsthemen am Anfang gewählt werden. Es kann tausend Themen geben, aber am Ende bleibt nur eines übrig: Rückerinnerungen vom Krieg. Sogar nach Jahren des Friedens legen diese Menschen die Bilder des Krieges über jede neue Realität, eine Realität, mit der sie sich nicht ganz identifizieren können, weil sie mit der Gegenwart zu tun hat und sie aber von der Vergangenheit besessen sind, von der ständigen Wiederkehr dessen, was sie durchlebt haben und wie es geschafft haben, es zu durchleben, ihre Gedanken eine obsessiv sich wiederholende Retrospektive.
Aber was bedeutet es, in den Bildern des Krieges zu denken? Es bedeutet, dass in der Wahrnehmung alles bis auf das Äußerste gespannt ist, nach Grausamkeit und Schrecken stinkt. Da die Realität in Kriegszeiten eine Welt extremer, manichäistischer Reduzierung ist, die alle Zwischentöne, alles Sanfte und Warme eliminiert und alles begrenzt auf einen agressiven Kontrapunkt, auf Schwarz und Weiß, auf die größte Urschlacht der zwei Mächte: des Guten und des Bösen. Sonst niemand auf dem Schlachtfeld! Nur die Guten (mit anderen Worten, wir) und die Bösen (das heißt, alles, was uns im Weg steht, das gegen uns ist und das wir komplett in die finstere Kategorie Feind hineinzwängen). Das Bild des Krieges ist durchdrungen von der Atmosphäre der Gewalt, eine nackte, fassbare Gewalt, aufreibend, rauchend, ständig explodierend, immer angreifend, eine Gewalt, die in jeder Geste, in jedem Aufschlagen eines Stiefels auf das Pflaster, in jedem Schlag eines Gewehrkolbens gegen einen Schädel brutal ausgedrückt wird. In diesem Universum ist Stärke das einzige Kriterium, gegen das alles andere gemessen wird – nur die Starken zählen, ihr Brüllen, ihre Fäuste. Jeder Konflikt wird nicht durch Kompromisse gelöst, sondern durch die Auslöschung seines Gegners. All dies wird ausgetragen in einer Atmosphäre von Begeisterung, Raserei und Rausch, in der wir uns ständig betäubt, gespannt und bedroht fühlen. Wir bewegen uns in einer Welt, die von hasserfüllten Blicken, zusammengepressten Kiefern und von Angst machenden Gesten und Stimmen angefüllt ist.
Für lange Zeit glaubte ich, dass die Welt so war, dass das Leben so war. Es war verständlich: Die Kriegsjahre fielen zusammen mit meiner Kindheit und dann mit den Anfängen von Reife, rationalen Denkens und Bewusstsein. Deshalb schien es mir, dass Krieg und nicht Frieden der natürliche Zustand ist. Als die Kanonen endlich verstummten, als das Donnern der explodierenden Bomben nicht mehr zu hören war, als plötzlich Stille herrschte, war ich erstaunt. Ich konnte nicht begreifen, was die Stille bedeutete, was sie war. Ich glaube, ein mit dieser Stille konfrontierter Erwachsener könnte sagen: ‚Die Hölle ist vorbei. Endlich kommt wieder der Friede.‘ Aber ich erinnerte mich nicht daran, was Friede war. Ich war dafür zu jung; als der Krieg vorbei war, kannte ich nur die Hölle.
Monate vergingen und wir wurden ständig an die Anwesenheit des Krieges erinnert. Ich lebte in einer Stadt, die in Schutt und Asche lag, ich kletterte über Berge von Trümmern, trieb mich herum in einem Labyrinth aus Ruinen. Die Schule, in die ich ging, hatte keine Böden, Fenster oder Türen – alles war den Flammen zum Opfer gefallen. Wir hatten keine Bücher oder Schulhefte. Ich hatte immer noch keine Schuhe. Krieg als Sorge, als Mangel, als Belastung war mir immer noch sehr gegenwärtig. Ich hatte immer noch kein Zuhause. Die Heimkehr von der Front ist das greifbarste Symbol des Ende des Krieges. Tutti a casa! Aber ich konnte nicht nach Hause gehen. Mein Zuhause lag nun auf der anderen Seite der Grenze, in einem anderen Land, der Sowjetunion. Eines Tages, nach der Schule, spielte ich mit einigen Freunden in einem lokalen Park Fußball. Einer von ihnen stürzte sich auf der Jagd nach dem Ball in einige Büsche. Es gab einen fürchterlichen Knall und wir wurden zu Boden gewofen: mein Freund wurde von einer Landmine getötet. Damit lauerte uns der Krieg weiter auf; er wollte nicht aufgeben. Er hinkte durch die Straßen, sich auf hölzerne Krücken stützend, seine leeren Hemdsärmel im Wind flatternd. Nachts quälte er diejenigen, die ihn überlebt hatten, in schlimmen Träumen brachte er sich in Erinnerung.
Vor allem aber lebte der Krieg in uns weiter, weil er fünf Jahre lang unsere Charaktere, unsere Psychen, unsere Anschauungen geprägt hat. Indem er die schlechtesten Beispiele gab, unehrenhaftes Betragen erzwang, verachtenswerte Emotionen auslöste, versuchte er sie zu deformieren und zu zerstören. ‚Krieg,‘ schrieb Boleslaw Micinski in jenen Jahren, ‚entstellt nicht nur die Seele des Angreifers, er vergiftet, und entstellt daher auch die Seelen all jener, die den Angreifer bekämpfen‘. Deswegen fügte er hinzu, ‚Ich hasse Totalitarismus, weil er mich gelehrt hat zu hassen.‘ Ja, den Krieg hinter sich zu lassen bedeutete, sich innerlich zu reinigen und vor allem sich vom Hass frei zu machen. Aber wie viele unternahmen eine anhaltende Anstrengung in diese Richtung? Und wie viele davon hatten Erfolg? Es war jedenfalls ein strapaziöser und langandauernder Vorgang, ein Ziel, das nicht so schnell erreicht werden konnte, denn die psychischen und moralischen Wunden waren tief.
Wenn man von 1945 spricht, dann bin ich verärgert von dem Ausdruck ‚die Freude über den Sieg‘. Welche Freude? So viele Menschen kamen ums Leben! Millionen von Leichen wurden beerdigt! Tausende verloren Arme und Beine. Verloren Augenlicht und Gehör. Verloren den Verstand. Ja, wir überlebten, aber zu welchem Preis! Krieg ist der Beweis dafür, dass der Mensch als denkendes und fühlendes Wesen versagt hat, sich selbst enttäuscht hat und eine Niederlage erlitten hat.
Wenn man von 1945 spricht, erinnere ich mich daran, dass uns unsere Tante, die den Warschauer Aufstand auf wundersame Weise durchstanden hat, in jenem Sommer mit ihrem Sohn Andrzej auf dem Land besucht hat. Er wurde während des Aufstands geboren. Heute ist er ein Mann an der Schwelle zum Alter und wenn ich ihn ansehe, dann denke ich daran, wie lange alles zurückliegt! Seitdem sind in Europa Generationen geboren worden, die nichts davon wissen, was Krieg ist. Doch jene, die ihn durchlebt haben, sollten Zeugnis ablegen. Zeugnis ablegen im Namen derer, die neben ihnen gefallen sind und oft auf sie gefallen sind; Zeugnis ablegen über die Lager, über die Judenvernichtung, über die Zerstörung von Warschau und Breslau. Fällt dies leicht? Nein. Wir, die den Krieg durchlebt haben, wissen, wie schwierig es ist, die Wahrheit darüber denjenigen zu vermitteln, die diese Erfahrung glücklicherweise nicht kennen. Wir wissen, wie oft uns die Sprache im Stich lässt, wie oft wir uns hilflos fühlen, wie man diese Erfahrung letztlich nicht ausdrücken kann.
Doch trotz all dieser Schwierigkeiten und Einschränkungen, sollten wir sprechen. Denn das Darübersprechen trennt uns nicht, vielmehr eint es uns, es ermöglicht uns, einen geistigen Dialog über Verständnis und Gemeinschaft zu entspinnen. Die Toten mahnen uns. Sie haben uns etwas Wichtiges vermacht und wir müssen nun verantwortungsvoll handeln. In dem uns möglichen Maße sollten wir alles bekämpfen, was wieder zu Krieg, Verbrechen und in eine Katastrophe führen könnte. Denn wir, die den Krieg durchlebt haben, wissen, wie er beginnt und wo seine Ursachen liegen. Wir wissen, dass er nicht nur mit Bomben und Raketen beginnt, sondern mit Fanatismus und Stolz, Dummheit und Verachtung, Ignoranz und Hass. All das bereitet ihm einen Nährboden, auf dem er wachsen und sich ausbreiten kann. Deshalb sollten wir die Verschmutzung menschlicher Beziehungen durch Ignoranz und Hass bekämpfen, genauso wie einige von uns die Luftverschmutzung bekämpfen.
AUTOR: Ryszard KAPUSCINSKI
Übersetzt von Susanne Schuster, überprüft von Fausto Giudice
Quelle: When There is Talk of 1945
Originalartikel veröffentlicht in Granta Nr. 88, Winter 2004
Über den Autor
Sussane Schuster und Fausto Giudice sind Mitglieder von Tlaxcala, dem Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt. Diese Übersetzung kann frei verwendet werden unter der Bedingung, daß der Text nicht verändert wird und daß sowohl der Autor, die Übersetzerin, der Prüfer als auch die Quelle genannt werden.
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