Während 300 Jahren hat Großbritannien das Chaos ausgelagert. Jetzt kommt es schließlich nach Hause.
AUTOR: George MONBIOT – Übersetzt von Susanne Schuster
Opium, Hungersnöte und Banken – sie alle spielten bei der Plünderung der Erde durch dieses Land ihre Rolle. Nun, da es vorbei ist, tun wir uns schwer damit, dies zu akzeptieren.
Warum jetzt? Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass Großbritanniens Regierungsvertreter ertappt wurden. Die Geschichte von Regierungen in allen Ländern ist die Geschichte von Skandalen, denn diejenigen, die an die Spitze kommen, sind im Allgemeinen die ehrgeizigsten, rücksichtslosesten und skrupellosesten Leute, die aus der Politik hervorgehen. Dadurch dass sie ihre eigenen Interessen bis zum Äußersten durchsetzen, laufen sie ständig Gefahr, in Ungnade zu fallen, außer dann, wenn sie zu weit gehen. Warum also droht das gegenwärtige Trara nicht nur die Regierung, sondern auch unser vorsintflutliches politisches System zu zerstören?
Die letzten 15 Jahre haben die Geld-für-Fragen-Gaunerei, die Hinduja- und Ecclestone-Affären, die Lügen und Erfindungen, die zum Einmarsch in den Iraq geführt haben, die erzwungene Einstellung der Ermittlungen wegen der Bestechungsaffäre bei BAE, die Kapriolen im Zusammenhang mit dem Spendenskandal und den Geld-für-Gesetzesänderungen-Skandal hervorgebracht. Im Vergleich zu der unverblümten Subversion der Regierungsfunktionen bei einigen dieser Fälle ist dies ein Klacks. Jede dieser Affären hätte zu den umfassenden politischen Reformen führen sollen, über die wir nun diskutieren. Doch das taten sie nicht.
Der heute weltberühmte Genosse Mister Martin
Im Gegensatz dazu könnte der Spesenskandal die britische Labour-Partei umbringen. Vielleicht zwingt er auch Politiker aller Parteien dazu, unser ungerechtes Wahlsystem, das ungewählte Oberhaus, die übermäßige Macht der Exekutive, die von den Whips, den „Einpeitschern“ der Parteilinie, eingesetzte legale Erpressung und eine Reihe weiterer Anachronismen und Ungerechtigkeiten in Angriff zu nehmen. Warum ist dies anders?
Ich bin der Meinung, dass die gegenwärtige politische Krise kaum mit dem Spesenskandal und fast gar nichts mit Gordon Browns Führung zu tun hat. Sie entsteht, weil unser Wirtschaftssystem Vermögen aus anderen Nationen nicht länger extrahieren kann. In Großbritannien wurden in den letzten 300 Jahren die von fast allen anderen entwickelten Ländern durchlebten Revolutionen und Reformen durch Überweisungen aus dem Ausland abgewendet.
Martin, der Held des Spensenskandals, als King Kong
Die sozialen Unruhen, die vielleicht unsere Politik verändert hätten, wurden stattdessen an unsere Kolonien und widerwilligen Handelspartner ausgelagert. Die Aufstände in Irland, Indien, China, der Karibik, Ägypgten, Südafrika, Malaia, Kenia, Iran und anderen von uns unterworfenen Gebieten waren der Preis für den politischen Frieden in Großbritannien. Nach der Entkolonialisierung wurde unsere Plünderung anderer Nationen von den Banken aufrechterhalten. Nun, das erste Mal seit drei Jahrhunderten, können sie ihr Versprechen nicht mehr einhalten und wir müssen unseren Problemen letztendlich in die Augen sehen.
Die von den Briten provozierte irische Kartoffelhungersnot 1845-1855: Eine Million starben, 1,8 Million wanderten aus
Es wird wahrscheinlich nie eine vollständige Offenlegung des von diesem Land organisierten Raubes stattfinden, doch es finden sich einige Momentaufnahmen. In seinem Buch Capitalism and Colonial Production [Kapitalismus und koloniale Produktion] schätzt Hamza Alavi, dass sich der Ressourcenfluss von Indien nach Großbritannien zwischen 1793 und 1803 auf etwa 2 Millionen englische Pfund belief, nach heutigem Wert würde dies vielen Milliarden entsprechen. Er bemerkt, dass das wirtschaftliche Ausbluten Indiens „nicht nur ein Hauptfaktor bei der Verarmung Indiens war…es war auch ein sehr bedeutender Faktor bei der industriellen Revolution in Großbritannien.“ Ralph Davis beobachtet in The Industrial Revolution and British Overseas Trade [Die industrielle Revolution und der britische Überseehandel], dass Indiens Vermögen ab den 1760er Jahren „die nationale Verschuldung von den Holländern und anderen zurückkaufte…und Großbritannien damit im Ausland fast keine Schulden mehr hatte, als es 1793 vor den französischen Kriegen stand.
In Frankreich dagagen, wie Eric Hobsbawm in The Age of Revolution [Europäische Revolutionen] bemerkt, „spitzten die finanziellen Probleme der Monarchie die Situation zu.“ Im Jahr 1788 wurde die Hälfte der nationalen Ausgaben Frankreichs dazu aufgewendet, um seine Schulden zu bedienen: der „amerikanische Krieg und seine Schulden richtete die Monarchie zu Grunde.“
Sogar während die Franzosen ihr Ancien Regime stürzten, gelang es der britischen Landeigentümerklasse, ihre wirtschaftliche Macht zu stärken indem sie mittels der Enclosure-Bewegung den Armen des Landes gemeinschaftlich genutztes Land wegnahm. Es war zum Teil den Überweisungen aus Indien und der Karibik zu verdanken, dass die Wirtschaft boomte und der Staat über genügend Geldmittel verfügte, um politische Krisen zu überstehen. Nachdem Großbritannien Indiens eigene Wirtschaftsleistung zerstört hatte, zwangen die Briten das Land dazu, ein wichtiger Exportmarkt für unsere Industriegüter zu werden, wodurch die industrielle Beschäftigung hier aufrechterhalten wurde (und soziale Unruhen vermieden wurden), lange nachdem unsere Produkte und Prozesse aufhörten, wettbewerbsfähig zu sein.
Die koloniale Plünderei ermöglichte es dem britischen Staat auch, seine Ressourcendefizite auszugleichen. Seit 200 Jahren fließen Nahrungsmittel in dieses Land, beispielsweise von Irland, Indien und den Karibikstaaten. In The Blood Never Dried [Das Blut trocknete nie] enthüllt John Newsinger, dass Jamaika allein im Jahr 1748 17.400 Tonnen Zucker nach Großbritannien lieferte; dies stieg auf 73.800 Tonnen im Jahr 1815. Es wurde alles von gestohlener Arbeit produziert.
So wie auf dem Höhepunkt seiner großen Hungersnot Irland Getreide entzogen wurde, ließ Großbritannien während der katastrophalen Hungersnöte in Indien Nahrungsmittel weiterhin ins Ausland abfließen. In Late Victorian Holocausts [Massenmord im spätviktorianischen Zeitalter] zeigt Mike Davis auf, dass sich die Weizenexporte von Indien nach Großbritannien zwischen 1876 und 1877 verdoppelten, während dort die Subsistenzwirtschaft zusammenbrach und mehre Millionen am Hungertod starben. In den nordwestlichen Provinzen wurden Hungersnöte gänzlich von britischer Politik erzeugt, denn gute Ernten wurden exportiert, um schlechte englische Erträge in den Jahren 1876 und 1877 auszugleichen.
Mit anderen Worten, Großbritannien lagerte Hungersnöte wie auch soziale Unruhen aus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in diesem Land eine schreckliche Armut, aber kein Massenhungern. Die schlechte Ernte im Jahr 1788 half dabei, die französische Revolution auszulösen, aber der britische Staat vermied solche Gefahren. Andere starben an unserer Statt.
Davis zeigt, dass Großbritanniens riesige Defizite mit den Vereinigten Staaten, Deutschland und seinen weißen Siedlungskolonien Ende des 19. Jahrhunderts durch gewaltige Überschüsse mit Indien und (infolge des Opiumhandels) China ausgeglichen wurden. Für eine Generation „stützten die hungernden indischen und chinesischen Landbevölkerungen … das gesamte System des internationalen Zahlungsausgleichs ab; dies machte es möglich, dass Englands anhaltende finanzielle Vorherrschaft zeitweise mit seinem relativen industriellen Niedergang einherging.“ Großbritanniens Handelsüberschüsse mit Indien gestatteten es der Londoner City, das Finanzkapital der Welt zu werden.
Propagandabild vom Punch Magazin aus der Zeit des großen indischen Aufstands von 1857: „Justice“, das heisst Grossbritanien, triumphiert über die „Wilden“
Ihre Rolle in der britischen Kolonialsisierung war keine passive. Die Zahlungsunfähigkeit und anschließende Machtübernahme der Briten in Ägypten im Jahr 1882 wurde durch einen Kredit der Rothschild-Bank beschleunigt, dessen Vergabe laut Newsinger „einem riesigen Betrug“ gleichkommt. Jardine Matheson, einst der größte Drogenhändler in der Geschichte (er dominierte den chinesischen Opiumhandel), gründete später eine wichtige Investmentbank, Jardine Fleming. Sie wurde 2000 von JP Morgan Chase übernommen.
Wir verloren unsere Kolonien, aber die Plünderei ist mit anderen Mitteln fortgeführt worden. Wie Joseph Stiglitz in Die Schatten der Globalisierung aufzeigt, machte es die vom IWF auferzwungene Liberalisierung der asiatischen Kapitalmärkte möglich, dass Händler im globalen Norden Hunderte Milliarden US-Dollar erbeuteten und damit die Finanzkrise in Asien 1997-98 auslösten. Ärmere Nationen wurden darüber hinaus drangsaliert, um eine Reihe von erstaunlich einseitigen Abkommen und Verpflichtungen einzugehen, wie beispielsweise handelsbezogene Investitionsmaßnahmen, bilaterale Investitionsvereinbarungen und die wirtschaftlichen Partnerschaftsabkommen der EU. Falls Sie sich jemals gefragt haben, wie ein kleines, dicht besiedeltes Land, das sehr wenig produziert, seine Existenz sichert, dann rate ich Ihnen dringend, sich mit diesen asymmetrischen Abmachungen genauer zu befassen.
Doch nun könnte die City tödlich verwundet sein, wie John Lanchester in einem faszinierenden Essay im London Review of Books darlegt. Es dauert vielleicht Generationen, bis die Nation, die auf Finanzdienstleistungen setzte, sich von deren Zusammenbruch erholt. Das große britische Abenteuer – drei Jahrhunderte, die damit verbracht wurden, die Arbeit, das Vermögen und die Ressourcen anderer Länder zu plündern – ist vorbei. Wir können dies nicht akzeptieren und wollen uns voller Schadenfreude an einer Regierung rächen, die uns von der Realität nicht länger abschirmen kann.
Britische Übermenschen und afrikanische Untermenschen
Quelle: The Guardian commentisfree– For 300 years Britain has outsourced mayhem. Finally it‘s coming home
Originalartikel veröffentlicht am 8.6.2009
Über den Autor
Susanne Schuster ist ein Mitglied von Tlaxcala, dem Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt. Diese Übersetzung kann frei verwendet werden unter der Bedingung, daß der Text nicht verändert wird und daß sowohl der Autor, die Übersetzerin als auch die Quelle genannt werden.
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