Von dem Recht und der Pflicht jedes einzelnen Bürgers – um unsere demokratische Zukunft zu bewahren – die verfassungswidrigen Elemente, die unsere Demokratie zerstören, zum Teufel zu jagen
Günter Grass hielt an der Paul-Natorp-Oberschule in Berlin eine Rede für den zu verabschiedenden Abiturjahrgang von 2009, der nun in die Welt des Erwachsenenseins entlassen wurde.
Mit seiner Rede, die unter dem Motto “Mündig sein” stand, forderte er die Jugendlichen auf, für ihr Leben selbst verantwortlich zu sein und den Mund in einer Gesellschaft aufzumachen, wenn es um den Abbau von Bürgerrechten und unsozialen Massnahmen seitens des Staates geht.
Schonungslos rechnete er vor den anwesenden Schülern, Lehrern und Eltern mit einem System ab, in dem Regierung und Beamte die Grundrechte immer weiter mit den Füssen treten.
Er sprach von dem verhängnisvollen blinden Gehorsam, den seine Generation durch Zucht und ideologische Prägung durch den Nationalsozialismus lernte.
Er nannte die Floskel vom mündigen Bürger, die zum Allgemeinplatz geworden ist und ging der Frage nach, ob es ihn im ausreichenden Masse gibt, den Bürger, der bereit ist, den Mund aufzumachen und zu widersprechen, wenn die genauso oft berufene demokratische Grundordnung aus den Fugen gerät.
Grass sprach davon, dass das Fundament unserer Demokratie, unser Grundgesetz, im Laufe der letzten Jahre durch die Politiker immer mehr beschädigt wurde und zur 60 – Jahrfeier eben von diesen bejubelt wurde.
Desweiteren prangerte er die Ungerechtigkeiten des Staates in seiner Rechtssprechung gegenüber den Bürgern an, in denen Reiche und Hilfsbedürftige unterschiedlich behandelt werden trotz Grundgesetz, unserer Verfassung, in dem steht, dass vor dem Recht jeder Bundesbürger gleich ist. Ein demokratischer Rechtsanspruch, der jahrhundertelang umstritten war, der erkämpft werden musste, meint Günter Grass. Dabei bezog er sich als Beispiel auf den Fall Zumwinkel, der zur Entlohnung seiner Taten eine Bewährungsstrafe und Millionenbeträge aus der Pensionskasse erhalten hat, während die Kassiererin “Emily” von den Gerichten in zwei Instanzen mit ihrer Klage abgewiesen wurde.
Gleiches Recht – dem steht das ökonomische Ungleichgewicht unserer Gesellschaft in dem Versprechen der Verfassung im Wege, sagte er.
Er mahnte die Zerbrechlichkeit der Demokratie an, ihr Erhalt muss ständig erkämpft werden und das geht nur durch die Mündigkeit der Bürger.
Das war Günter Grass’ Hauptanliegen an die Abiturienten. Das schlimmste und folgenreichste für unsere Demokratie, die durch das Finanzkapital in Gefahr ist, ist das Schweigen im Lande. Doch darauf wird es ankommen: auch bei Gegenwind den Mund aufzumachen, gegen den Wind laut »Ja« oder »Nein« zu sagen und dieses »Ja« oder »Nein« zu begründen.
Eindringlich beschrieb er, dass das Volk endlich begreifen muss, dass es der Souverän des Staates ist und jedem Lobbyisten, der den Bundestag belagert, das verfassungswidrige Handwerk legen muss.
Da es in unserem Land in dieser Beziehung, was den Bundestag betrifft, schon zu spät ist, scheut er sich nicht, den Vergleich mit der friedlichen Revolution der DDR-Bürger, die den Sturz des Diktaturstaates einleitete, zu ziehen.
Die jungen Menschen sollen endlich den Mund aufmachen, weil es um ihre Zukunft geht und jenen Ruf wiederbeleben, der vor zwanzig Jahren mit der fordernden Behauptung “Wir sind das Volk!” ein Zwangssystem hinwegfegte.
Günter Grass zeigte die Gefahr für unsere gefährdete Demokratie anhand der Weimarer Republik, die wegen fehlender mündiger Bürger nicht verteidigt werden konnte und durch die Ermächtigungsgesetze Hitlers in die Diktatur mündete.
Das Orginal der Rede “Mündig sein” vor den Schülern von Günter Grass wurde in DIE ZEIT, Ausgabe 29, 2009 veröffentlicht und kann hier gelesen werden.