Vom Armen- und Arbeitshaus zu Hartz-IV

Eine kurze Geschichte der staatlichen Armen- und Arbeitslosenverwaltung zwischen Repression und Almosentransfer

Arbeitslosigkeit und vor allem Massenarbeitslosigkeit sind Phänomene neuzeitlicher und moderner kapitalistischer Industriestaaten. In der feudalistischen Ständegesellschaft war ‚arbeitslos’ maximal der leibeigene Bauer, der nach der Fronarbeit oder nach der Einbringung der Ernte zeitlich eng befristet ‚ohne Arbeit’ war – sozusagen nach Feierabend.

Das Charakteristikum des Feudalismus waren nicht fehlende Arbeitsplätze, sondern im
Gegenteil der permanente Mangel an menschlicher Arbeitskraft für Fron- und Kriegsdienste im Interesse der herrschenden Adelsklasse. Die Ausbeutung der Fronarbeit stieß aufgrund der geringen Produktivkraft der nur wenig mechanisierten Arbeit schnell an natürliche Grenzen. Schon in den antiken Feudalsystemen wurde diesem Mangel durch die Ausbeutung der Arbeitskraft von immer mehr Sklaven begegnet.
Sämtliche Kulturdenkmäler, die noch heute von den antiken und mittelalterlichen Feudalsystemen zeugen (Paläste, Burgen, Schlösser, Wehranlagen, Aquädukte etc.), sind in hohem Maße die Artefakte der Zwangsarbeit von Millionen von Leibeigenen und Sklaven.

Mit der allmählich wachsenden Bedeutung des städtischen Handwerks und vor allem des kaufmännischen Handels etablierten sich gesellschaftliche Kräfte, die über das Feudalsystem hinauswiesen. Auch die Herrschaftsstruktur der italienischen Seehandelsstädte Venedig, Florenz oder Genua war im Wesentlichen hierarchisch-feudalistisch geprägt – aber die Grundlage des Reichtums war nicht mehr die direkte Ausbeutung von Grund und Boden durch die direkte Ausbeutung von ortsgebundenen Leibeigenen, sondern der kontinentale und mehr und mehr auch interkontinentale Handel mit den Produkten der noch hochgradig feudalistisch strukturierten Ökonomien. Die ersten sozialen Gebilde, die sich aus den feudalistischen Herrschaftsstrukturen befreien konnten, waren die Freien Handelsstädte, etwa die nordeuropäischen Hansestädte – Bremen, Hamburg, Danzig oder Riga.

Ein zentraler Faktor im Prozess der allmählichen Auflösung der ständischen, statischen feudalistischen Systeme und damit der Herausbildung des Kapitalismus war das Aufkommen und die Ausbreitung des neuzeitlichen Kolonialismus. Vor allem die italienischen Handelsmächte waren mit ihrer Finanzmacht anfänglich die treibenden Kräfte und Finanziers der Entdeckung, Eroberung und Kolonialisierung der außereuropäischen Welt. Der enorme Bedarf an Arbeitskräften, der aus der Notwendigkeit resultierte, in den neu eroberten Kolonien die gesamte staatliche und ökonomische Infrastruktur aufzubauen, wurde – vor allem in Nord-, Mittel- und Südamerika – durch den gewaltsamen Import von Millionen von Sklaven speziell aus Afrika gedeckt. Aufgrund der weitgehenden Ausrottung der einheimischen Bevölkerung und auch aufgrund des politischen Selbstverständnisses der neuen Kolonialherren und Siedler vor allem in Nordamerika – man denke nur an die amerikanische Freiheitserklärung von 1776 – war an eine Etablierung eines feudalistischen Systems nach europäischem Vorbild und damit an die Ausbeutung von Leibeigenen nicht zu denken. Die durch feudalherrliche Obhutspflichten nicht gebremste Ausbeutung der Sklaven auf den nord-, mittel- und südamerikanischen Plantagen, in Bergwerken und Silberminen, und der Export der abgepressten Produkte brachten aber umso fantastischere Gewinne.

Angespornt vom nordamerikanischen Vorbild begannen die europäischen Adligen, auch ihre Ländereien für den Export landwirtschaftlicher Produkte fit zu machen. Die gewaltsame Vertreibung der bislang mehr oder minder leibeigenen Landbevölkerung von den Ländereien der adligen Großgrundbesitzer – auch Bauernlegen genannt – und die Einhegung der bislang gemeinschaftlich genutzten Almende waren die Voraussetzung für die großflächige Nutzung des Grundbesitzes etwa als Schafsweiden, um Wolle oder daraus hergestellte Tücher exportieren zu können.

Die allmähliche Auflösung des feudalistischen Systems führte also zu einer doppelten ‚Befreiung’ der bislang leibeigenen Landbevölkerung:
Einerseits wurde sie peu à peu aus der Hörigkeit entlassen. So wurde die Leibeigenschaft in der Stadt Bologna schon 1256 abgeschafft, das Herzogtum Braunschweig folgte 1433, und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war die Leibeigenschaft in großen Teilen Europas, bis Mitte des 19. Jahrhunderts fast in ganz Europa beseitigt. Auf der anderen Seite wurden die ehemaligen Leibeigenen auch aus der adligen Obhutspflicht befreit – und damit quasi zu Vogelfreien, die sich in den entstehenden merkantilistischen Manufakturen, als Tagelöhner, Erntehelfer oder gar Prostituierte verdingen mussten, wenn sie nicht gleich als Bettler oder Landstreicher endeten.

Es ist insofern kein Wunder, dass die ersten Armen- und Arbeitshäuser in den immer mächtiger werdenden, aufstrebenden städtischen Handelszentren entstanden: Das erste historisch dokumentierte Arbeitshaus wurde 1555 in London (Bridewell) eingerichtet, auf dem Kontinent folgten 1609 Bremen, 1613 Lübeck, 1620 Hamburg und 1629 Danzig. Die ersten Armen- und Arbeitshäuser wurden also exakt in den reichen, schicken Handelsstädten installiert, deren immer mächtiger werdendes bürgerliches Patriziat sich das genüssliche Leben durch den Anblick sozialen Aussatzes nicht verderben lassen wollte und Bettelei und Landstreicherei kurzerhand verbot.

Die direkte wirtschaftliche Bedeutung der sich nur selten ökonomisch selbst tragenden Arbeitshäuser war eher gering. Ihre Wirkung erzielten sie durch ihren Abschreckungseffekt auf jene, die sich der Ausbeutung als Tagelöhner, Erntehelfer oder als Arbeiter in den ersten entstehenden Manufakturen und Industriebetrieben entziehen wollten. Wolfgang Ayass, der zum Thema Arbeitshäuser seine Doktorarbeit verfasst hat, schreibt etwa: „Die Verfolgung einiger tausend ‚Arbeitsscheuer’ sollte
Millionen Menschen als warnendes Beispiel dienen.“ (1993, S. 186) Die katastrophalen und damit hochgradig abschreckenden Verhältnisse, die in den Arbeitshäusern herrschten, wurden zeithistorisch schon von Friedrich Engels in seiner Arbeit „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ beschrieben, die 1845 erstmals erschien, oder auch in literarischer, abergleichwohl authentischer Weise durch Charles Dickens in seinem autobiografischen Roman „Oliver Twist“.

In dem Maße, in dem die Bevölkerung in den Arbeitsprozess des entstehenden kapitalistischen Industriesystems eingegliedert wurde und sich Schritt um Schritt höhere Löhne und eine immer bessere soziale Absicherung erkämpfte, verloren die Arbeitshäuser als Zwangsarbeits-, Zucht-, Erziehungs- und Abschreckungsanstalten mehr und mehr an Bedeutung – wenn man von ihrer kurzfristigen Reanimation zur Zeit des Nationalsozialismus absieht, dessen Wirtschaftssystem aber vor allem, speziell nach Kriegsbeginn, durch die Ausbeutung von ausländischen Zwangsarbeitern in fast allen heimischen Wirtschaftszweigen gekennzeichnet war. Die auf dem Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 basierenden, mit der Zeit immer wieder modifizierten rechtlichen Regelungen bezüglich der Arbeitshäuser wurden in Deutschland aber erst 1969 (!) endgültig abgeschafft.

Die kapitalistische Industrialisierung und damit die Herausbildung eines Industrieproletariats, das von Arbeitslosigkeit überhaupt betroffen sein konnte, setzte in Deutschland verspätet ein, verlief nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 aber umso heftiger. Die Arbeitslosenquoten schwankten in dieser Zeit zwischen 0,2 Prozent, etwa im Jahr 1887, und maximal 6,7 Prozent im Jahre 1901 bei einem Durchschnittswert von etwa 3 Prozent. Weil Arbeitslosigkeit im Kaiserreich also nicht das drängendste Problem war, konzentrierten sich die Kämpfe der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung auf Lohnerhöhungen und die Einführung einer allgemeinen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, die im Zuge der Bismarckschen Sozialgesetzgebung 1883, 1884 und 1891 realisiert wurden – nicht zuletzt natürlich, um die Arbeiterbewegung zu besänftigen und damit zu schwächen und, wie es in den sogenannten Sozialistengesetzen von 1878 hieß, die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ einzudämmen.

Eine zentralstaatlich organisierte Arbeitslosenversicherung existierte im Kaiserreich zwischen 1871 und 1914 also nicht. Einzelne Gewerkschaften organisierten Unterstützungskassen für Arbeiter, der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband schuf eine Selbsthilfekasse der sogenannten ‚Privatangestellten’ und einzelne größere Arbeitgeber, etwa die Mohr AG, führten Betriebsrenten ein. Aber bei einem Organisationsgrad der Gewerkschaften, der auch 1914 nur auf 15 Prozent gestiegen war, und auch aufgrund der Freiwilligkeit des Systems war der Empfängerkreis der
insgesamt nur almosenhaften Leistungen extrem gering.

Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem in Deutschland kriegsbedingt ein extremer Arbeitskräftemangel herrschte, wurden die heimkehrenden Soldaten erstaunlich schnell in die Wirtschaft der Weimarer Republik integriert.
Von 1919 bis 1922 fiel die Arbeitslosenquote zunächst von 3,7 Prozent auf 1,5 Prozent, um dann bis 1926 auf 18 Prozent zu steigen, aber schon in den beiden Folgejahren auf etwa 8 Prozent zurückzufallen. Erst mit Eintritt der Weltwirtschaftskrise 1929 stieg die Quote auf zunächst 13 Prozent, um dann bis 1932 auf 30 Prozent hochzuschießen. Schon ab 1918 existierte eine staatliche Erwerbslosenfürsorge, die zunächst zur Hälfte vom Reich, zu einem Drittel von den Ländern und zu einem Sechstel von den Gemeinden finanziert wurde – also aus dem allgemeinen Steueraufkommen. Sie wurde zunächst sogar unbefristet gewährt. Bis 1924 wurde die maximale Bezugsdauer aber in mehreren Schritten auf 26 Wochen begrenzt. Und schon 1923 wurden die Finanzierungsanteile des Reiches und der Länder auf die Arbeitnehmer und Arbeitgeber abgewälzt. Die Erwerbslosenfürsorge in der Weimarer Republik war die erste zentralstaatliche Unterstützung von Arbeitslosen in der deutschen Geschichte, sie ging aber über die Gewährung von Almosen nicht hinaus.

Erst im Jahre 1927 wurde mit dem „Gesetz über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ (AVAVG) in Deutschland eine gesetzliche Arbeitslosenversicherung etabliert, die in ihren Grundzügen bis heute besteht: Zwangsmitgliedschaft, paritätische Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer und staatliches Vermittlungsmonopol. Kaum war die gesetzliche Arbeitslosenversicherung etabliert, brach 1929 die bislang schwerste Weltwirtschaftskrise aus. Der massiv steigenden, bis 1932, wie gesagt, eine Quote von 30 Prozent erreichenden Arbeitslosigkeit wurde im Zuge der Brüningschen Austeritätspolitik mit immer neuen Kürzungsprogrammen begegnet, die teilweise im Vierteljahresabstand erfolgten: Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wurde bis 1932 viermal reduziert, die Leistungen dreimal, die Wartezeiten wurden zweimal verlängert und die Beiträge sogar fünfmal erhöht.

Auch nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933, dem Verbot der Gewerkschaften, der Zerschlagung der Arbeiterbewegung und der raschen Errichtung der faschistischen Diktatur galt die gesetzliche Arbeitslosenversicherung in ihren Grundzügen fort. 1936 wurden die Leistungen sogar verbessert und 1939 wurde sogar eine unbefristete Grundsicherung eingeführt, die unabhängig vom Versicherungsstatus war. Solche Verbesserungen waren möglich, weil die Arbeitslosenzahlen bis 1939 rapide zurückgingen aufgrund der nationalsozialistischen Wirtschafts- und Aufrüstungspolitik, die man als einen pragmatischen, also theoretisch nicht intendierten nachfrageorientierten Keynesianismus mit perversem Inhalt bezeichnen könnte. Mit dem Beginn der verbrecherischen Überfallskriege gegen die europäischen Nachbarländer herrschte in der deutschen Kriegswirtschaft sehr schnell ein massiver Arbeitskräftemangel. Diesem Mangel begegneten die deutschen faschistischen Machthaber mit der Errichtung eines in der Geschichte der Menschheit beispiellosen Zwangsarbeitersystems.
Vor allem Kriegsgefangene, aber in erheblichem Maße auch die Zivilbevölkerung speziell der östlichen Länder waren von dieser Form der Verschleppung und Versklavung betroffen.

Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 wurde das System der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung, wie es in der Weimarer Republik geschaffen worden war, in seinen Grundzügen übernommen und ab 1951 gesetzlich kodifiziert und immer wieder reformiert.
Man kann die jüngste Geschichte der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Machtantritt der rot-grünen Regierung im Jahre 1998 ohne Übertreibung als eine Geschichte der fast permanenten Verbesserung der Leistungen für die Versicherten bezeichnen.
Beispiele: Die Beitragsbemessungsgrenzen wurden immer wieder angehoben und damit die Finanzierungsbasis immer mehr verbreitert.
Das Arbeitslosengeld erreichte bis zu 68 Prozent des letzten Nettogehalts, die Arbeitslosenhilfe bis zu 58 Prozent. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes erreichte einen Spitzenwert von 32 Monaten. Es wurde das Kurzarbeitergeld eingeführt, für die Beschäftigten des Baugewerbes das Schlechtwettergeld und für Beschäftigte, deren Betrieb stillgelegt wurde, eine Stilllegungsvergütung. Zumutbar war grundsätzlich nur Arbeit, die der Qualifikation des Arbeitslosen entsprach. Sogenannte arbeitsmarktpolitische Problemgruppen – Ältere, Jugendliche, Frauen, Menschen mit Behinderungen etc. – kamen in den Genuss spezieller Förderungsprogramme. Und Menschen, die dem Arbeitsmarkt – aus welchen Gründen auch immer – nicht zur Verfügung standen und die über kein Einkommen verfügten, hatten ab dem Jahr 1962, in dem das Bundessozialhilfegesetz verabschiedet wurde, einen gesetzlichen Anspruch auf staatliche Finanzierung ihres Lebensunterhalts.

Schon unter der konservativ-liberalen Koalition unter Helmut Kohl kam es ab 1982 in der Arbeitslosenversicherung zu einigen Leistungsverschlechterungen. Das System blieb in seinen Grundzügen und in fast allen seinen Details aber unberührt. Erst die Agenda-2010-Politik der rot-grünen Regierung, die 1998 an die Macht kam, und speziell die Durchsetzung der sogenannten Hartz-Gesetze in den Jahren 2003-2005 führten zu einem regelrechten Systembruch im Bereich der Arbeitslosenversicherung und in der Arbeitslosen- und Sozialpolitik insgesamt.

Kennzeichen dieses Systembruchs sind etwa die folgenden: Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wurde grundsätzlich auf 12 Monate reduziert und erst ab 2006 für ältere Arbeitnehmer schrittweise wieder auf maximal 24 Monate angehoben. Die Arbeitslosenhilfe wurde vollständig abgeschafft und mit der Sozialhilfe zum sogenannten Arbeitslosengeld II zusammengelegt. Und vor allem ist nun jede Arbeit zumutbar – auch den Qualifikationen des Arbeitnehmers in keiner Weise entsprechende, auch untertariflich bezahlte Arbeit und selbst Arbeit zu monatlichen Nettolöhnen, die unterhalb des Sozialhilfesatzes liegen. Werden dieserart definierte
‚zumutbare’ Arbeitsangebote – wozu auch die sogenannten Ein-Euro-Jobs gehören – abgelehnt, kommt es zu Leistungskürzungen und im Wiederholungsfalle sogar zum vollständigen Leistungsentzug. Nicht wenige Kritiker dieser Regelung sprechen von der Wiedereinführung der Zwangsarbeit, weil die Androhung des Entzugs sämtlicher Mittel zum Lebensunterhalt einem massiven Zwang zur Aufnahme von auch ausbeuterisch bezahlter Arbeit gleichkommt.

Die Vergabe und die zeitliche Gewährung des ALG-II werden von den Ämtern oft derart restriktiv gehandhabt, dass sich hierfür in den Sozialwissenschaften und selbst in einigen Arbeitsverwaltungen der Begriff der ‚Verfolgungsbetreuung’ durchgesetzt hat. Der Koblenzer Sozialwissenschaftler und Professor für Sozialpolitik Michael Wolf schreibt bzw. zitiert aus einer ver.di-Pressemitteilung: „Der von Mitarbeitern des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen geprägte Begriff »Verfolgungsbetreuung« thematisiert den Sachverhalt der gezielten und absichtsvollen Ausgrenzung
hilfebedürftiger Arbeitsloser aus dem Leistungsbezug: »Konkret bedeutet das, jede mögliche und unmögliche Gelegenheit zur Verhängung einer Sperrzeit wird genutzt. Der Druck auf die Arbeitslosen macht auch vor den Kolleginnen und Kollegen in den Ämtern nicht halt. Es werden Hitlisten eingerichtet, mit dem Ziel, zu schauen, wer in welcher Zeit wie viele Sperrzeiten verhängt hat.« (Küster et al. 2003: 2) Ziel dieser Selbstkritik ist jedoch weniger das individuelle Verhalten des Fachpersonals als vielmehr die von der Bundesagentur für Arbeit verfolgte Politik, mittels »massive[m] Druck« ihre Mitarbeiter zu zwingen, »an der Grenze der gesetzlichen und moralischen Legalität, gegen Arbeitslose vorzugehen, allein mit dem Ziel, ihnen die finanzielle Lebensgrundlage zu kürzen oder zu sperren« (ebd.: 3).“ (Wolf 2006, S. 1088 f.)

In einem Staat, dessen Reichtum und Sozialprodukt so groß sind wie nie zuvor in der Geschichte, sind also Methoden paternalistischer Sozialpolitik und der repressiven Verwaltung von Armut und Arbeitslosigkeit zurückgekehrt, wie man sie bislang nur aus der Periode des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit oder in politischen Diktaturen der Moderne kannte.

Ein paar Literaturtipps:
Ayass, Wolfgang 1992: Das Arbeitshaus Breitenau. Bettler, Landstreicher, Prostituierte,
Zuhälter und Fürsorgeempfänger in der Korrektions- und Landarmenanstalt Brei-
tenau (1874-1949), Dissertation, Kassel.
Ayass, Wolfgang 1993: Die „korrektionelle Nachhaft“. Zur Geschichte der strafrechtli-
chen Arbeitsunterbringung in Deutschland, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsge-
schichte, Nr. 15/1993, S. 184 ff., vgl. auch: http://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/
bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-2007013016948/3/Nachhaft.pdf
Dickens, Charles 1837-1839: Oliver Twist, diverse Ausgaben.
Engels, Friedrich 1977 (1845): Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW
Band 2, Berlin (Ost), vgl. auch: www.mlwerke.de/me/me02/me02_225.htm
Foucault, Michel 1994 (1975): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses,
Frankfurt/a. M.
Glismann, Hans H./Schrader, Klaus 2002: Die Reform der deutschen Arbeitslosenver-
sicherung vor dem Hintergrund ihrer Geschichte, Institut für Weltwirtschaft Kiel,
Kieler Arbeitspapiere Nr. 1112.
Küster, Gerhard/Fuchs, Brigitte/Mevenkamp, Franz (Red.) 2003: InTeam. Mitteilun-
gen der ver.di-Fraktionen im BRP und der BJAV im Landesarbeitsamt Nordrhein-
Westfalen sowie der ver.di Landesfachgruppe Arbeitsverwaltung, März 2003, vgl.
auch: www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/zwang/inteam.pdf
Marx, Karl 1977 (1867/1890): Das Kapital, Erster Band, MEW Band 23, Berlin (Ost),
speziell S. 741 ff. zur ursprünglichen Akkumulation.
Mahrzahn, Christian 1981: Das Zucht- und Arbeitshaus, Bremen.
Polanyi, Karl 1977 (1944): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ur-
sprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Wien.
Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian 1980: Geschichte der Armenfürsorge in
Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart u. a.
Wikipedia (http://de.wikipedia.org), Artikel zu folgenden Suchbegriffen: Arbeits-
haus, Arbeitslosengeld I, Arbeitslosengeld II, Arbeitslosenversicherung, Arbeits-
losigkeit, Bauernlegen, Diskriminierung Arbeitsloser, Geschichte der Sklaverei,
Hartz-Konzept, Leibeigenschaft, Sklaverei, Sozialhilfe (Deutschland), Sozialis-
tengesetz, Verfolgungsbetreuung, Zwangsarbeit.
Wolf, Michael 2006: Hartz IV: ausgrenzende Aktivierung oder Lehrstück über die An-
tastbarkeit der Würde des Menschen, in: UTOPIE kreativ, H. 194, S. 1079 ff., vgl.
auch: www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/194/194
Wolf.pdf

Vortragsmanuskript von Egbert Scheunemann
Stand: 14. September 2009

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