WENN DIE Tagesschau im Fernsehen mit einem Mord beginnt, atmen die Menschen hier erleichtert auf.
Weil dann kein Krieg ausgebrochen ist, kein Selbstmordattentat stattfand und keine Qassamrakete nach Sderot abgefeuert worden ist. Ahmadinejad hatte keine neue Rakete getestet, die Tel Aviv erreichen kann. Es ist nur ein Mord.
Das heißt nicht, dass Israel die Hauptstadt des Mordes ist. Wir müssten uns viel mehr bemühen, die hohe Mordrate von New York oder Moskau zu erreichen, geschweige denn die von Johannisburg. Statistiken zeigen sogar, dass die Mordrate bei uns sinkt.
Aber in letzter Zeit ist Israel von einer Serie außergewöhnlich brutaler Morde geschockt worden. Ein Ehemann nahm Rache an seiner Frau, tötete seine kleine Tochter und begrub sie in einem Wald. Ein Mann, der mit der Frau seines Sohnes zusammenlebte, tötete ihre Tochter, seine eigene kleine Enkeltochter, legte ihren Körper in einen Koffer und warf diesen in Tel Avivs Yarkonfluss. Ein Sohn, der sich mit seiner Frau stritt, tötete sie und ihre Mutter, zerteilte die Leichen und entsorgte sie in Müllbehältern. Ein junger Mann, der mit seiner Mutter einen Streit hatte, tötete sie und ging dann hin, um auch seinen Bruder zu töten. Ein alter Mann tötete nachts mit einem Hammer seine Frau im Schlaf.
In den letzten Wochen gab es zwei Fälle, die sogar diese Scheußlichkeiten übertrafen.
Damian Karlik, ein Immigrant aus Russland, arbeitete als Oberkellner in einem russischen Lokal, wurde wegen Diebstahls entlassen und entschloss sich, sich an den Besitzern, russischen Immigranten wie er, zu rächen. Er ging zu ihrer Wohnung und erstach sechs Personen, eine nach der anderen, den Besitzer und seine Frau, ihren Sohn, seine Frau und ihre zwei kleinen Enkelkinder.
Ein Immigrant aus den USA mit Namen Jack Teitel, Bewohner einer der extremsten Siedlerkolonien in der Westbank, hat jetzt gestanden, dass er vor Jahren aufs Geratewohl zwei Palästinenser umgebracht hat. Er kehrte kurz in die USA zurück. Nachdem er zurückgekommen war, legte er Bomben in Polizeiwagen. Warum? Weil die Polizei Schwule und Lesben schütze. Er wird auch verdächtigt, aus dem selben Grund zwei Verkehrspolizisten getötet zu haben. Er rühmte sich auch des Massenmordes an Homosexuellen in einem Tel Aviver Club (das mag aber nur Prahlerei gewesen sein). Er legte eine Bombe in die Wohnung von messianischen Juden (Juden, die Jesus als Messias ansehen) und verletzte dabei einen 15Jährigen schwer. Er versuchte, den linken Professor Ze’ev Sternhell mit einer weiteren Bombe umzubringen, und verletzte ihn.
DAS BESONDERE an diesen beiden Fällen ist, dass neue Immigranten, die nach Israel einwandern dürfen, darin verwickelt sind, obwohl gegen sie schon in ihrem Herkunftsland wegen Verbrechen ermittelt wurde.
Das Rückkehrgesetz gesteht jedem Juden das Recht der Einwanderung („Aliya machen“) nach Israel zu , wo sie automatisch bei der Ankunft die israelische Staatsbürgerschaft erhalten. Aber selbst nach diesem Gesetz könnte der Innenminister diese Leute zurückweisen, die schwerwiegender Verbrechen bezichtigt werden.
Dies macht den Fall Karlik so besonders interessant. Er war in Russland des bewaffneten Raubüberfalls verdächtigt worden, aber die Organisation, die in Russland Einwanderungs-genehmigungen vergibt, behauptete, sie hätte davon nichts gewusst.
Diese Organisation Nativ („Pfad“) war in der Vergangenheit in Sowjetrussland als eine der israelischen Geheimdienste tätig wie der Mossad und der Shin Beth. Ihr besonderer Job war es, die jüdischen Gemeinden zu unterwandern und Juden dazu zu überreden, nach Israel zu kommen.
Abgesehen davon, war Nativ natürlich auch mit Spionage befasst. Es ist kein Geheimnis, dass jahrzehntelang Immigranten aus der Sowjetunion bei ihrer Ankunft vom Shin Beth ausgefragt wurden, was sie über das Militär, die Wirtschaft und andere Einrichtungen in ihrer früheren Heimat wussten. Die so gesammelten wertvollen Informationen gaben Israel bei den westlichen Nachrichtendiensten einen hohen Rang.
Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes sollte Nativ aufgelöst werden, aber wie jede bedrohte Organisation kämpfte sie um ihr Leben. Man entschied, sie intakt zu lassen und sie in allen früheren Sowjetrepubliken mit der Einwanderung nach Israel zu beauftragen. Sie sollten jetzt absichern, dass die Immigranten nach dem religiösen Gesetz koschere Juden seien.
Die religiösen Referenzen der Immigranten interessiert dagegen Nativ viel mehr als kriminelle Strafregister, über das sie womöglich selbst verfügen. Es scheint, dass Nativ keine Kontakte mit der russischen Polizei hat, die sie wahrscheinlich wiederum anderer Aktivitäten verdächtigt.
So geschieht es, dass man eine Person wie Karlik, jemand, gegen den wegen gewalttätigen Raubes ermittelt wurde, für die Einwanderung geeignet fand. Sein ethnischer Stammbaum war tadellos. Nach seiner Ankunft in Israel beantragten die russischen Behörden offiziell seine Auslieferung wegen Raubes; aber die Forderung wurde zurückgewiesen. Dem entkommenen Räuber wurde sogar eine Waffenlizenz erteilt und ihm erlaubt, als Wächter zu arbeiten.
Teitels Fall ist ähnlich. In den USA gibt es zwar keine Nativ, aber die Logik derer, die dort den Auftrag haben, zur Einwanderung nach Israel zu ermuntern, ist dieselbe: Immigranten zu bringen, ohne unnötige Fragen zu stellen. Nach dem religiösen Gesetz bleibt ein Jude ein Jude, auch wenn er sündigt.
DIESE AFFÄREN werfen ein Licht auf eines der leitenden Prinzipien des zionistischen Establishments: Juden nach Israel zu bringen – unter allen Umständen und zu jedem Preis. Die Statistiken müssen in diesem Jahr – wie in jedem anderen Jahr – eine Rekordzahl von Juden zeigen, die „Aliyah gemacht“ haben. In vielen Gemeinden wird der Bodensatz zusammen gekratzt, um noch mehr Juden zu bringen. Emissäre finden „verlorene Stämme“ von Juden in Peru und Äthiopien, in Indien und China.
In solch einer Situation besteht eine verständliche Versuchung, die kriminelle Vergangenheit von möglichen Immigranten zu übersehen. Was sollte also mit einem koscheren Juden geschehen, der eine Bank überfallen oder Kinder missbraucht hat? In Israel wird er seine Lebensweise vielleicht ändern. Oder wenn jemand im Ausland wegen illegalen Waffenhandels, wegen Geldwäsche oder Verkaufs von Blut befleckten Diamanten vor Gericht gestellt wurde – er wird willkommen geheißen. Und wenn er seine Millionen mitbringt, werden die Führer des Staates glücklich sein, sich in seiner Gesellschaft photographieren zu lassen.
Das stimmt natürlich nur, wenn ein Immigrant Jude nach der Halacha ( religiöses Gesetz) ist.
Wenn er ein Goy ist, dann ist die Geschichte ganz anders. Das ist der Bereich des Führers der Shas- Partei Eli Yishai.
IN DER gegenwärtigen israelischen Regierung gibt es mehrere Kandidaten für den Titel Oberrassist. Eine objektive Jury hätte einige Schwierigkeiten, unter ihnen den richtigen auszuwählen.
Favorit ist der Außenminister Avigdor Lieberman, ein „beglaubigter“ Rassist, dessen ganze politische Karriere in Israel auf Hass gegen Araber und Ausländer aufgebaut ist. Er war es , der den Kipa tragenden Anwalt Ya’acov Ne’eman zum Justizminister ernannte, der jetzt eifrig damit beschäftigt ist, die außerordentlich wichtige Position des Rechtsberaters für die Regierung (was der Funktion eines Staatsanwaltes entspricht) abzusichern, einem Richter zu übertragen, der in einer Yeshiva (orthodoxe Schule) erzogen wurde, und in einer der extremsten Siedlungskolonien lebt und der wegen einiger rechtsradikaler Urteile berüchtigt wurde. Binyamin Netanyahu selbst ist natürlich auch ein exzellenter Kandidat.
Aber der König der Rassisten ist der Innenminister. Er ist gefährlicher als seine Kollegen, weil er die absolute Macht über den zivilen Status jeder Person in Israel hat, über die Ein- und Auswanderung, das Einwohnerregister und die Vertreibung von Ausländern. In dieser Position tut er gegenüber Ausländern genau das, was andere in andern Ländern gegenüber Juden praktiziert haben. Er ist unermüdlich beim Bewahren des wirklichen Israels – nicht des „jüdischen und demokratischen Staates“ , wie er offiziell definiert wird, sondern des „jüdischen und demographischen Staates“. Für diesen Zweck hat er kürzlich eine spezielle Para-Polizeitruppe geschaffen, um Ausländer ausfindig zu machen und sie zu deportieren.
Es ist nicht einfach zu entscheiden, ob Yishai ein extremer Fanatiker oder ein kompletter Zyniker ist oder eine seltene Kombination von beidem. Als Shas noch eine moderate Partei war, als vor langer Zeit ihr Guru Rabbiner Ovadya Josef entschied, es sei erlaubt, die besetzten Gebiete zurückzugeben und ihr vorheriger Führer Aryieh Deri der Liebling der Linken war, erklärte auch Yishai sein „Ja zu Oslo, Ja zur Evakuierung (der Juden) aus Hebron, Ja zu Arafat!“ Aber seitdem ist viel schmutziges Wasser unsere verdreckten Flüsse hinabgeflossen. Shas ist eine radikale Partei des rechten Flügels geworden, und Yishai ist jetzt der extremste Rechte in der Regierung.
Seine unerschütterliche Neigung zur Reinheit der Rasse lässt fast Bewunderung hochkommen. Es vergeht kaum ein Tag ohne einige schockierende Nachrichten über seine Aktivitäten. Er kämpft wie ein Tiger für die Ausweisung von 1500 Kindern ausländischer Arbeiter, die hier in Israel geboren wurden, Hebräisch sprechen, israelische Schulen besucht und die keine andere Heimat haben. Yishai ist bereit, sein Leben für ihre Ausweisung zu geben.
Der Innenminister verhindert die Einreise amerikanischer und europäischer Bürger mit einem arabischen Namen. Offizielle der UN und der EU, die die Verantwortung für palästinensische Projekte haben, können normalerweise nicht von Jordanien ( oder anderswo) ins Land einreisen, und wenn sie dann irgendwie doch den Passierschein erhalten – ist es ihnen verboten, die Grüne Linie nach Israel zu überqueren. Ausländische Frauen, die mit Israelis verheiratet sind, werden gnadenlos ausgewiesen. Es gibt unzählige Beispiele dafür.
Nach Ansicht von Yishai ist jeder Sohn eines Thailänders ein Feind des jüdischen Staates, jede Tochter eines kolumbianischen Arbeiters eine Bedrohung für die Reinheit des jüdischen Volkes. Er erklärte, dass die ausländischen Arbeiter eine „Infektion“ seien und warnte davor, dass Tel Aviv „Afrika wird“. Er hat bekannt gegeben, dass Ausländer schreckliche Krankheiten mit sich bringen wie AIDs, Tuberkulose und ähnliches .(Und in dieser Hinsicht gleichen sie Schwulen und Lesben, die nach Yishai, „Kranke“ seien.)
Solch eine Person würde im Kabinett der USA oder in den meisten europäischen Ländern nicht Minister bleiben. Im Land der Nürnberger Gesetze würde sie nicht einmal in die Nähe einer Regierungsposition kommen.
Vor nicht langer Zeit – während der „Operation Cast Lead“ – verlangte Yishai, dass wir „Tausende von Häusern bombardieren, um Gaza auszuradieren“ – was ihn nicht daran hinderte, den Richter Richard Goldstone als abscheulichen Antisemiten zu denunzieren. Er selbst riskierte übrigens nie seine Haut als kämpfender Soldat – dieser Nationalheld diente als Unteroffizier für religiösen Dienst in einer Transporteinheit.
Vor 800 Jahren prägte Rabbi Moshe Ben-Nahman, Nahmanides genannt, den Ausdruck „Von der Tora genehmigte Schurken“ – gemeint war damit eine Person, die verabscheuungswürdige Dinge tut, die aber nicht ausdrücklich in der Bibel verboten sind. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Bezeichnung für Yishai passt, da die Bibel mehr als einmal die Misshandlung von Fremden verbietet – „ … dass ihr keine Gewalt übt gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen“ (Jer. 7,6), „ ..und hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt“ (5.Mos. 18) und viele andere Gebote in diesem Sinne.
ABER NOCH wichtiger als Yishai selbst ist das Phänomen, das er vertritt: die Beschwörung des demographischen Dämon, der das Land heimsucht.
62 Jahre nach der Gründung lebt der Staat Israel noch immer in Furcht vor der „demographischen Gefahr“. Er hat Angst vor seinen arabischen Bürgern, und deshalb diskriminiert er sie auf jedem Gebiet. Er hat Angst vor den vierhunderttausend Russen, die mit ihren jüdischen Verwandten in Übereinstimmung mit dem Rückkehrgesetz ins Land kamen, deren Mütter aber nicht jüdisch waren. Hier gibt es einen inneren Widerspruch: während die Nativ-Agenten daran interessiert waren, die Anzahl der Immigranten zu erhöhen, verweigern Yishai und seine Leute genau diesen Immigranten das Recht, Juden zu heiraten oder auf einem jüdischen Friedhof beerdigt zu werden. Sie dienen in der Armee, aber wenn sie im Kampf gefallen sind, können sie nicht neben ihren Kameraden beerdigt werden.
Beinahe alle jüdischen Israelis wünschen einen Staat mit einer hebräischen Mehrheit, wo die hebräische Sprache, Kultur und Tradition gepflegt wird. Aber viele von uns wünschen keinen Männer- Frauen- und Kinder-jagenden Staat, abgesperrt für Asylsuchende und wo ausländische Arbeiter, die die Gastfreundschaft länger in Anspruch nehmen, in ständiger Angst leben wie unsere Vorfahren in den Ghettos.
Um diesen Dämon auszutreiben, haben wir, meine Freunde und ich – eine Gruppe von Bürgern – vor dem Gerichtshof Anträge gestellt und darum gebeten, dass die Angabe unter „Nation: Jüdisch“ im Einwohnerregister des Ministeriums ersetzt werden möge durch „Nation: Israelisch“. Unsere Anträge wurden vom Richter Noam Solberg zurückgewiesen – also von genau jenem Richter für dessen Ernennung zum Generalstaatsanwalt der Justizminister Berge bewegen würde.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)
14.11.09