DER MOLOCH

Metropolis_1927

Aus Brüssel heraus vollzieht sich die epochale Transformation von Staatsgebilden eines Kontinents zu einer sich selbst begründenden Plutokratie, in einer wunderbaren Welt der Supranationalisten. Über einen Baustein in diesem epischen, imperialen Konstrukt, berät derzeit das deutsche Bundesverfassungsgericht. Anlässlich dieser Entscheidung  über die „Vorratsdatenspeicherung“, beleuchtet Radio Utopie in einer Artikelreihe Aufbau, Entwicklung und Struktur der sogenannten „Europäischen Union“. (Bild: aus „Metropolis“, 1927)

Am 15. Dezember 2009 begann, mit 2 Jahren Verspätung, vor dem 1.Senat des Bundesverfassungsgerichtshof in Karlsruhe die mündliche Verhandlung über eine Verfassungsbeschwerde, die 30.000 Staatsbürger Ende 2007 gegen die sogenannte „Vorratsdatenspeicherung“ eingebracht haben. Diese Verfassungsbeschwerde zielt gegen ein Gesetz zur strategischen Telekommunikationsüberwachung der Bevölkerung durch Exekutivbehörden und Konzerne, welches die „große Koalition“ aus SPD, CDU und CSU ausgerechnet am 9.November 2007 im deutschen Parlament beschloss. Dieses Gesetz wiederum folgt einer einfachen Direktive der deutschen Regierung, welche diese zuvor gemeinsam mit den anderen Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten im Jahre 2006 beschlossen hatte.

Diese Direktive wiederum war nur ein Puzzleteil des 2004 in Den Haag gestarteten zweiten 5-Jahresplans der Brüsseler Regierungsräte zum substantiellen und strukturellen Abbau von Grundrechten, Gewaltenteilung und Demokratie im eigenen Einflussraum- dem „Haager Programm„. Der erste strategische Plan dieser Art, das „Tampere Programm“, begann im Jahre 1999. Den dritten 5-Jahresplan, das bis 2014 reichende „Stockholmer Programm„,  beschloss der „Europäische Rat“ der Staats- und Regierungschefs am 11.Dezember 2009.

Über diese strategischen Programme, den Kern einer im Stillen organisierten Transformation der Lebensbedingungen von einer halben Milliarden Menschen – und darüber hinaus -, wird noch zu berichten sein. Doch nun zum Konstrukt „Europäische Union“, wie es sich im Jahre 2010 darstellt.

DAS EU-KONSTRUKT UND SEINE ENTSCHEIDER

Das Konstrukt „Europäische Union“ ist folgendermaßen aufgebaut: an der Spitze eines pyramidal aufgebauten Apparates stehen Entscheidungsgremien, sogenannte „Räte“. Diese Räte haben, entgegen allen fundamentalen Prinzipien der Gewaltenteilung und Demokratie, sowohl legislative, als auch exekutive Befugnis. Des Weiteren sind diese Gremien nie gewählt worden. Selbst ihre einzelnen Teilnehmer sind nur teilweise direkt vom Volk gewählt, zumeist wurden sie (wie z.B. die deutsche Kanzlerin) indirekt gewählt, durch ein Parlament. Ein nicht unerheblicher Teil der Mitglieder in den EU-Räten jedoch ist nie gewählt, sondern lediglich ernannt worden.

Nach wie vor ist der exakte Aufbau dieses Apparates den wenigsten Bürgern in den Mitgliedsstaaten der „Europäischen Union“ geläufig.

– der „Europäische Rat“ (auch „EU-Gipfel“). Er ist das höchste Entscheidungsgremium der EU und tagt halbjährlich. Mitglieder sind die amtierenden Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedsländer. Seit dem Lissabon-Vertrag wählt dieses Gremium einen „Präsidenten des Europäischen Rates“ („Ratspräsidenten“), der selbst nicht Mitglied dieses Rates (also Staats- und Regierungschef in einem Mitgliedsland) sein muss, um gewählt zu werden.

Seit dem 1.Dezember 2009 ist der bis dahin als belgischer Premierminister amtierende Herman Van Rompuy EU-Ratspräsident. Er hat faktisch keine Machtbefugnisse und dient lediglich als Repräsentant. Hintergrund ist der Plan, diesen Posten im Zuge der laufenden Transformation der „Europäischen Union“ mit dem Posten des „EU-Kommissionspräsidenten“ verschmelzen zu lassen und so ein mächtiges zentrales Amt in der Brüsseler Plutokratie zu schaffen (zur „Kommission“ und seinem „Präsidenten“ gleich mehr).

– der „Rat der Europäischen Union“, (auch „EU-Rat“ oder „EU-Ministerrat“). In ihm sitzen lediglich bevollmächtigte Vertreter der Mitgliedsregierungen. Das können Minister, aber auch einfache Ministerialbeamte oder Bürokraten sein. Ebenso wie der übergeordnete Europäische Rat / EU-Gipfel hat dieses zentrale Entscheider-Gremium der EU die Macht, durch einfachen Entscheid direkt als Gesetzgeber für die deutsche Bevölkerung zu wirken.

Nun aber der Clou: dieses zentrale Entscheider-Gremium der EU ist in Wahrheit gar kein Gremium, sondern eine Vielzahl von Gremien. Unter dem Siegel „EU-Rat“ / „Rat der Europäischen Union“ existieren insgesamt 10 Räte, genannt „Ratsformationen“. Vor dem Inkraftreten des Lissabon-Vertrages waren es neun, bis zum Jahre 2000 sogar zwanzig Räte.

Als „EU-Rat“ agieren die Räte für „Allgemeine Angelegenheiten“, „Auswärtige Angelegenheiten“, „Wirtschaft und Finanzen“,  „Justiz und Inneres“ (!), „Beschäftigung“, „Sozialpolitik“, „Gesundheit und Verbraucherschutz“, „Wettbewerbsfähigkeit“, „Umwelt“, „Bildung, Jugend und Kultur“, „Verkehr, Telekommunikation und Energie“, „Landwirtschaft und Fischerei“.

Jeder dieser Räte hat Gesetzgeber-Kompetenz und tagt, so heisst es im Wikipedia-Eintrag, „in der Regel zweimal pro Ratspräsidentschaft, also alle drei Monate, auf Ministerebene“. Andere Räte tagen öfter, wie es heisst: monatlich. Die Sitzungen der Räte sind aber nur dann öffentlich, wenn sie „EU-Gesetze“ beschliessen. Die Tagungsfrequenz dieser Gesetzgebungs-Organe bleibt also undurchschaubar.

– die Europäische Kommission“ (kurz „EU-Kommission“). Die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten ernennen jeweils einen Kommissar in dieses Gremium, welches das höchste ausführende Organ des EU-Beamtenapparates in Brüssel darstellt. Das sogenannte „EU-Parlament“ hat dabei lediglich die Kompetenz, die gesamte Kommission durch Mehrheitsbeschluss von Abgeordneten aller Mitgliedsländer abzulehnen, was natürlich noch nie passiert ist.

Zu dem gewaltigen Unterbau der Kommission, ihren „Direktoraten“ und gleichgestellten „Agenturen“ mehr in einem nächsten Teil der Artikelreihe. Zunächst zu ihren legislativen Rechten als Gesetzgeber:

Die „unabhängigen“ Kommissare, ernannt durch ihre jeweilige Regierung in den EU-Mitgliedsstaaten, hatten bis zum 1.Dezember 2009 das alleinige Initiativrecht EU-„Gesetze“ (Rechtsakte) einzubringen. Das hat sich jetzt mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages geändert. Besser geworden ist es aber, entgegen allen Beteuerungen, keineswegs – im Gegenteil.

DIE EU-„GESETZGEBUNG“: ENTSCHEIDER  UND „RECHTSAKTE“

Die von den Entscheidern, also den Räten, beschlossenen Rechtsakte gliedern sich wie folgt auf:

1.Verordnungen
2.Direktiven / Richtlinien
3. Beschlüsse / Entscheidungen
4. Empfehlungen / Stellungnahmen

Umschrieben wird diese EU-„Gesetzgebung“ im „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (1), der durch den seit dem 1.Dezember gültigen Lissabon-Vertrag entsprechend umbenannt und verändert wurde. In diesem „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“  heisst es in Artikel 288 (ex-Artikel 249 EGV):

„Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union nehmen die Organe Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an.

Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.
Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.
Beschlüsse sind in allen ihren Teilen verbindlich. Sind sie an bestimmte Adressaten gerichtet, so sind sie nur für diese verbindlich.
Die Empfehlungen und Stellungnahmen sind nicht verbindlich.“

Das Verfahren zum Entstehen von „Rechtsakten“ ist in Artikel 294 festgelegt: Im Rahmen der „ordentlichen Gesetzgebung“ legt die Kommission Entwürfe für Rechtsakte (Verordnungen, Direktiven / Richtlinien, sowie Beschlüsse / Entscheidungen) den 10 EU-Räten und dem EU-Parlament vor. Das EU-„Parlament“ hat durch den Lissabon-Vertrag nun bei bestimmten Ausnahmefällen das Recht, nein zu sagen.

Jetzt muss man sich praktisch überlegen, wie man auch nur ein einmaliges Nein im EU-„Parlament“ organisiert – zwischen Abgeordneten aus verschiedenen Ländern, die über Interessensgruppen ihrer Länder auf die Wahllisten befördert wurden und weit weg von zuhause sind, ohne Druck durch die Wähler ihrer Staaten, die sie (zumeist innenpolitisch dominiert) nie direkt und mit nur knapp der Hälfte aller Wahlberechtigten überhaupt gewählt haben.

Selbst wenn dieses EU-„Parlament“ also ein einziges Mal nein zu irgendetwas sagt, läuft es wie bei der Volksabstimmung in Irland: es wird einfach solange abgestimmt, bis die Pläne des Regierungsrates und seiner Kommissare schliesslich doch zugestimmt wird.

Kommen wir nun zu der Bedeutung der Direktiven. In der Frage der Frage der Entscheidungsprozesse und realen Machtverhältnisse innerhalb der EU, sowie der Bedeutung des Grundgesetzes im alltäglichen politischen Geschäft, findet man im deutschsprachigen Wikipedia endloses, vernebelndes Geschwafel. Wie der Laden wirklich läuft, findet man recht unverblümt auf der Webseite der Universität Hamburg, vom „Institut für Recht der Wirtschaft“ (2). Über die Direktiven bzw Richtlinien heisst es da:

„2.Richtlinie:
Richtlinien sind innerhalb einer Frist in nationales Recht umzusetzen.
-Die Richtlinie gleicht nationales Recht an, vereinheitlicht es aber nicht.
-Richtlinien sind Normen mit gestufter Verbindlichkeit.
-Richtlinien entfalten Verbindlichkeit für ihre Ziele für alle Mitgliedstaaten, überlassen den Mitgliedsstaaten aber
die Wahl der Formen und Mittel. (den früheren Rahmengesetzen d. deutschen Staatsrechts im Verhältnis zwischen Bund und Ländern vergleichbar) Ausnahmsweise aber unmittelbare Wirkung, falls sonst ein „Leerlaufen“ der Richtlinie im Mitgliedsstaat.
Voraussetzungen:
1) Umsetzungsfrist abgelaufen

2) Inhalt unbedingt und hinreichend bestimmt
3) individuelle Rechte des Bürgers begründet“

Also sind nicht nur Verordnungen der Regierungen und Kommissare sofort Gesetz in Deutschland, sondern nach einer Frist, oder dem Umweg einer regulären staatlichen Gesetzgebung in den EU-Mitgliedsländern, auch die Direktiven (Richtlinien).

Dabei wird die Verfassung der Deutschen „operativ“, wie es im militärisierten Sprachgebrauch immer so schön heisst, längst systematisch gebrochen und dem „EU-Recht“ untergeordnet.  Wenn das Grundgesetz auch offiziell noch nicht ausser Kraft gesetzt ist – real, unter Hand, gilt das längst als gesprochenes Recht. Noch einmal das „Institut für Recht der Wirtschaft“ der Uni Hamburg (2):

„Sekundäres Gemeinschaftsrecht und BVerfG (Anm: das Bundesverfassungsgericht) : BVerfG akzeptiert grundsätzlich den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem GG, insbesondere den Grundrechten.
Das BVerfG hat seine Prüfungskompetenz auf den extrem unwahrscheinlichen Ausnahmefall eines Absinkens gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsstandards beschränkt.“

DIE NEUE MACHT VON RAT, ZENTRALBANK UND EU-GERICHT: DAS INITIATIVRECHT

Im nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages veränderten „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (1)  heisst es nun in Artikel 294, Absatz 15:

„Wird in den in den Verträgen vorgesehenen Fällen ein Gesetzgebungsakt auf Initiative einer Gruppe von Mitgliedstaaten, auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank oder auf Antrag des Gerichtshofs im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen, so finden Absatz 2, Absatz 6 Satz 2 und Absatz 9 keine Anwendung.

In diesen Fällen übermitteln das Europäische Parlament und der Rat der Kommission den Entwurf des Rechtsakts sowie ihre jeweiligen Standpunkte in erster und zweiter Lesung. Das Europäische Parlament oder der Rat kann die Kommission während des gesamten Verfahrens um eine Stellungnahme bitten, die die Kommission auch von sich aus abgeben kann. Sie kann auch nach Maßgabe des Absatzes 11 an dem Vermittlungsausschuss teilnehmen, sofern sie dies für erforderlich hält.“

Dazu schrieb am 7.Juli 2008 der „European Law Blog“ (3):

„..ein ganz neuer Aspekt, der bisher selbst von Befürwortern des Vertrags nicht ausdrücklich erwähnt wird, ist der neue Absatz 15 in Artikel 294 EGV (der den heutigen Artikel 251 EGV neu fasst).. Dies bedeutet, dass die Kommission nicht mehr alleiniges Organ mit einem Initiativrecht wäre, sondern dass sogar die EU-Mitgliedstaaten selbst ein Initiativrecht erhalten sollen. Dies würde die Mitgliedstaaten im europäischen Gefüge nochmals stärken, da sie unmittelbar zu Initiatoren bei der Gesetzgebung würden.

Es wäre dann auch denkbar, dass zB aufgrund von Klagen beim EuGH dieser dazu angeregt werden könnte, von seinem vorher nicht vorhandenen Initiativrecht Gebrauch zu machen und Vorschläge zu einer Änderung der Rechtslage dem Europäischen Parlament und dem Rat vorzulegen.

Die Kommission, die zuvor alleinig das Initiativrecht hatte, würde in solchen Verfahren in den Hintergrund rücken und lediglich beratende Funktion haben oder die Möglichkeit behalten, auf Verfahrensfehler, die zur Nichtigkeit einer Norm führen könnten, aufmerksam zu machen.“

Man muss sich sowohl den neuen Vertragstext, den weder mehr als 0.001% der Staatsbürger Deutschlands, noch die anderer Staaten im EU-Raum kennen dürften, wirklich zweimal durchlesen. Ebenso den Kommentar dazu.

Die EU-Regierungsräte können, vollkommen an der Kommission vorbei, selbst Rechtsakte verfassen, vorlegen und dann selbst beschliessen? Die Zentralbank, die EZB, hat das Initiativ-Recht eine EU-Verordnung oder eine EU-Direktive den Räten vorzulegen? Der EuGH hat die Möglichkeit Klagen dadurch wegzuwischen, in dem er selbst in den Gesetzgebungsprozess eingreift? Was für einen Wahnsinn haben die „Parteien“ des Bundestages, samt seiner Juristen, uns und allen zukünftigen Generationen von Deutschen da eigentlich um den Hals gehängt?

Dazu kommen die ganzen Details der konkreten Umsetzung dieser „Gesetzgebung“. Die 10 EU-Räte unter dem Siegel „EU-Rat“ bzw. „Rat der Europäischen Union“, sie setzen sich auch aus einfachen Stellvertretern der Regierungen und ihrer Minister zusammen. Der „t-blog“ am 3.Dezember 2009 (4):

„Noch nicht einmal widerspruchsfrei ist er, der Vertrag von Lissabon. Natürlich ist der faktische Gesetzgeber der Rat (der Regierungschefs), ein klarer Verstoß gegen bewährte Grundsätze der Gewaltenteilung. Denn wird das Parlament nicht aktiv, erlangen die Ratsbeschlüsse automatisch Gesetzeskraft. Dazu muss man auch noch wissen, dass der Europäische Rat, der soviel Macht hat, in verschiedenen Zusammensetzungen tagt: Oft sind es gar nicht die Regierungschefs, die entscheiden, sondern auch oft Fachminister oder schlicht Ministerialbeamte! Vielleicht sind die auch gerade als Lobbyisten von Firmen als „Leihbeamte“ in die Regierung entsandt. Das würde vieles erklären.“

ERGÄNZUNG: DIE ROLLE DES „PARLAMENTES“

Radio Utopie kann und will hier Anhängern der „Europäischen Union“ keine vollständige Erklärung ihres irrationalen Wunsches nach einem Ende von Demokratie, Gewaltenteilung und Souveränität des eigenen Staates liefern. Um aber die üblichen Argumente hinsichtlich eines vermeintlich „parlamentarischen“ Ablaufs der „EU-Gesetzgebung“ zu widerlegen, hier noch die Hinweise, die sich theoretisch jeder selbst zusammensuchen könnte, wenn Er oder Sie es denn wollte.

Im oben erwähnten „Vertrag über die Handlungsweise der Europäischen Union“ (1) heisst es in Artikel 294, Absatz 1:

Wird in den Verträgen hinsichtlich der Annahme eines Rechtsakts auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren Bezug genommen, so gilt das nachstehende Verfahren.“

Nun müsste man zuerst wissen, was exakt passiert, wenn in den Verträgen nicht auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren Bezug genommen wird. Aber zuerst zu diesem Fall:

Im Rahmen der „ordentlichen Gesetzgebung“ hat das EU-Parlament, in der Tat, in zweiter Lesung mit der absoluten Mehrheit ihrer Mitglieder das Recht, Rechtsakte abzulehnen.

Leider können abgelehnte Rechtsakte durch die Räte einfach wieder vorgelegt werden – wenn sie „grundlegend überarbeitet“ wurden. Auch muss man sich vor Augen führen, was das heisst: die absolute Mehrheit der Mitglieder. Wie wir alle wissen (wenn wir mal EU-Parlament gucken), ist es schwierig, auch nur eine Anwesenheit der absoluten Mehrheit der Mitglieder des EU-„Parlamentes“ zu erreichen. Wer jetzt im Ernst glaubt, die Haltung der muskelbepackten, vollmotivierten Mitglieder des Abschiebebahnhofs staatlicher Parlamente in Straßburg würden sich zur Ablehnung eines Rechtsaktes der Räte in Brüssel hinreissen lassen, der ihnen nach Überarbeitung sowieso wieder vorgelegt werden kann, ist entweder sehr gutgläubig, oder hat keine Ahnung vom praktischen parlamentarischen Ablauf und politischen Prozessen.

Neben dem „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ gibt es aber noch eine ganze Reihe „besonderer Gesetzgebungsverfahren“, wie das „Konsultationsverfahren“ (CNS), oder das „Zustimmungsverfahren“ (AVC).

Im Konsultationsverfahren, dem bisher üblichen (aber keineswegs abgeschafften) „Gesetzgebungsverfahren“, spielt das EU-„Parlament“ keine Rolle. Es darf lediglich seine „Stellungnahme“ dazu abgeben. Im Zustimmungsverfahren kann es keinerlei Änderungen an den vorgelegten Rechtsakten vornehmen. Des Weiteren geben die sogenannten „Durchführungsbestimmungen“ den Räten und der Kommission jede Möglichkeit, gezielt undefinierte Rechtsakte einfach nach eigenem Gutdünken spezifisch umzusetzen, ohne dass das  „Parlament“ dazu involviert werden müsste. „Vertrag über die Handlungsweise der Europäischen Union“ (1), Artikel 291, Absatz 2:

„Bedarf es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union, so werden mit diesen Rechtsakten der Kommission oder, in entsprechend begründeten Sonderfällen und in den in den Artikeln 24 und 26 des Vertrags über die Europäische Union vorgesehenen Fällen, dem Rat Durchführungsbefugnisse übertragen.“

Ein anderes Beispiel, Artikel 21, Absatz 3:

„Zu den gleichen wie den in Absatz 1 genannten Zwecken kann der Rat, sofern die Verträge hierfür keine Befugnisse vorsehen, gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen erlassen, die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen. Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments.“

Eine Anhörung hat man auch im Beichtstuhl.

Weiter geht´s, aus dem historisch schon immer sehr vertrauenerweckenden Kapitel „Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung“, Artikel 77, Absatz 3:

Erscheint zur Erleichterung der Ausübung des in Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe a genannten Rechts ein Tätigwerden der Union erforderlich, so kann der Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Bestimmungen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente erlassen, sofern die Verträge hierfür anderweitig keine Befugnisse vorsehen. Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments.“

Auf die „Erscheinungen“ der Hohen Ratsherren darf man gespannt sein, ebenso auf die Beichte aus Straßburg. Weiter geht´s, Artikel 81, Absatz 3:

„Abweichend von Absatz 2 werden Maßnahmen zum Familienrecht mit grenzüberschreitendem Bezug vom Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren festgelegt. Dieser beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments.“

Was nun „Maßnahmen zum Familienrecht“ alles bedeuten können, mag sich jeder selbst an die Wand malen. Nur kann er den Pinsel nachher gleich aus der Hand legen, denn übermalen kann er sein Gemälde nicht mehr. Es sei denn, er malt fleissig aus Brüssel im deutschen Strafgesetzbuch rum, mit kostenloser Kopie an Karlsruhe.

Es geht noch weiter: der gesamte Artikel 83 dieses „Vertrags über die Handlungsweise der Europäischen Union“ gibt den faktischen Gesetzgebern Europas, den Ministern und ihren Beamten, jede Möglichkeit in die Hand, durch ein planvoll abgestuftes Eskalations-Szenario nicht nur das EU-„Parlament“, nicht nur die Kommission, sondern auch noch die Mehrheit aller Regierungen der EU-Mitgliedsländern zur Erfüllung ihrer eigenen Pläne vollständig auszuschalten – und zwar zur „Bekämpfung“ von Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegalem Drogenhandel, illegalem Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität.

Es reichen die erklärte Zusammenarbeit von neun Regierungen, dann passiert folgendes:

„Sofern kein Einvernehmen erzielt wird, mindestens neun Mitgliedstaaten aber eine Verstärkte Zusammenarbeit auf der Grundlage des betreffenden Entwurfs einer Richtlinie begründen möchten, teilen diese Mitgliedstaaten dies binnen derselben Frist dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission mit. In diesem Fall gilt die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit nach Artikel 20 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union und Artikel 329 Absatz 1 dieses Vertrags als erteilt, und die Bestimmungen über die Verstärkte Zusammenarbeit finden Anwendung.“

Das heisst – es muss noch nicht einmal ein Beschluss der Räte über den vorgelegten Entwurf einer Richtlinie erfolgen – man erklärt sich qua Votum von neun Regierungen einfach dazu als ermächtigt, diese sowieso umzusetzen.Weitere Highlights lauern in vielen anderen Artikeln, darunter Artikel 89.

Generell gibt es für die gesamte „ordentliche Gesetzgebung“ der „Europäischen Union“ eine Hintertür. Artikel 289:

„(1) Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren besteht in der gemeinsamen Annahme einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses durch das Europäische Parlament und den Rat auf Vorschlag der Kommission. Dieses Verfahren ist in Artikel 294 festgelegt.
(2) In bestimmten, in den Verträgen vorgesehenen Fällen erfolgt als besonderes Gesetzgebungsverfahren die Annahme einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses durch das Europäische Parlament mit Beteiligung des Rates oder durch den Rat mit Beteiligung des Europäischen Parlaments.

Jetzt darf sich jeder fragen, was eine „Beteiligung“ ist. Wenn das nämlich nicht genau definiert ist, heisst es gar nichts. Dann muss man nur noch eine Ecke weiter denken und sich fragen, in welchen Verträgen zwischen den Regierungen der EU-Mitgliedsländer wohl vorgesehen ist, dass das EU-Parlament etwas ohne sie beschließen könnte.

Als letztes Beispiel, für supranationale Naivlinge und Kommentatoren auch dieser Zeitung, sei hier noch die neue Macht der „Europäischen Investitionsbank“ angeführt. Wem jetzt nicht die Haare zu Berge stehen, der hat keine mehr. Wieder Artikel 289, Absatz 4:

„In bestimmten, in den Verträgen vorgesehenen Fällen können Gesetzgebungsakte auf Initiative einer Gruppe von Mitgliedstaaten oder des Europäischen Parlaments, auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank oder auf Antrag des Gerichtshofs oder der Europäischen Investitionsbank erlassen werden.“

Wer jetzt immer noch ernsthaft glaubt, dass Gesetze durch ausführende Institutionen, Plutokraten, Beamte oder Apparate „erlassen“ werden, der wird demnächst ganz ohne Gesetze auskommen müssen. An Befehlen dagegen, an Zucht und Ordnung, da wird es nicht mangeln.

DIE HAUPTMÄNNER VON BRÜSSEL

Minister, etwa in Deutschland, werden nicht gewählt. Sie müssen noch nicht einmal vom Parlament bestätigt werden. Man nimmt ihnen, unter viel Tamtam, den Eid vor dem Parlament ab, aber das war es dann auch schon. Bundesminister werden in Deutschland durch den Kanzler / die Kanzlerin „vorgeschlagen“ und dann vom Präsidenten ernannt. Sie müssen nicht einmal Mitglied des Parlaments, also vom Volk gewählte Abgeordnete sein.

Sogar der Kanzler bzw die Kanzlerin wird nicht vom Volk gewählt. Die Besetzung dieses Amtes wird durch ein Parlament bestimmt, das im Jahr 2009 ganze 16 Wochen überhaupt getagt hat, deren Anwesenheit dann nicht einmal Pflicht ist und die, wenn sie anwesend sind, durch ihr „freies Mandat“ nicht an den Willen derjenigen gebunden sind, die sie dort hinein gewählt haben. Dazu müssen diese, in ihren Handlungen freien Abgeordneten, ihre Reden im Parlament nicht einmal mehr halten. Sie können sie einfach „zu Protokoll geben“.

Einmal vom Kanzleramt ernannt, können Minister durch dieses Parlament nicht einmal abgewählt werden – weil sie ja nie gewählt wurden. Das Parlament hat nur die Möglichkeit, den Kanzler / die Kanzlerin durch ein konstruktives Misstrauensvotum abzuwählen und damit die gesamte Regierung zu stürzen.

Minister ernennen ihre (verbeamteten) Staatssekretäre. Meistens übernehmen sie diese von ihrem Vorgänger, weil sie selbst keine Ahnung von ihrem Amt haben und die meiste Zeit damit zubringen müssen, die Öffentlichkeit darüber in Unkenntnis zu lassen. Die parlamentarischen Staatssekretäre sind inzwischen so auffällig überflüssig, dass offen die Abschaffung dieses Amtes gefordert wird. Da man aber in den „Parteien“ der Öffentlichkeit nicht beichten will, dass und warum man 60 Jahre lang im Bundestag ebenso sinnfreie wie wohl dotierte Posten hatte, bleiben diese Ämter der parlamentarischen Staatssekretäre, als Abschiebebahnhof unfähiger oder/und lästiger Parteifreunde.

Die Bundesminister von Deutschland aber, sie haben nicht nur die ausführende Macht in ihrem Ministerium inne. Sie sind, qua Ernennung durch den Kanzler, Mitglied der EU-Räteregierung in Brüssel. Ihre Staatssekretäre sind es ebenfalls, durch einfache Übertragung dieser Macht zur Gesetzgebung vom Minister. Sogar die Stellvertreter der Staatssekretäre, oder deren Untergebenen, haben diese Macht, wenn sie von ihren Vorgesetzten delegiert werden.

Das heisst, die eigentlich nur Gesetze ausführenden Beamten der Regierungen im Kontinent Europa, sie sitzen in ihren Hauptstädten und wollen mehr Freiheit für sich und ihre Pläne. Um diese Freiheit, die sie meinen – ihr eigenes „freies Mandat“, ihre Handlungsfreiheit – zu erlangen, gehen die Regierungen und die Untergeben in ihren Apparaten nicht mehr zu den Parlamenten, die von den Bevölkerungen sowieso zunehmend ignoriert werden, da sie immer unwichtiger werden. Die Regierungsvertreter setzen sich einfach als Regierungsvertreter in ein Flugzeug und verlassen es in Brüssel als Gesetzgeber, um dann über das eigene Parlament hinweg in einer Räteregierung zu entscheiden, welche sie oder ihre Vorgänger selbst geschaffen haben. In dieser Räteregierung können sie dann Pläne zu „Gesetzen“ machen, die sie selbst entworfen haben, oder andere für sie.

Was aber ist ein „Gesetzgeber“ für die Menschen, wenn er nicht durch sie gewählt wurde und sie ihn nicht abwählen, loswerden, ja seine Entscheidungen nicht einmal beeinflussen können? Was unterscheidet ihn von einem ganz normalen Chef, einem Gutsherren, einem Diktator, einem Vorgesetzten, von dem man seine Befehle bekommt?

Die Antwort ist einfach: nichts.

Der Moloch „Europäische Union“ macht es möglich, durch einfache Ernennung zum „Hauptmann von Brüssel“ über eine halbe Milliarde Menschen zu werden.

(…)

DER MOLOCH (II): Direktive, Direktive über alles? Das Urteil aus Karlsruhe

Quellen:
(1) http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2008:115:0047:0199:DE:PDF
(2) http://www.uni-hamburg.de/fachbereiche-einrichtungen/fb03/irdw/oeff/grundstudium_/oeWiR.4.8.pdf
(3) http://www.law-europe.eu/index.php?s=rechtsakts
(4) http://www.t-blog.de/hintergrunde/ausgewahlt-aus-dem-eu-vertrag-von-lissabon

Rechtschreibfehler korrigiert am 22.06.2014. Der Inhalt wurde nicht verändert.