DAS ENDE DES KRIEGES DER NIEDERLANDE (V): Koalition, Kabale und Krieg

Teil I: “Volkspartei” und Spannungsfall
Teil II: Operateure einer zweiten Invasion

Teil III: Chaos und Komplott
Teil IV: Das stille Murren der stillen Krieger

Bei den Neuwahlen des Unterhauses, der Zweiten Kammer der Generalstände,  gewannen am 22.Januar 2003 die Parteien der kommissarischen Regierung CDA und VVN nur leicht hinzu. Wahlsieger waren die Sozialdemokraten der PdvA, sie gewann 19 % hinzu und konnte ihre Mandate fast verdoppeln. Die Fortuyn-Liste hingegen war förmlich verdunstet. Sie sollte fortan keine Rolle mehr spielen – jedenfalls nicht als Partei. Ihre verbliebenen zwei Minister jedoch, die blieben weiter im Amt.

IM KABINETT DER SCHATTEN

Nun begann die konservative CDA, die Partei von Premierminister Balkenende und Aussenminister de Hoop Scheffer, Koalitionsverhandlungen – und zwar mit der sozialdemokratischen PdvA. Doch kommissarisch im Amt würden, bis zur Wahl einer neuen Regierung, die Minister der CDA, der wirtschaftsliberalen VVD und die zwei verbliebenen Minister der Fortuyn-Liste LPF bleiben.

Diese beiden verbliebenen LPF-Minister waren Integrationsminister Hilbrand Nawijn, sowie Transportminister Transportminister Roelf de Boer, welcher erst im Oktober 2002 auch noch zum stellvertretenden kommissarischen Premierminister ernannt worden war.

Nur zur Erinnerung: am 16.Oktober 2002 hatten Balkenende und die CDA, zusammen mit der wirtschaftsliberalen VVD, in einer Intrige zwei LPF-Minister durch deren eigene Fraktion stürzen lassen, dann allen verbliebenen Ministern (und damit sich selbst) das Misstrauen ausgesprochen und so die Regierung zum Platzen gebracht. Königin Beatrix hatte daraufhin, entsprechend dem Brauchtum, das Parlament aufgelöst und Neuwahlen angesetzt. Roelf de Boer aber sollte, als kommissarischer Transportminister und kommissarischer stellvertretender Premierminister, noch bis bis zum 27.Mai 2003 amtieren – über 2 Monate nach Beginn der Invasion des Irak am 20.März.

SEGELN AUF DER MACHT

Roelf de Boer war (neben seinem Nebenjob in der Fortuyn-Liste) im Oktober 2002 nicht nur zum stellvertretenden Premierminister einer Regierung im Chaos ernannt worden; im gleichen Jahr wurde er auch Präsident der Handelskammer Rotterdam. Immerhin 12 Jahre lang, von 1972-1984, war der spätere niederländische Transportminister aus der Fortuyn-Liste für die traditionsreiche Schiffs- und Transportfirma „Royal Nedlloyd“ in Westdeutschland und Saudi-Arabien tätig.(1)

„Royal Nedlloyd“ ging übrigens hervor aus der 1870 gegründeten „Niederlandlinie“ („Stoomvaart Maatschappij Nederland“) in die Kolonien hervor. Das Motto des Schifffahrts- und Transportimperiums aus der Kolonialzeit: „Always sail the seas“.

1997 ging „Royal Nedlloyd“ in einem der vielen anglo-niederländischen Konzerne auf, welche die traditionsreichen Monarchien und Seemächte stets freundschaftlich bei der gemeinsamen Stange hielten: Royal P&O Nedlloyd. Später kam dann das monarchisch-unternehmerische Karussell erst richtig in Fahrt. Royal P&O Nedlloyd wurde 2005 von der grössten Container-Frachtfirma der Welt aufgekauft, der A. P. Moller-Maersk Group mit Sitz in der Monarchie Dänemark; die A. P. Moller-Maersk Group eröffnete nun in den USA die Maersk-Line, die es sich nicht nehmen liess, später im befreiten Irak eine kleine Filiale aufzumachen, zur Förderung des irakischen Schiffsverkehrs unter neuer Flagge (2). Das aber nur am Rande.

Des Weiteren war der im Oktober zum stellvertretenden Premierminister ernannte Roelf de Boer lange Jahre in führenden Positionen von diversen Schifffahrts- und Transportfirmen, wie der „Furness Shipping Agency Company“ (heute Furness Shipping ltd.) in Rotteram und „Lehnkering Logistics“ in Duisburg. Da floss viel Wasser den Rhein hinab. Ebenso arbeitete de Boer für die „European Waterways Transport Holding“ in Zwijndrecht (einem Konzern der ehemaligen „Ruhrkohle AG“, der RAG Aktiengesellschaft). Derzeit ist de Boer Vorsitzender des „International Advisory Board of the Economic Development Board Rotterdam“, Vorsitzender des „Rotterdam Port Promotion Council (RPPC)“, Vorsitzender von „Deltalinqs“, usw, usw.

Interessanterweise musste so ein emsiger und fleissiger Leistungsträger erst der LPF beitreten, um zu politischen Ämtern und Würden zu gelangen, einer Partei, die in Windeseile nach dem Mord an Pim Fortuyn am 6.Mai 2002 aus dem Boden gestampft worden war und bei den neun Tage später stattfindenden Parlamentswahlen aus dem Nichts 26 Prozent holte.

Warum tat dies Roelf de Boer, der Mann mit dem unverschämt schmalen Wikipedia-Eintrag, nicht gleich in der CDA oder einer der anderen, ehrenwerten etablierten Parteien? Nutzte er nicht seine Aufstiegschancen? Ging er fahrlässig mit seiner Karriere um? War er ein Aussenseiter der Gesellschaft?

Fragen über Fragen.

POLITISCHE UNTERSTÜTZUNG OHNE POLITISCHE UNTERSTÜTZUNG

Verteidigungsminister der Niederlande war nominell immer noch Henk Kamp von der wirtschaftsliberalen VVD, der zudem dieses Amt am 12.Dezember 2002 zusätzlich zum Wohnungs- und Umweltministerium übernommen hatte, nachdem sein Parteikollege Benk Korthals am wegen der dubiosen Bau-Affäre zurückgetreten war. Wieviel Motivation brachte Kamp zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch auf? Über wieviel Autorität im Militärapparat verfügte er zu diesem Zeitpunkt noch? Und wenn er über Autorität im Militärapparat verfügte, warum eigentlich, als kommissarischer Bau- und Umweltminister, der nebenbei noch das Militär in den Krieg führte? Wurden die Koalitionsverhandlungen der CDA – des ehemaligen und wie man bald wissen würde: auch zukünftigen Regierungspartners der VVD – mit der sozialdemokratischen PdvA nur zum Schein geführt?

Alle Zeichen standen auf Krieg. Jeder sah es, jeder musste es wissen. Nur sagte dies keiner. Die entscheidenden Operateure der nur noch geschäftsführenden Rumpfregierung der Niederlande, mit ihrem Premier Balkenende und Ministern die am 22.Juni 2002 mit den Stimmen der Fortuyn-Liste an die Macht gekommen waren, sie gingen einfach weiter nach Plan vor und erzählten der Öffentlichkeit irgendwelche Märchen, genau wie den eigenen Leuten.

Am 17.Mai 2003, so steht es im Bericht der Davids-Kommission (3), „informierte“ der kommissarische Premierminister Balkenende seinen Verhandlungspartner, den PdvA-Vorsitzenden Wouter Bos, dass die Niederlande nicht in der Liste der „Koalition der Willigen“ der US-Regierung aufgeführt werden würde, also in der Liste der Länder, welche zusammen mit den USA und Grossbritannien unter dem Oberfehl von George W.Bush in den Irak einfallen würden.

Natürlich wurde die Niederlande dann später doch in der Liste der Kriegskoalition der „Willigen“ aufgeführt. Das Aussenministerium des späteren Nato-Generalsekretärs Jaap de Hoop Scheffer (CDA) gab später dafür die wahrlich einleuchtende Erklärung ab, man habe aus Den Haag den niederländischen Botschafter in Washington nicht entsprechend seiner Anfragen informiert.

Gleichzeitig wurde aber später behauptet, dass die unmittelbar bevorstehende Invasion des Irak bei den Koalitionsverhandlungen zwischen der konservativen CDA und der sozialdemokratischen PdvA überhaupt kein Thema gewesen sei. Namentlich der kommissarisch amtierende Premier Balkenende und der ebenfalls noch heute amtierende PdvA-Vorsitzende Wouter Bos, hätten „keine klare Regelung“ hinsichtlich der „politischen Unterstützung“ der Niederlande für den Irak-Krieg vereinbart.

In der noch am gleichen Abend folgenden Tagung der geschäftsführenden Regierung – mit den Ministern der CDA, die sich in Koalitionsverhandlungen mit der PdvA befanden, den Ministern der wirtschaftsliberalen VVD, die immer noch den Verteidigungsminister Henk Kamp stellten, sowie den beiden Ministern der Fortuyn-Liste – wurde in der Nacht vom 17. auf den 18.März die „politische Unterstützung“ der Invasion des Irak durch die kommissarisch regierte Niederlande beschlossen. Was das jetzt aber konkret hiess, wurde auf der Tagung des Rumpfkabinetts der „caretaker“ (Hausmeister, Verwalter) überhaupt nicht aufgeführt.

Wer sich einmal die sorgsam über die Jahre aufgeführten Regierungen der Niederlande im entsprechenden englischsprachigen Wikipedia-Eintrag ansieht, dem fällt auf, dass ebenfalls ausgerechnet die Zeit zwischen dem 16.Oktober 2002 und dem 27.Mai 2003 überhaupt nicht aufgeführt ist. Es klafft eine Lücke. (4)

Was war in dieser Zeit geschehen? Existierte die Niederlande zu diesem Zeitpunkt nicht? Herrschte Anarchie?

Gewissermassen. Ein Staat ohne Regierung erklärte einen Krieg und das ohne ihn zu erklären. Denn wie Bertolt Brecht, Zeitzeuge des Weltkrieges zuvor, einmal schrieb: „Unsichtbar wird der Wahnsinn, wenn er genügend große Ausmaße angenommen hat“.

KRIEGSERKLÄRUNG OHNE KRIEGSERKLÄRUNG

Nach dem Gespräch zwischen Balkenende (CDA) und Bos (PdvA) wurde nun in der Nacht vom 17. auf den 18.März durch das kommissarische Balkenende-Kabinett eine „politische Unterstützung“ der Irak-Invasion beschlossen, ohne dass erklärt wurde, was damit eigentlich gemeint sei. Dazu der lapidare Kommentar der Davids-Kommission (1): „Das führte zu Mißverständnissen“. Denn nun passierte folgendes: dem am 22.Januar neu gewählten Parlament – was immer noch keine Regierung gewählt hatte, weil Balkenende und Bos mit einander dealten – wurde nun die Regierungsvorlage eines Beschlusses zum Irak-Krieg vorgelegt. Darin wurde aber die Formulierung „politische Unterstützung“ überhaupt nicht aufgeführt. Erst während der Debatte über den Antrag der „caretaker“-Regierung Balkenendes wurde die Passage „politische Unterstützung“ in den „anschliessenden Austausch“ („subsequent exchange“) des Parlamentes aufgenommen.

Am 18.März 2003 schliesslich beschloss das niederländische Unterhaus dann die „politische Unterstützung“ für die Invasion des Irak, aber keine „militärische Unterstützung“. Dieser Parlamentsbeschluss entsprang einem „Deal“ zwischen den Konservativen der CDA und den Sozialdemokraten der PvdA, der nach aller Wahrscheinlichkeit beim Treffen von Jan Peter Balkenende und Wouter Bos nur einen Abend zuvor bereits in dieser Form verabredet und anschliessend skrupellos durchgeführt worden war.

Da aber die Formulierung „politische Unterstützung“ auch im Parlamentsbeschluss nicht definiert wurde, diente dieser Beschluss des Parlamentes der immer noch kommissarisch amtierenden Regierung Balkenende (mit ihrem Aussenminister und späteren Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer) als Freibrief.

Zwei Tage später brach der Krieg aus. Am 20.März begann die Invasion des Irak, mit der „politischen Unterstützung“ der Niederlande.

Der Krieg war unpopulär; die Mehrheit der Niederländer hatte sich in Umfragen dagegen gestellt. Die konservative CDA und die sozialdemokratische PdvA befanden sich ab dem 22.Januar in stark innenpolitisch geprägten Koalitionsverhandlungen, die monatelang andauerten und erst nach Beginn der Invasion des Irak plötzlich scheiterten.

Am 27.Mai 2003 trat dann das zweite Kabinett Balkendende seine Ämter an: in einer Koalition der konservativen CDA, den Wirtschaftsliberalen der VVD, sowie den Linksliberalen der „Democraten 66“.

Der kommissarische Aussenminister und „caretaker“ Jaap de Hoop Scheffer (CDA) war wieder der reguläre Aussenminister der Niederlande. Aus dem Minister für „Wohnungswesen, Raumordnung und Umwelt“ Henk Kamp (VVD), der am 12.Dezember 2002 ganz nebenbei kommissarisch das Ministerium eines Militärs übernahm, was knapp 3 Monate später „politische Unterstützung“ für die Invasion des Iraks leisten sollte, war nun – simsalabim – der reguläre Verteidigungsminister geworden.

in Teil IV: Legal, illegal, Einmarsch

Quellen:

(1) http://www.speakersacademy.com/index.php?option=com_speakers&task=details&Itemid=110&id=573&lang=en
(2) http://www.maerskline.com/link/?page=news&path=/news/story_page/09/Iraq
(3) http://weblogs.nrc.nl/discussie/files/2010/01/rapport_commissie_irak.pdf
(4) http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Dutch_cabinets

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert