Die „Health Care“-Gesundheitsreform: Sieg der armen Lämmer

Die Schlacht ist vorüber und das bislang Undenkbare ist geschehen: es wird den Menschen wieder besser gehen. Die seit dem Fall des östlichen Imperiums vor 20 Jahren im gesamten Einflussbereich der USA vorherrschende Agenda der Neokonservativen, der sich die Amerikanische Rechte, die Konservativen, sowie grosse Teile der Liberalen, Demokraten und Linken (nicht nur) in den Vereinigten Staaten von Amerika vor die Füsse geworfen haben, ist elementar geschlagen worden.

Gestern spät in der Nacht stimmte die US-Parlamentskammer Repräsentantenhaus mit 219 zu 212 Stimmen einem Gesetzentwurf zur „Health Care“-Gesundheitsreform zu, welcher von der anderen Kongresskammer Senat im Dezember bereits bewilligt worden war. Anschließend beschloss das Repräsentantenhaus mit 220 zu 211 Änderungen am eben abgesegneten Gesetz. Diese Änderungen können nun im Senat durch die absolute Mehrheit der 59 Senatoren der „Demokraten“ gegen die 41 Senatoren der „Republikaner“ beschlossen werden, ohne die vorher notwendige 60 zu 40 Mehrheit für umfassende Gesetzespakete.

Damit ist in der Republik USA ein fundamentaler Fortschritt für die Menschen erkämpft worden, für die Generationen von Demokraten ihr Leben lang gekämpft haben.

Ausnahmsweise sei hier auch der Präsident zitiert, der Demokrat Barack Obama. Wer fair ist, muss diesen Sieg auch ihm zurechnen. Warum und wieso er und die Parteielite der Demokratischen Partei sich letztlich entschlossen, entgegen aller Gewohnheit ein einziges Mal Wort zu halten, standhaft zu bleiben und zu siegen, zu siegen, das soll hier einmal außen vor gelassen werden.

„Heute Nacht, nach annähernd 100 Jahren des Redens und der Frustration, nach Dekaden des Versuchens und einem Jahr andauernder Anstrengung und Debatte, hat der Kongress der Vereinigten Staaten schliesslich erklärt, dass Amerikas Arbeiter und Amerikas Familien und Amerikas kleine Geschäftsleute die Sicherheit zu Wissen verdienen, dass hier, in diesem Land, weder Krankheit noch Unfall die Träume gefährden mögen, für deren Erreichen sie ihr Leben lang gearbeitet haben.

Heute Nacht, zu einer Zeit als die Experten sagten es sei nicht länger möglich, erhebten wir uns über das Gewicht unserer Politik. Wir hielten gegen den unzulässigen Einfluss von Sonderinteressen. Wir ergaben uns nicht dem Mißtrauen oder dem Zynismus oder der Furcht. Stattdessen bewiesen wir, dass wir immer noch Menschen sind, die imstande sind Grosses zu bewegen und unsere grössten Herausforderungen zu bewältigen.“

Der erbitterte Widerstand der Rechten, Konservativen und Neokonservativen gegen eine Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung, die von der Gesundheitsindustrie nicht mehr einfach gekündigt werden kann wenn der Versicherte krank wird, ist durch mehrere Faktoren zu erklären. Logische, rationale, oder politische gehören nicht dazu.

Faktor Nr.1 war die in Jahrzehnten ins Unermessliche gewachsene Arroganz der neokonservativ geführten Rechten, sowie der damit einhergehende Aberglaube an die eigenen Lügen und Erfindungen. Eine von wenigen nahestehenden Konglomeraten beherrschte Informations- und Unterhaltungsindustrie bediente die fiktive Rechtfertigung für die eigenen Privilegien und den eigenen Wohlstand; dieser sei quasi rechtmässiges Geschenk Gottes gegenüber den faulen Armen, deren Elend und Leiden und Sterben an Krankheiten einfach nur gerecht sei. Diese Grundhaltung, diese Geisteshaltung wurde so regelmässig und rituell bedient, dass sie eine illusorische, sektiererische Selbstbestätigung beförderten, welche die Anhänger der Konservativen und Neokonservativen die eigenen Kräfte maßlos überschätzen liess; denn der weltweite Vormarsch der Neokonservativen Agenda in den letzten 20 Jahren lag nicht an deren Stärke – er lag an der Schwäche, der Korruption und der Feigheit ihrer Gegner, an derem schändlichen, erbärmlichen Verrat an allem, was ihnen im Staffellauf der Generationen in die Hände gegeben und anvertraut worden war.

Vor zwanzig Jahren endete in der Sowjetunion sowie ihrem Einflussbereich nicht nur ein jahrelanger Krieg in Afghanistan, sondern auch ein fundamentaler Reform- und Demokratisierungsversuch des leitenden Machthabers Michail Gorbatschow mit dem Zusammenbruch des Imperiums. Das führte in Europa und Amerika zu dem epischen Mißverständnis, dieses sei nicht etwa durch das ermöglicht worden, was den Westen von der Sowjetunion unterschied, sondern im Gegenteil genau durch diejenigen Kräfte ermöglicht worden, deren imperiale Vorstellungen sich von den sowjetischen bis heute in Nichts unterscheiden. Anstatt die eigenen Werte von Freiheit, Demokratie und Verfassung zu behalten und ohne die Erstarrung des Kalten Krieges endlich umsetzen, wurde nun nicht nur das zerfallene Imperium des Gegners assimiliert; es wurde ausserdem versucht, den eigenen Einflussbereich durch Schattenkriege, listenreiche geostrategische Konzepte und einen schleichenden, stetigen und skrupellosen Feldzug im Inneren in neue gigantische Sowjetunion alten Musters zu verwandeln. Als Mittel dazu diente die Einschüchterung der eigenen Bevölkerung vor selbst erfundenen Fantasie-Feinden und nicht existierenden, scheinbar allgegenwärtigen Bedrohungen. (DIE MACHT DER ALBTRÄUME – Episode II: Der Fantomsieg)

Der heutige Tag war nun, zumindest in den USA, wieder ein erste Schritt nach vorne, im wahrsten Sinne ein Fortschritt, nach sehr langer Zeit der Rückschritte.

Faktor Nr.2 war der mürrische Widerwille (auch) der Arbeitenden in den USA vor einer Verbesserung – vor jeder Verbesserung, vor irgendeiner Verbesserung ihrer Lage. Das ganze Gejammer von der vermeintlichen Ohnmacht des „kleinen Mannes“, dieser alles zersetzende Fatalismus, diese gewollte Apathie und Lähmung, dieser Glaube an die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit hat die Menschen so süchtig nach Niederlagen und Unterdrückung gemacht, dass sie jede schreiende Ungerechtigkeit nur noch zum Anlass nehmen um sich zu schauen, ob sich vielleicht irgendjemand darüber aufregt; tut es jemand, rammen sie diesem das Messer in den Rücken, lustvoll und freudig, die aufgezwungene, falsche Moral wieder bestätigt zu sehen – gegen Stärkere zu kämpfen lohnt sich eben nicht, nur gegen Schwächere.

So ist das Leben – wenn man den Verstand verloren hat und zu dumm ist für die Demokratie, zu verkommen für die Solidarität, eine Schande für die Menschheit und einfach nur so werden will wie der Chef, der Held aus der Seifenoper oder die Schlampe in der Werbung.

Faktor Nr.3 war eine grundfalsche Auffassung der elementaren Begriffe Freiheit und Unabhängigkeit. Diese erfasste viele konservative Intellektuelle, wie Alex Jones. Allein dass der Staat in gesellschaftliche Bereiche eingreift, schafft noch keine Unfreiheit. Wer das glaubt, ist gegen jede Art von Justiz außer der Selbstjustiz, gegen Polizei und für bezahlte Söldner, gegen jede Infrastruktur ohne Bezahlung, wie z.B. ein funktionierendes Strassen- oder Verkehrssystem (was auch die schärfsten Kritiker des Staates selbstverständlich in Anspruch nehmen), gegen kleinste und kleine Normierungen und Regelungen wie Schrauben die zu Muttern passen und letztlich auch gegen die Gewissheit, dass die Verfassung eben immer die Verfassung der Schwächeren ist, weil der Stärkere sie nicht braucht, sondern sich einfach holt was er haben will.

Die Freiheit des Menschen an Krankheiten zu leiden, zu vegetieren und zu sterben, nur weil er arm ist, wer das für Freiheit hält, der hat diese Freiheit nie kennengelernt. Darum ist er zu beneiden, bitte sehr, aber erwarte niemand, dass er sich mit dieser Auffassung von Freiheit in einem fairen demokratischen Wettbewerb durchsetzt. Da mögen sie „Stalinismus“ und „Faschismus“ geifern und hetzen wie sie wollen: wer krank ist, soll gesund werden. Und damit Schluss.

Faktor Nr.4 ist simpel und einfach: die kühl und rational kalkulierenden herrschenden Kreise und Familien in den USA – die Emotionen, Religionen, Stimmungen und Atmosphären je nach Bedarf über die Informationsindustrie hochkochen oder abkühlen lassen und für die eigenen Interessen einsetzen – wollten ein entscheidendes (vielleicht zentrales) Instrument zur Bevölkerungskontrolle behalten: die nackte Angst der Menschen vor einem Krankheitsfall in der Familie, die nackte Angst vor einem Verlust eines Arbeitsplatzes und damit der Krankenversicherung, und damit wiederum einen wichtigen Baustein in der nackten Angst der Menschen vor jeder Art von Autorität, ganz egal was diese mit einem macht.

Ein wichtiger Grund für die US-Amerikaner zu den Streitkräften zu gehen, ist die Krankenversicherung – auch für die Soldatenfamilien. Das Militär gehört zu den grossen Verlierern des gestrigen Tages, seine Niederlage ist größer als es zur Zeit den Anschein hat und diese Niederlage wird ab jetzt mit jedem Tag grösser werden, ganz im Gegensatz zur Zahl der im eigenen weltweiten Krieg dringend benötigten Rekruten.

Die Gläubigen der Klassengesellschaft haben mittlerweile vergessen, dass jede Macht des Menschen über den Menschen – und damit ihre eigene Macht – nur und ausschliesslich auf Gehorsam beruht; verschwindet der Gehorsam, verschwindet diese Macht, verschwinden die Privilegien der Wenigen, verschwindet damit auch ihre Kontrolle über diejenigen, die sie mittlerweile so gewohnt sind, dass sie mehr als jeder andere Angst bekommen bei dem Gedanken, wie sie sich selbst wohl ohne diese Manipulation und Fremdbestimmung aufführen würden. Man sollte diesen ganzen Hasenfüßen allesamt beruhigend ins Ohr flüstern: „Hey, Ihr seid gar nicht so schlecht. Traut Euch.“

Denn die Angst der „Lämmer“ vor der Freiheit ist nicht die grösste Macht der falschen „Hirten“ – viel grösser als die Angst der Schafe vor der Freiheit ist die Angst der Schafe vor den anderen Schafen. Und diese wird von den lieben, den fürsorglichen, den um die „Sicherheit“ ach-so-bekümmerten „Hirten“ im Schafspelz auch stets kräftig geschürt.

Wo nicht gewählt wird, kann man keine Demokratie lernen – zum Beispiel im Militär. Zum Beispiel am Arbeitsplatz. Zum Beispiel in den Konzernen, Ämtern, allen festgefügten Hierarchien. Zum Beispiel in der Schule. Zum Beispiel im College oder an der Universität.

Aber wo sollen die Menschen überhaupt Demokratie lernen? Wo?

Jeder der rechnen kann, weiss, dass die Armen und Arbeitenden in der Mehrheit sind. Jeder der die reale Politik kennt, weiss, dass es deswegen in den „Parteien“ nur darum geht die Armen und Arbeitenden am Zählen zu hindern. Eine „Partei“ für die Armen und Arbeitenden würde den Wohlstand der gesamten nichtsnutzigen Parteien-Kaste insgesamt gefährden. Sie würde sofort gewählt werden und jeden Gegner schlagen. Die Reichen und Privilegierten haben nichts als ihre Lügen, ihre Macht- und Geldmittel und ihre Arroganz auf ihrer Seite – aber ganz bestimmt nicht irgendeine Mehrheit. Das wissen sie und deshalb tun sie stets das Einzige, was ihnen überhaupt den Sieg bringen kann – den Gegner zu bestechen, bzw. seine Verantwortlichen, seine Vorsitzenden, seine Führungsfiguren, seine „Hirten“ einzukaufen. Das wird ihnen auch immer wieder gelingen. Es sei denn, der Druck der wütenden armen Lämmer ist so groß geworden, dass er sich sogar in eine „Partei“ und ein überwiegend als abgetakelte Schmierenkomödie zu bezeichnendem Parlament der Postmoderne im 21.Jahrhundert hineindrückt.

Die einzige Lösung gegen die Reichen und Privilegierten substanziell und dauerhaft zu gewinnen, ist, keine Verantwortlichen, Vorgesetzten, Vorsitzenden, Führungsfiguren oder „Hirten“ mehr zu haben, sondern die Fähigsten für eine bestimmte Zeit in einen bestimmten Job zu wählen und den Rest einfach rauszuschmeissen. Wer dazu zu dumm ist, soll sich eben einen Chef suchen, aber verdammt nochmal über Demokratie, Politik und Freiheit schweigen.

Die „Schafe“ überall auf diesem Planeten sollten zuerst einmal dafür sorgen, dass es allen anderen Schafen nur bis zu einem gewissen Maß schlechter geht als ihnen selbst. Wenn diese Grenze durch die privilegierten Schafe und ihre „Hirten“ im Schafspelz überschritten wird – zuerst verschämt, fast verschmitzt, dann jahrzehntelang, immer hemmungsloser und schliesslich quasi aus Gewohnheitsrecht – dann erzeugt der Versuch diese ganze feudale Ungerechtigkeit wieder herum zu drehen, meist bei allen Beteiligten Schmerzen.

Im besten Falle sind das Schmerzen im Kopf, genannt Kopfschmerzen. Das kommt in der Unterschicht daher, dass ein sehr untertrainierter Muskel wieder beansprucht wird und in der Oberschicht daher, dass einem trotz allerlei Versuchen nichts mehr einfällt um genau das zu verhindern.

Die Reichen und Privilegierten sollte mit diesen Schmerzen zufrieden sein. Sie sollten sich vielleicht sogar dafür bedanken – auch wenn es dagegen keine Versicherung gibt.

Quelle: http://www.nytimes.com/2010/03/22/health/policy/22health.html

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