Stadtbesetzung – öffentliche Räume und Entscheidungen durch die Bürger zurückerobern
Ein Jahreswechsel bringt stets unwillkürlich einen Rückblick auf das vergangene Jahr mit seinen Ereignissen, auf das Erreichte, auf die noch bestehenden und zu lösenden Probleme mit sich. Es ist ein kurzer Moment des Innehaltens, ein Augenblick der Stille – trotz oder gerade wegen der lautstarken Umtriebigkeit, die die Silversternacht dominiert – und ein fester unbestechlicher Blick nach vorn auf die kommenden Monate. (Abbildung Marvel, NASA, Wikipedia)
Für Deutschlands Bürger waren die Ereignisse um den Bahnhof in Stuttgart von elementarer Bedeutung und hat zum ersten Mal seit dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 ein das ganze Land vereinigendes Zusammengehörigkeitsgefühl gebracht.
Jeder kennt Stuttgart – der Name ist zum Symbol geworden. In unzähligen Städten und Gemeinden hat sich 2010 ein neues Selbstbewusstsein in der Bevölkerung herausgebildet, eine demokratische Kultur, bei der die Projekte der Behörden kritisch hinterfragt, diskutiert und ein Mitbestimmungsrecht bei den Entscheidungen eingefordert wird.
„Wie in Stuttgart“ heisst es nun bei der Bewertung der Bürger über sinnlose oder überteuerte Projekte, gemeint ist mit diesem zum geflügelten Wort gewordenem Slogan stets der verborgene Klüngel.
Von kommunaler, landesweiter sowie Bundesebene kommt die leise Drohung „Wir wollen hier doch keine Stuttgarter Verhältnisse“, um Zeit zu gewinnen.
Dafür ist es zu spät. Der Polizeieinsatz am 30.September 2010 hat der Republik endgültig die Augen geöffnet, auf wessen Seite die Politiker stehen: auf der Seite der alles dominierenden Wirtschaftsmafia, die offen und brutal über „Leichen“ geht.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Neujahrsansprache das Defizit der Regierung auf deutliche Weise zum Ausdruck gebracht, indem sie der vergangenen Fussballweltmeisterschaft 2010 breiten Raum einräumte – wohl in dem vergeblichen Versuch, den Geist des Zusammengehörigkeitsgefühls der Deutschen auf diese klägliche Weise mit der Erinnerung an die Nationalmannschaft so wieder heraufzubeschwören.
Kein Mensch ausser den hartgesottenen Fussballfans interessiert sich dafür, das ist Schnee von gestern und hat keinerlei Nachhall hinterlassen. Es war ein Eigentor dieser Regierung, denn dafür sind die Sorgen des überwiegenden Anteils der Einwohner der Kommunen wegen des drohenden Sozialabbaus und den Verteuerungen in vielen Bereichen des Lebens zu gross.
In ganz Europa gehen die Menschen für den Erhalt ihrer bestehenden Lebensverhältnisse auf die Strassen, weil sie nicht auf ihre Kosten die fetten Regierungsgeschenke an die Banken finanzieren wollen, von denen sie im persönlichen Fall bei Zahlungsschwierigkeiten ohne Mitleid gepfändet und zwangsversteigert werden.
Das Jahr 2011 ist anderes als die Vorjahre, die im Rückblick nur als Vorspiel zu dem erscheinen, was die Zukunft bringen wird. Die gesamte Welt wird dieses Jahr als das Jahr der grossen Entscheidungen erleben. Der nicht mehr versteckte Kampf um den Machtanspruch ist ganz offen mit Polizei- und Militäreinsätzen ausgebrochen. 2011 bietet die grosse Chance, diesen menschenverachtenden Kräften jetzt und nicht wenn es zu spät ist Einhalt zu gebieten.
Heute und nicht übermorgen ist der Punkt erreicht, an dem alle aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft mitwirken können und müssen, sonst waren die vergangenen sechzig Jahre in Europa nur ein ruhiges Zwischenspiel der Geschichte.
In diesem Sinne hat die Redaktion von Radio Utopie die folgenden Zeilen von Wolfgang Bächler für unsere Leser herausgesucht, deren Interpretation von jedem für sich selbst vorgenommen werden kann.
Das Team der unabhängigen Raumstation bedankt sich an dieser Stelle herzlich für Ihre Treue und Mitwirkung und wünscht allen ein gutes Jahr und Frieden für die Welt.
Stadtbesetzung
Schwarze Wälder belagern die Stadt, haben sie lautlos umzingelt.
Längst haben sie Vorposten an die Einfallstraßen gestellt, Spähtrupps, Vorhuten, Fünfte Kolonnen bis in den Stadtkern geschickt. Jetzt dringen sie nachts in die Vororte ein, schlagen sie Breschen in Villenviertel, stoßen an die Ufer des Flusses, die Böschungen der Kanäle vor und säumen alle Gewässer ein.
Pappelkolonnen sperren die Straßen ab, gliedern die Alleebäume ein, schließen zu dichteren Reihen auf, marschieren im Gleichschritt weiter. Tannen und Eschen befreien Gefangene in den Gärten und Parks, Friedhöfen und Hinterhöfen. Eichen und Buchen besetzen die Kreuzungen, Knotenpunkte, die großen Plätze, verbrüdern, verschwistern sich mit den Ulmen, Linden, Kastanienbäumen, sprengen die Ketten parkender Autos, drängen die Baumaschinen, Bauzäune, Grundmauern, Gerüste, Geländer zurück, schlagen Wurzeln in Gruben und Gräben.
Fichten umstellen die Amtsgebäude, das Rathaus, den Rundfunk, den Bahnhof, die Polizeiinspektionen, Gerichte, Gefängnis, das Arbeits- und das Finanzamt. Die Pappelfront hat die Kasernen erreicht, verteilt sich um die Gebäude. Ahornbäume füllen die Lücken, schreiten durchs Tor in den Hof. Machtlos klettern die Wachen mit ihren Gewehren die Äste hinauf in die Kronen, sehen vor lauter Bäumen die Stadt nicht mehr.
Geräuschlos, kampflos, ohne Verluste haben die Wälder die Stadt besetzt, erobern sie Heimatboden zurück, besiegen sie Steine, Stahl und Beton, verdrängen Verdrängte ihre Verdränger.
Wolfgang Bächler: Stadtbesetzung, Frankfurt a. M. 1979