Mappus ist weg: Machtwechsel der Gewohnheit
Das Ende der 57-jährigen parlamentarischen Monarchie der CDU in Baden-Württemberg ist nur ein Teil der fundamentalen Veränderungen, vor denen nun ganz Deutschland steht. Dazu ein Kommentar.
Das Stuttgarter Aktionsbündnis hat gegen das urbane und verkehrsindustrielle Umstrukturierungsprogramm „Stuttgart 21“ (S21) durchgehalten. Nun haben sie es geschafft: der Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) und seine Landesregierung ist abgewählt. Für die Vertreter des Alternativkonzeptes „Kopfbahnhof 21“ (K21) ein ebenso realer, wie großartiger Sieg.
„Die Politik darf uns Bürgerinnen und Bürger nicht weiter zum Narren halten“, so Matthias von Herrmann, Pressesprecher der Stuttgarter Parkschützer, die gestern die große „Mappschiedsparty“ auf dem Stuttgarter Schloßplatz organisierten. „Die Bevölkerung lehnt das Prestigeprojekt Stuttgart 21 mehrheitlich ab, die Finanzierung ist ungeklärt und für wesentliche Teile fehlt die Planfeststellung. Deshalb muss Bundesverkehrsminister Ramsauer jetzt schnellstens einen Baustopp veranlassen. Dafür muss sich auch die neue Landesregierung einsetzen. So wie wir uns an diesem Wahlabend zu Wort melden, werden wir uns auch in die anstehenden Koalitionsgespräche einmischen, keine Hinterzimmer-Kungeleien dulden und den endgültigen Ausstieg aus Stuttgart 21 zum beherrschenden Thema machen.“
Nach Angaben der Parkschützer, die die „Mappschiedsparty“ organisiert hatten, waren gegen 20 Uhr rund 25.000 feiernde Menschen auf dem Schloßplatz. Hier eine Filmaufnahme von Tilman36 von cams21.de.
Bereits kurz nach der Verkündung des Wahlergebnisses hatten begeisterte Stuttgarter den Bauzaun um den Kurt-Georg-Kiesinger-Platz vor dem Nordausgang des Stuttgarter Hauptbahnhofs beseite geräumt und waren zu Tausenden auf den Bauplatz geströmt, auf dem in den nächsten Wochen eine unterirdisches Technikgebäude für den im Rahmen des S21-Programms geplanten unterirdischen Bahnhof entstehen soll. Volksreporter quox von cams21 sendete live.
Noch am späten Abend befanden sich Tausende Stuttgarter auf dem Platz und feierten. Bilder von PeterPStuttgart:
Das Wahlergebnis der Landtagswahl in Baden-Württemberg (in Prozent):
CDU: 39,0 (-5,2) -9
GRÜNE: 24,2 (+12,5)
SPD: 23,1 (-2,1)
FDP: 5,3 (-5,4)
Die Linke: 2,8 (-0,3)
PIRATEN: 2,1 (-)
Damit hat der von Bündnis 90/Die Grünen aufgestellte Kandidat Winfried Kretschmann das Wählermandat, sich um die Bildung einer grün-roten Regierung zu bemühen. SPD-Landesvorsitzender Nils Schmid wird sich hinten anstellen müssen. Dennoch kann der Wahlverlierer mit dem schlechtesten SPD-Ergebnis aller parlamentarischen Zeiten im Ländle froh sein: dank den Grünen kann er nun an eine Landesregierung, die seine Partei in 57 Jahren nicht hinbekommen hat und mutmaßlich ohne die Grünen auch nie hinbekommen hätte.
Kretschmann und die Grünen wiederum werden sicherlich nicht vergessen, wer und was ihren Kandidaten und jetzigen Abgeordneten im letzten Jahr die Gelegenheit gegeben hat, sich der Öffentlichkeit, den Wählern und etlichen TV Zuschauern im Antennenfernsehen und Internet vorzustellen und für die eigene Partei und deren Inhalte zu werben. Von 17 Prozent im April 2010 kletterte Bündnis 90/Die Grünen innerhalb von sechs Monaten auf über 30 Prozent im Oktober 2010. Zu diesem Zeitpunkt hatten Ministerpräsident Mappus und sein Innenminister Heribert Rech (auf dessen Nachfolger man ein oder zwei Augen werfen wird) gerade blutig den Stuttgarter Schloßgarten räumen lassen, um die ersten Baumfällungen für S21 einzuleiten.
Es waren die Grünen, mit ihren Tendenzen zu einem schwarz-grünen Bündnis und dem entsprechenden Spitzenkandidaten Winfried Kretschmann, die Mappus die Idee der Schlichtungsgespräche unter dem CDU-Mitglied Heiner Geissler nahelegten. Dies nützte der CDU massiv und liess diese wieder Boden gut machen, während die Umfrageergebnisse der Grünen wieder sanken. Man hatte während dieser Zeit den Eindruck, dass nicht nur Kretschmann und dem rechten Flügel der Grünen dabei ein Seufzer der Erleichterung entfuhr, sondern auch der neokonservativen Berliner Parteizentrale unter Renate Künast und Cem Özdemir. Nicht umsonst kam Künast, die schon in Berlin den Wählerkiller eines Bündnisses mit der in Berlin am Boden liegenden CDU nach den kommenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus aus dem Ärmel fallen ließ, diesen Februar mit dem hanebüchenden Vorschlag einer Unterstützung der Mappus-Regierung durch die baden-württembergischen Grünen um die Ecke. (1)
Als dann vor ein paar Wochen gleichzeitig die Vorbereitungen für den Angriffskrieg gegen Libyen begannen und die Atomaffäre in Fukushima losbrach – bei der bis heute niemand fragt, wer eigentlich der Einsatzleiter bei den desaströsen „Rettungsarbeiten“ vor Ort ist – riss Kretschmann bei gemeinsamen Wahlveranstaltungen mit dem völlig überforderten SPD-Spitzenkandidaten Nils Schmid dessen Arm so hoch, dass man um die Gelenke des SPD-Wendehalses regelrecht Angst bekam. Fast hörte man es flehentlich aus Kretschmanns Kehle krächzen: „Wählt Julia, nicht mich“, als ob der Wähler ihn regelrecht zum Amt des Ministerpräsidenten foltern müsse.
Nun, genau das ist jetzt geschehen. Der Oberkatholik kann nicht mehr raus. Jetzt muss er Ministerpräsident werden und kann sich nicht mehr verstecken.
Renate Künast meldete sich heute promt zu Wort und warf sich wieder flehentlich in die Ruder: um Gottes Willen, nicht, nein, nein…
„SPD-Regierungschef Klaus Wowereit will in Berlin die Sozialdemokraten keinesfalls in der Rolle des Juniorpartners sehen. Auch eine Zusammenarbeit mit der CDU schloss Künast nicht generell aus. Grün-Schwarz sei nicht vom Tisch. «Ich habe immer dafür gekämpft, dass wir uns öffnen.»“ (2)
Doch alles Bitten und Betteln der Neokonservativen um ewige Kontinuität der Machtarchitektur innerhalb der inzestiösen Berliner Nomenklatura ist vergeblich. Die Macht der Gewohnheit ist gebrochen. Es wird, zum ersten Mal in der Geschichte der Bonner und der Berliner Republik, einen Ministerpräsidenten (und damit den Ernenner aller Landesminister) geben, der nicht von SPD, CDU oder CSU gestellt wird.
Auch Baden-Württemberg steht nun nicht nur vor einem Regierungswechsel. Es steht vor einem Wechsel der Gewohnheit. Und genau dieser Wechsel im deutschen Obergesetz, der Gewohnheit, repräsentiert den eigentlichen Machtwechsel, nicht nur in Baden-Württemberg, sondern in der ganzen Republik.
Quellen:
(1) http://www.focus.de/politik/deutschland/wahlen-2011/baden-wuerttemberg/renate-kuenast-schwarz-gruen-in-baden-wuerttemberg-moeglich_aid_597289.html
(2) http://www.ruhrnachrichten.de/nachrichten/weiterenachrichten/blickpunkt/Kuenast-Baden-Wuerttemberg-veraendert-viel-in-der-Republik;art302,1234263
Video Quellen wg mittlerweile erfolgter Umstellung von Radio Utopie auf https aktualisiert am 05.03.2016