„Die Bürger sind systemrelevant, nicht die Zockerei der Banken“
Rede von Parkschützer Jürgen Hugger bei der Kundgebung „Empört-wehrt-engagiert-vernetzt euch!“ auf dem Stuttgarter Schlossplatz am 15.10.2011
Liebe Staatsbürgerinnen, liebe Staatsbürger, wundern Sie sich nicht über diese Anrede. Wir leben in einer Zeit, in der wir als Staatsbürger erkannt haben, dass wir unsere Rolle neu begreifen müssen. Wir sind immer davon ausgegangen, dass unsere Belange im Großen und Ganzen vernünftig geregelt werden von denjenigen, denen wir in Wahlen unsere Stimme gegeben haben. Wir müssen nun feststellen, dass dem nicht mehr so ist. Das Unbehagen darüber,
wie die Politik mit uns Bürgern, unseren Werten und unserem Geld umgeht, wird immer größer. Die Bestätigung, dass dieses Unbehagen mehr als begründet ist, erhalten wir nicht nur aus einem großen Teil der bürgerlichen Presse, sondern auch aus der Analyse konservativer Ökonomen und Politiker.
So schrieb im August diesen Jahres Charles Moore in einem viel beachteten Artikel im Daily Telegraph: „Globalisierung sollte ursprünglich nichts anderes bedeuten als weltweiter freier Handel. Jetzt heißt es, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation verteilen. Die Banken kommen nur noch nach Hause, wenn sie kein Geld mehr haben. Dann geben unsere Regierungen ihnen neues.“
Und Frank Schirrmacher wirft kurz darauf in seinem Artikel „Ich beginne zu glauben, dass die Linke doch recht hat“ in der FAZ die Frage auf, ob die CDU „das Bürgertum als seinen Wirt nur noch parasitär besetzt, aussaugt und entkräftet“. Dass er explizit die CDU nennt, bezieht sich natürlich darauf, dass diese zur Zeit in Berlin regiert.
Dass Schirrmachers Befürchtung auf die eine Partei beschränkt ist, wird kaum einer von uns annehmen. Wissen Sie noch, wie der amerikanische Finanzminister Paulsson begründete, warum er Lehman Brothers Pleite gehen ließ, nachdem er zuerst zwei Banken mit ihren zockerhaften Bündelungen fauler Kredite retten ließ? Als Beweggrund nannte er den „moral hazard“, also die „moralische Gefahr“, die nämlich darin bestünde, dass die Banken nie und nimmer zur Einsicht kämen, wenn sie wüssten, dass jedes beim Zocken bewusst eingegangene Risiko durch einen von den Steuerzahlern zu erbringenden Rettungsschirm abgedeckt wird. Bei uns in Deutschland entdeckte man aber schnell, dass Banken durchgängig gerettet werden müssen, da sie „systemrelevant“ seien. Wer je darauf gewartet hat, dass mal irgendjemand entdecken möge, dass wir Bürger und Steuerzahler systemrelevant seien, wartet noch heute.
Willkommen also in der Realität. Bald 20 Jahre Reallohnverlust, immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse, kontinuierliche Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich – egal unter welcher Regierung – bei gleichzeitiger Pulverisierung des Mittelstandes, Amnestie für potente Steuerhinterzieher, und als Beispiel, das uns in Stuttgart besonders betrifft, Straffreiheit für Verfassungsbrecher bei gleichzeitiger massiver Kriminalisierung unseres bürgerlichen Widerstands. Was ist also los in einem Land, in dem sich inzwischen viele Publizisten und Politiker jedweder couleur einig darin sind, dass der Kapitalismus, so wie er sich bei uns abspielt, am Ende ist?
Kaum jemand glaubt, dass dieses System noch lange so weiterwirtschaften kann. Während wir uns noch darüber
mokierten, dass Kosten fast 1 zu 1 von DM in Euro übersetzt wurden, drängte sich uns beinahe der Eindruck auf, dass in der Finanzkrise der Begriff der Million ganz nebenbei durch den der Milliarde ersetzt worden ist. Wir erfahren Tag für Tag: Die Banken bringen uns von einer Finanzkrise in die nächste, die Politiker sind bisher nicht in der Lage, Regulierungen durchzusetzen und scheinen sich zum Jagen tragen lassen zu wollen.
Warum sind wir also heute hier? Wir wollen eine Politik wollen, die nach dem Credo handelt: Die Bürger sind systemrelevant, nicht die Zockerei der Banken; es geht uns darum, die Funktionsfähigkeit der Demokratie zu erhalten. Dass diese Aufgabe schändlich vernachlässigt wurde, wird gerade an der fehlenden Aufarbeitung der ersten Finanzkrise deutlich. Wir sind hier, weil wir es nicht zulassen wollen, dass die Errungenschaften der Aufklärung und der Demokratie vor unseren Augen zugrunde gerichtet werden. Und wenn wir davon reden, dass staatliche Kontrolle völlig versagt, denkt man inzwischen nicht nur in Stuttgart an die Bahn.
Schon Heiner Geißler tat sich schwer, zwischen Banknoten und Bahnknoten zu unterscheiden. Enorme volkswirtschaftliche Werte, die über mehrere Generationen geschaffen wurden, werden von den feixenden Vorständen der Bahn so behandelt, als würde ihnen gehören, was Generationen geschaffen haben. Die Bahn plündert sie aus oder gibt sie dem Verfall preis. Während die Bahn nicht in der Lage ist, ihrem eigentlichen Verkehrsauftrag nachzukommen, während sie Bahnhöfe und Strecken, für deren Erhalt sie Geld bekommt, auf teilweise erbärmliches Niveau verkommen lässt, während sie Saunazüge durch die Lande schickt und Reisende dafür bezahlt, dass sie aus ihren Zügen aussteigen, kauft sie sich trotz ihrer Schulden mit dem zurückgehaltenen Geld für drei Milliarden in England ein und versucht mit Lug und Trug, das gescheiterte Projekt Stuttgart 21 durchzusetzen. Wenn wir bei der Bahn von Qualität sprechen, dann sprechen wir allein von ihrer Rechtsabteilung, die, von uns bezahlt, gegen unsere Interessen arbeitet. So etwas nennt man pervers.
Die Bahn zeigt, dass sie mehr von uns erwartet: die gestern angekündigte Preiserhöhung holt die ausgefallene letztjährige mehr als nach. Wer damals dachte, der Bahnvorstand habe auch nur eine Kleinigkeit verstanden, weiß es nun besser. Im Hintergrund dieser Preiserhöhungen stehen die Gewinne der Bahn, die sie zuletzt im übrigen dadurch erreicht, dass sie schon mal die Zahlungen für das Stuttgart-21-Gelände verbucht hat. Die Täuschung der Parlamente über die wahren Kosten von Stuttgart 21, ohne die Stuttgart 21 wohl schon seit längerem beerdigt wäre, wird vom aktuellen Vertreter Axel Fricke dreist damit erklärt, dass man sich schon überlegen müsse, wann man wem was sage. Zu 100% im Besitz des Staates, hält die Bahn Wirtschaftlichkeitsanalysen, also Kosten-Nutzen-Rechnungen für S21 und Neubaustrecke selbst den Vertretern des Bundes gegenüber unter Verschluss.
Wir in Stuttgart wissen, dass sich dieses Unternehmen über vieles hinwegsetzt, was staatliche Ordnung verlangt – sei es beim Abriss des Nordflügels, sei es beim Verheimlichen der wahren Kosten oder der abzupumpenden Grundwassermenge, sei es bei der illegalen Baumfällung, die den 30.9. voraussetzte und in Mappus einen willfährigen Rambo fand. (Wer das Thema des neuen Romans von Wolfgang Schorlau kannte, konnte schon vermuten, dass dieser Halunke sich als Pharmavertreter ins Ausland absetzen könnte.)
Das Treiben der Bahnvorstände setzt voraus, dass unser Bundesverkehrsminister auf dem Ohr der Bedürfnisse der Bürger taub ist und in seiner Aufsichtsfunktion versagt; er lässt gar die Bahn an ihrem gescheiterten Projekt weiter herumwerkeln und so die Kosten des Ausstiegs in die Höhe treiben. Bereitwillig werden die Lügen der Bahn übernommen, zuletzt die Lüge über die Ausstiegskosten.
Und hier am Südflügel des Neuen Schlosses wissen wir, wer der Bahn für ihr gescheitertes Stuttgart 21 noch Geld hinterherwerfen will: Nils Schmid, unser Super-Finanz-Minister, von dem man nie eine Äußerung zu den Täuschungen der Bahn in Bezug auf dieses Projekt gehört hat: Je verlogener die Darstellungen zum Stand des Projektes, je verlogener die Darstellungen der Bahn zu Leistungsvermögen und Kosten, desto betonartiger der Rückhalt auf Seiten der S21PD-Funktionäre. Selbst die FTD schrieb vor einigen Wochen: Wenn die Bahn Stuttgart 21 unbedingt bauen wolle, dann solle der Bahnvorstand doch zuerst unterschreiben, dass Mehrkosten von der Bahn getragen werden. Doch Nils Schmid kümmert das nicht: Er bietet – wohl verfassungswidrig – der Bahn weiterhin Geld, um auch durch ihr Immobilienprojekt Stuttgart 21 Gewinne weiterhin privatisieren und Kosten sozialisieren zu können.
Wenn in Stuttgart gerufen wird: „Wessen Stadt? Unsere Stadt!“ und „Wessen Geld? Unser Geld!“ ,dann wird da trefflich ausgedrückt, worum es geht: Die Bahn gehört zu den Haifischen, die die Jagdgründe auch unserer Volkswirtschaft durchstreifen und in ihrer nicht zu stillenden Gier alles fressen, was ihnen vor den Rachen kommt – und die manchen finden, der sich in ihrem Glanz sonnen will. Sie haben Gefallen an diesem gescheiterten Projekt gefunden. Sie wollen unseren Park zerstören, unsere Stadt verbauen, unsere Infrastruktur verschlechtern und unseren Widerstand brechen, um ihr Immobilienprojekt durchsetzen und von uns bezahlen zu lassen.
Vermiesen wir ihnen ihre Rechnung, durch unseren Widerstand – und nicht zuletzt auch dadurch, dass wir am 27.11. JA ZUM AUSSTIEG(SGESETZ) ankreuzen, so unfair und undemokratisch die Volksabstimmung über den Landesanteil bei Stuttgart 21 auch sein mag.
Es kann einem so vorkommen, als wolle man uns Bürgern mit diesem Projekt zeigen, dass Vernunft nichts zählt, dass auch das sinnloseste Großprojekt verwirklicht werden kann, dass wir aufgeben sollen, die staatliche Gemeinschaft zu unserer zu machen. Zeigen wir Ihnen, dass sie damit nicht durchkommen.
Stuttgart 21 hat fertig.