Triumph der flexiblen Statiker
Zum Ergebnis zur Volksabstimmung in Baden-Württemberg über das regionale und verkehrsindustrielle Umbauprogramm „Stuttgart 21“ ein kleines Essay
Was für ein Sieg. Die Betreiber des regionalen und verkehrsindustriellen Umbauprogramms „Stuttgart 21“, die Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP, der Staatskonzern Deutsche Bahn AG, die Landesregierung von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, die Stadtregierung von Stuttgart, plus allerlei Konzerne und Immobilien-Verbände, schaffen es gegen eine kleine, lobby- und geldlose Gruppe von selbstorganisierten Bürgern derart zu gewinnen, daß es diesen Bürgern, diesem über Jahre mühsam und allein gegen alle aufgebauten Widerstand lediglich gelingt, bei einer Volksabstimmung im strukturkonservativsten Bundesland der Republik die Zustimmung von 1.5 Millionen Menschen für ihr Anliegen zu bekommen. Was für eine Niederlage.
Wer triumphiert?
Es triumphiert der Bus-Insasse, der zwar merkt, daß der Busfahrer eine völlig andere Route eingeschlagen hat als auf dem Fahrplan zu finden ist und er selbst deshalb aller Voraussicht nach viel zu spät zur Arbeit kommen wird, der sich aber vom Nachbarn genervt fühlt, welcher aufsteht und laut fragt: „Hallo?! Wo fahren Sie da eigentlich hin?!
Es triumphiert der Bewohner eines teuren Hauses, der vom Balkon aus die Aussicht über Grünflächen genießt und Leute hört, die sich beschweren. Er will, daß das sofort aufhört. Er will seine Aussicht genießen. Wie von ferne hört er irgendwas von „10 Jahren Baustelle“ vor seiner Nase und begreift es nicht, weil er gerade „Stuttgarter Nachrichten“ liest und seine Ruhe haben will. Es ist ein teures Haus.
Es triumphiert der Spaziergänger, dem ein Straßenräuber im feinen Anzug, dem viele guten Freunde mit Knüppeln und Tränengas bewaffnet vielsagend über die Schulter blicken, sagt, er müsse jetzt zahlen. Es sei zu seinem Besten. Der Spaziergänger sagt nein. Sagt der Straßenräuber zu seinen Kumpels, so schreitet denn zur Tat, meine tapfren Diener. Schließlich fragt der Straßenräuber, der sich pikiert den verkrümmten Spaziergänger am Boden im Schmutz ansieht, willst Du wohl jetzt zahlen. Sagt der Spaziergänger nein. Sagt der Straßenräuber, mer wolle uns doch net streite und holt einen anderen guten Freund. Der sagt zum Spaziergänger am Boden, Du, lass uns die Situation schlichten. Dann unterhalten sich alle über die Situation. Sagt der gute Freund vom Straßenräuber zum Spaziergänger, Du, ich glaube, Du solltest zahlen. Sagt der Spaziergänger, na gut. Bevor ich mich jetzt mit einem guten Freund streite…
Es triumphiert der Schweigende, der im Grund schon immer seine Meinung hatte, die er aber nie gesagt hat. Später kann er endlich sagen, er hatte sie schon immer. Welche auch immer.
Es triumphiert das personifizierte deutsche Ideal hinter seinem Schalter, über das personifizierte deutsche Schicksal vor dem Schalter, was versäumt hat, sich im Halbkreis aufzustellen und einfach mal durchzuzählen.
Es triumphiert der Zuschauer, der sich nicht bewegt, außer ab und zu die Hände und an nichts so sehr Gefallen findet wie an einer Niederlage derjenigen, die gegen eine Obrigkeit antreten.
Es triumphiert der flexible Statiker, der sagt, es muss alles anders werden, weil alles so isch wie esch isch und weil man da nichts machen könne, was andere mit einem machen.
Was für ein Sieg.