Die deutschland- und europaweit heftig umstrittene Vorratsdatenspeicherung büßt den Schein ihrer Rechtmäßigkeit ein:
Ein nun in die Öffentlichkeit geratenes internes Papier der europäischen Kommission über die Planung der nächsten sechs Monate belegt das vollständige Scheitern der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. Kritiker analysieren den Inhalt des Dokuments und sehen das Ende der von vielen Rechtswissenschaftlern als „Paradigmenwechsel“ oder „verfassungsmässigen Tabubruch“ bewerteten Überwachungsmaßnahme voraus.
Inmitten der von der vielfachen Falschaussagen dominierten Auseinandersetzung über die Einführung oder Nichteinführung einer Vorratsdatenspeicherung in Deutschland veröffentlichte die österreichische Bürgerrechtsorganisation quintessenz am 4.1.2012 eine interne Mitteilung der EU-Kommission zum aktuellen Stand des Evaluierungsverfahrens der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. [1]
In einer von der Kommission bislang nicht gekannten Offenheit beleuchtet das nun vom „AK Vorrat“ ins Deutsche übersetzte und kommentierte Dokument [2] zahlreiche Probleme, Mängel und Rechtsverstöße bei den bis heute vorgenommenen Umsetzungen der europäischen Richtlinie aus dem Jahre 2005. Was aber besonders bemerkenswert ist: Die Kommission stellt damit die Rechtsgrundlage dieser umstrittenen Richtlinie grundsätzlich in Frage.
Nicht neu ist die Tatsache, dass der von der EU-Kommission am 18.4.2011 vorgestellte Untersuchungsbericht über die bisherige Umsetzung der EU-Richtlinie nicht als wissenschaftliche „Evaluierung“ bezeichnet werden kann [3,4]. Nur 11 von 27 Mitgliedsstaaten haben überhaupt Zahlen zur Grundlage der als „Evaluierung“ betitelten Untersuchung geliefert. Und das trotz mehrfacher Verschiebung der Abgabefrist. Die wenigen gelieferten Statistiken sind darüber hinaus in einigen Fällen völlig unbrauchbar (siehe dazu Punkt 17 sowie Kapitel 4.7 im Schattenbericht der Bürgerrechtsorganisation EDRi [3]).
Die Kommission gesteht weiter ein, dass es nur wenige Hinweise für den Wert der Vorratsdatenspeicherung für Zwecke der öffentlichen Sicherheit und Strafjustiz gäbe und stellt dennoch ohne jede Selbstkritik u.a. die folgende zu diskutierenden Frage in den Raum:
„What are the most effective ways of demonstrating value of data retention in general and of the DRD itself?“
„Der Kommission gelingt es auch sechs Jahre nach Einführung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung nicht, deren Notwendigkeit zu belegen“, meint Frank Herrmann vom AK Vorrat. „Stattdessen soll nun nach beliebigen Beispielen für die Vorteile von Vorratsdaten gesucht werden! Wen glaubt die Kommission noch vom Sinn einer Vorratsdatenspeicherung überzeugen zu können? Das Eingeständnis des Scheiterns der Richtlinie wäre jetzt ein mutiger und richtiger Schritt.“
Die dringende Suche der Kommission nach „Belegen“ für den „erfolgreichen“ Einsatz der Vorratsdatenspeicherung wird auch in einer der in den nächsten sechs Monaten zu erfüllenden Aufgaben deutlich:
„In particular all Member States – not just a minority – need to provide convincing evidence of the value of data retention for security and criminal justice.“
Die Kommission berichtet in ihrem eigentlich nicht-öffentlichen Dokument weiterhin darüber, dass die ehemals vorgesehene Beschränkung der Datenabfrage zur Bekämpfung von Terrorismus und schweren Straftaten zur Makulatur geworden ist. Es gibt keine juristisch belastbare Definition davon, was man als „schwere Straftat“ zu verstehen habe. Dementsprechend missbräuchlich werden die sensiblen Vorratsdaten in einigen Ländern der EU heutzutage teilweise massenhaft ver- und entwendet.
Ganz offen diskutiert der Text die Möglichkeiten, die Anwendbarkeit der Vorratsdaten für eine erneuerte Richtlinie in bisher unbekannten Umfang auszuweiten: auf Urheberrechtsverletzungen, auf „mittels Telefon oder Internet“ begangene Straftaten oder auf derart schwammige Vergehen wie „Hacking“ oder in jedem – rechtlich wiederum nicht ausreichend definierten – allgemeinen „Notfall“. Die EU-Kommission prüft sogar, künftig auch die Nutzung von Instant Messaging-Software und Chats sowie von Uploads und Downloads im Internet nachverfolgbar zu machen.
Der Bericht schildert ferner die mangelhafte Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Belange: Eine fehlende Aufklärung der von der Datenspeicherung betroffenen Bürger durch Behörden und Telekommunikationsanbieter, das Nichtvorhandensein von Standards zur Benachrichtigung bei Datenabrufen, keinerlei festgeschriebenes Recht auf Auskunft oder auf Entschädigung bei Datendiebstahl oder -missbrauch.
Auf der anderen Seite beleuchten die Kommissionsbeamte die Situation der Unternehmen, die zur Vorratsdatenspeicherung gezwungen werden: Je nach Land existiert keine oder nur eine sehr magere, jedenfalls keine europaweit einheitliche Erstattung der Speicherkosten, was zu bislang unbekannten Wettbewerbsverzerrungen führt. Gerade die Kosten für kleine Unternehmen bewertet die EU-Kommission als „unverhältnismäßig hoch“. Mangels fehlender Definition, welche Behörde unter welchen Bedingungen überhaupt dazu befugt ist, Vorratsdaten abzurufen, finden sich die Provider in der unbeliebten Rolle derjenigen wieder, die als wirtschaftlich handelnde Akteure in einer rechtlichen und politischen Grauzone über die konkrete Auslegung der Richtlinie zu entscheiden haben. Dies ist besonders perfide unter dem Gesichtspunkt, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung nicht als Werkzeug der Strafverfolgung, sondern als Instrument der Marktharmonisierung beschlossen wurde. Wenn die EU-Kommission nun eingesteht, dass die Richtlinie zu einer Wettbewerbsverzerrung statt einer Harmonisierung führt, entfällt die Rechtsgrundlage und damit die Rechtmäßigkeit dieser umstrittenen Richtlinie.
Ebenfalls völlig ungeklärt sind die Fragen der Trennung der Vorratsdaten von den Daten, die Unternehmen aus betrieblichen Gründen vorhalten müssen. Diese beiden Sorten von Daten werden derzeit vielfach nicht voneinander abgeschottet, was nicht nur ein enormes Risiko bezüglich der Datensicherheit darstellt sondern darüber hinaus auch keine Aussage über den angeblichen Zusatznutzen gerade einer verdachtslosen flächendeckenden Vorratsdatenspeicherung zulässt.
Die zahlreichen und differenzierten Einwände und Bedenken von Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen [3,4] gibt die EU-Kommission in Punkt 10 des Schreibens nur bruchstückhaft und in nur sehr geringem Umfang wieder. Eine gesellschaftliche Analyse sozialer und soziologischer Auswirkungen fehlt gänzlich und scheint aus Sicht der EU-Kommission gar nicht zu existieren oder zumindest nicht von Belang zu sein.
Die von vielen konservativen Politikern immer wieder postulierte „unzweifelhafte Notwendigkeit“ einer verdachtlosen, dafür aber vollständigen Erfassung und Speicherung der Telekommunikations-Verbindungsdaten aller Menschen in der EU bleibt nach wie vor unbewiesen. Ein im zu den europäischen Grund- und Menschenrechten im vernünftigem Maß stehender Nutzen der Vorratsdatenspeicherung hätte vor dem Beschluss der entsprechenden EU-Richtlinie nachgewiesen werden müssen. Diesen Beweis bleiben die EU-Behörden bis heute schuldig.
Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung verlangt daher das sofortige Ende der EU-weit zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtenden Regelungen! Von Deutschland verlangen wir gemeinsam mit den 64.704 Mitzeichnern der Petition gegen Vorratsdatenspeicherung [5], die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über deren Vereinbarkeit mit den Grundrechten nicht umzusetzen.
„Klarer als in diesem Dokument lässt sich das faktische Scheitern der Vorratsdatenspeicherung nicht belegen“, meint Michael Ebeling vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung dazu. „Diese aus den Tagen der Terrorhysterie geborene Maßnahme zur Überwachung aller EU-Europäer ist nicht nur in ihrer technischen und bürokratischen Umsetzung misslungen, sie hat sich auch über die gesellschaftliche Sehnsucht nach einer lebenswerten Gesellschaft hinweggesetzt. Jeder Mensch benötigt Freiräume, um seine Persönlichkeit und seine Identität unbefangen wachsen und gedeihen zu lassen. Jede Form von Vorratsdatenspeicherung arbeitet allerdings in die genau entgegengesetzte Richtung … und wird deshalb keine Zukunft haben.“
Die EU-Kommission will nun bis Mai 2012 Optionen zur Aufhebung oder Änderung der Richtlinie einschließlich der Möglichkeit einer Speicherung nur der Daten von Verdächtigen (Quick Freeze) bewerten, um im Juli 2012 einen Vorschlag zur Änderung der Richtlinie vorzulegen. Nach Informationen des AK Vorrat soll in die laufenden Überlegungen weder die Möglichkeit eines europaweiten Verbots verdachtsloser Vorratsdatenspeicherung noch die Option einfließen, Datensammlungen nur in solchen Mitgliedsstaaten zu regeln, die überhaupt verdachtslos auf Vorrat speichern lassen wollen. Das zur Begründung genannte Argument, die EU könne den Mitgliedsstaaten aus rechtlichen Gründen die Anwendung einer Richtlinie nicht freistellen, wird von Juristen als nicht haltbar bezeichnet.[6]
Verweise
[1]
Das bei quintessenz.at geleakte interne Papier der Europäischen Kommission:
http://quintessenz.org/doqs/000100011699/2011_12_15,Eu_Commission_data_retention_reform.pdf
[2]
Die ins Deutsche übersetzte und stichpunktartig kommentierte Textversion des Dokuments:
hier:
http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/images/18620-en-de.pdf
[3]
EDRi-Schattenbericht zur EU-„Evaluation“ vom 18.4.2010
http://edri.org/data-retention-shadow-report
[4]
AK-Vorrat-Broschüre mit Hintergrundinformationen zum EU-„Evaluationsbericht“, englischsprachig
http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/images/Dr-background-information.pdf
[5]
Petition von 64.704 Bürgern für ein Verbot der Vorratsdatenspeicherung
https://epetitionen.bundestag.de/index.php?action=petition;sa=details;petition=17143
[6]
Lässt sich der EU-Zwang zur Vorratsdatenspeicherung aufheben?
http://www.daten-speicherung.de/?p=3944
Quelle: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/520/1/lang,de/