106. Montagsdemonstration gegen „Stuttgart 21“: Die Rede von Reiner Weigand
Dokumentation: Die Rede von Reiner Weigand aus dem Arbeitskreis „Bürgertribunal“ der Parkschützer am 9.Januar auf der 106. Montagsdemo gegen das urbane und verkehrsindustrielle Programm „Stuttgart 21“ (S21).
Ich bin aktiv im AK Bürgertribunal 30. 9., und ich wende mich an den Ministerpräsidenten des Landes Baden – Württemberg.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident!
Jetzt sind es über 15 Monate, dass der 30. September 2010, der Schwarze Donnerstag, eine tiefe Wunde riss ins Leben dieser Stadt, dieses Landes. Dass das Projekt S21, das von Anfang an auf Belügen, Täuschen und Irreführen der Bürger aufgebaut war, endgültig seine Unschuld verlor. Der provokante Abriss des Nordflügels des unter Denkmalschutz stehenden, von der Bevölkerung und von Fachleuten anerkannten Baudenkmals Stuttgarter Hauptbahnhof wurde übertroffen durch die Brutalität, mit der die Polizei gegen die Bürger vorging, die ihren Schlosspark verteidigten mit seinen altehrwürdigen Bäumen, ein Kleinod und Idyll, um das uns andere Städte beneiden.
Das Bürgertribunal zum einjährigen Jahrestag des Schwarzen Donnerstags hat nachgewiesen, dass damals mehrfach Rechte verletzt wurden, Bürgerrechte, Menschenrechte, Rechte zum Schutz von Natur und Umwelt. Die ganze Aktion war durch und durch illegal. Vor einem Monat, Anfang Dezember, haben wir Ihnen das Fazit dieses Bürgertribunals, seine Schlussresolution mit den entsprechenden Forderungen, übergeben, bekräftigt durch ca. 4.500 Unterschriften. Sie und Ihr Kollege Sckerl aus der Landtagsfraktion haben eine Überprüfung unserer Forderungen zugesagt. Seither haben wir nichts mehr gehört.
Es bleibt also bis heute dabei: Die Verantwortlichen für diese Orgie der rohen Gewalt, die Verantwortlichen für den Schutz und die Durchführung dieser illegalen Baumaßnahme, besser Zerstörungsmaßnahme einer profitorientierten Aktiengesellschaft wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. Schlimmer noch: die Fortsetzung droht! Vielleicht mit etwas anderen Mitteln: z.B. Reizgas mit Weihraucharoma? Oder: jeder Polizist muss erst lächeln, bevor er zuschlägt? Oder: Wasserwerfer dürfen nur mehr ganz gezielt auf Demonstranten schießen, nicht mehr einfach breit gestreut durch die Gegend? Und vielleicht sollten die Schutzschilde der Polizei mit den Sonnenblumen–Symbolen Ihrer Partei verziert / geschmückt werden? Dann wüsste man wenigstens…
Nein! Schluss jetzt!
Herr Ministerpräsident!
Nachdem wir seit der Überreichung der Resolution des Bürgertribunals zusammen mit ca. 4.500 Unterschriften nichts mehr von Ihnen gehört haben, hier zur gefälligen Erinnerung ein paar drängende Fragen:
In ihrem Amtseid haben Sie geschworen, Ihre Kraft dem Wohle des Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm zu wenden, Verfassung und Recht zu wahren und zu verteidigen und Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben.
– Halten Sie es dann für richtig, dass die Polizei in Sachen Schwarzer Donnerstag gegen sich selbst ermittelt, sich selbst frei spricht und den gesetzwidrigen Einsatz grundsätzlich als alternativlos erklärt?
– Halten Sie es für richtig, dass Ihr Innenminister Gall den Polizeibericht zum Schwarzen Donnerstag absegnet und damit die Polizei-Brutalitäten deckt, die so weit gingen, dass der Demonstrant Dietrich Wagner, der sich schützend vor junge Schüler stellte, mit dem Wasserwerfer nahezu blind geschossen wurde?
– Halten Sie es für richtig, dass Ihr Justizminister Stickelberger die in Verruf geratene Staatsanwaltschaft deckt, die Verfahren gegen schlägernde Polizisten verschleppt, nicht verfolgt, oder sogar einstellt?
– Sie betonen Ihre Neutralitätspflicht und dass Sie eben nicht die Fehler der Vorgänger-Regierung wiederholen möchten, Justiz und Vollzugsorgane politisch zu instrumentalisieren. Aber heißt das, Verfassung und Recht zu wahren, wenn man offene Rechtsbrüche durch sein Schweigen schützt und dadurch quasi legitimiert?
– Sie haben geschworen, Schaden vom Volke zu wenden. Wie können Sie dann zusehen, dass die Bahn AG Europas größtes Bauvorhaben beginnt, indem sie einfach loswurschtelt mit nicht wieder gut zu machenden Zerstörungen am Park, der dem Volk geschenkt wurde und von diesem geliebt wird? An einem geschützten und international bewunderten Kultur- und Technik-Denkmal, das als Weltkulturerbe vorgeschlagen war? Noch bevor zwei Fünftel des gesamten Bauvorhabens (der Filder-Abschnitt) überhaupt konkret zu Ende geplant, geschweige denn genehmigungsfähig sind?
– Ihr Amtseid: „Schaden vom Volke zu wenden“ Und dann gestatten Sie Ihrem Finanzminister, einen Gestattungsvertrag zu unterzeichnen, der der Bahn AG Zerstörungsarbeiten gestattet im Schlosspark (eigentlich könnte ich auch sagen „Volkspark“), obwohl die Bahn AG auch für diesen Bauabschnitt der
Grundwasser-Vergewaltigung noch gar keine Genehmigung hat? Diese Maßnahme soll nur dazu dienen, das Volk, das nachdenkt und nachrechnet, zu entmutigen. Entspricht das Ihrem Eid, den Nutzen des Volkes zu mehren?
– Ihr Amtseid: „Meine Kraft dem Wohle des Volkes zu widmen…“ Und dann kein Wort und keine Tat, um den Einsatz von Gewalt gegen den gewaltfreien Widerstand des Volkes zu verhindern! Im Gegenteil: „Kretschmannhausen“ nennt das Volk die von Ihnen als Wärmestuben verharmlosten Container auf dem Cannstatter Wasen. Ausgerechnet! Auf dem Platz des Volksfestes! … „Ich schwöre, dass ich meine Kraft
dem Wohle des Volkes widme …“!!! Die Zellen-Türen von Kretschmannhausen – Sind das die Hintertürchen der von Ihnen angekündigten Deeskalation?
– Ihr Innenminister Gall appelliert an die Friedfertigkeit der Demonstranten. Und wie sieht es mit der Friedfertigkeit der Polizei aus? Was ist ein niedergerissener Bauzaun gegen einige Hundert Verletzte, z.T. mit lebenslänglichen schwersten körperlichen und seelischen Schäden, durch Schlagstöcke, Reizgas und Wasserwerfer der Polizei?
– Ihr Amtseid: „Schaden vom Volke zu wenden“: Sie können sich nicht darauf berufen, den Schaden, der mit S21 auf Stadt und Land zukommt, nicht vorher gesehen zu haben. Schon im Jahre 2008 wies der Bundesrechnungshof in seinem ausführlichen Gutachten nach, dass S21 mindestens 1/3 teurer wird. Und das lehrt auch die Erfahrung und jedes Kind weiß das, dass jedes größere Bauvorhaben mindestens 1/3 mehr kostet. Die Elb-Philharmonie aus Hamburg lässt grüßen. Dort haben sich die Kosten bereits mehr als verdoppelt. Wieder einmal ist man dort an einem Punkt, wo man nicht weiß, ob und wie weiter. Und im Vergleich zu S21 ist das ein kleines Projekt! Wenn Sie den Bundesrechnungshof einfach ignorieren: Wozu haben wir diese oberste demokratische Kontrollinstanz in Sachen Finanzen? Was haben Sie da für ein Demokratie-Verständnis, wenn Sie den Finanzjongleuren der Bahn AG blind trauen, ohne auf das Gutachten des Bundesrechnungshofes überhaupt eingegangen zu sein?
– Ihr Amtseid: „Schaden vom Volke zu wenden“: Und wie, wenn eines Tages die Stadt halb aufgerissen ist, und auch bei uns niemand weiß, ob und wie weiter? Wenn auch bei uns die Häuser Risse bekommen wie in dem traurigen Städtchen Stauffen, wo niemand weiß, wie sie stoppen?
– Ihr Amtseid: „Schaden vom Volke zu wenden“: Selbst einer der beiden Väter des Wahnsinns–Projekts, der Star–Architekt Frei Otto, hat sich inzwischen davon distanziert. Auch er warnt vor den unberechenbaren geologischen Gegebenheiten, dem Gips – Keuper. Der Engelberg – Tunnel lässt grüßen: wieder gesperrt, wieder muss repariert werden. Bei diesem vergleichsweise kleinen Projekt geht das noch… Der Kölner U – Bahn – Bau lässt grüßen. Dieselbe Baufirma! Derselbe Gutachter! Ein glücklicher Zufall, dass „nur“ zwei Menschen mit ihrem Leben für diese blindwütige Bauwut bezahlen mussten. Zwei Menschenleben! Ist das für Sie keine Warnung?
– Sie lassen gerne von sich das Bild des gläubigen Christen zeichnen. Aber lassen Sie die Kirche im Dorf! Warum waren Sie noch nicht beim Gebet im Park? Das wäre doch ein Zeichen, dass Sie es ernst meinen, wenn Sie sagen, sie wollten den historischen Bahnhof und den historischen Park gerne vor der Zerstörung bewahren. Oder haben Sie Angst, dass dort vielleicht über das Evangelium des Matthäus, Kap.7, 16 gesprochen wird: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“? Im Volksmund: „an ihren Taten“!
Oder vielleicht über den ersten Brief des Johannes, Kap.2, 5? „Wer aber sein Wort hält, in solchem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind.“ Ja, dann würde Ihnen vielleicht Ihre saloppe „Entschuldigung“ nicht so leicht von den Lippen gehen: „Da habe ich den Mund eben zu voll genommen.“ Auf die Frage, warum Sie Ihr Wahlversprechen gebrochen haben und der Bahn AG ohne weiteres sofort die nächste Tranche von …?…Mio von …?…(Grund) überwiesen haben.
Unser Fazit, Herr Ministerpräsident:
Binnen kürzester Frist haben Sie das Vertrauen der Wähler verloren, die Sie gewählt haben, in der Erwartung, dass Sie sich ehrlich und mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mitteln gegen dieses Wahnsinnsprojekt stellen, das der Stadt und dem Land auf Jahrzehnte hinaus Unglück und Schaden bringen wird. Und als Landesregierung stünden Ihnen doch eine ganze Reihe von gesetzlichen Mitteln zur Verfügung!
Sie haben das Vertrauen der Wähler verspielt, die von Ihnen und Ihrer Regierung erwartet haben, alles Ihnen nur mögliche zu veranlassen, dass das Unrecht, das dem Volk am Schwarzen Donnerstag zugefügt wurde, aufgeklärt und geahndet wird.
Unser Fazit, Herr Ministerpräsident, der Sie den Erwartungen, die in Sie gesetzt wurden, so wenig entsprichen: Wir können diesen Wahnsinn und dieses Unrecht nur stoppen, wenn wir auf unsere eigene Kraft vertrauen. Deshalb werden wir weiter demonstrieren, werden wir weiter blockieren, werden wir weiterhin friedlich von unserem Widerstandsrecht Gebrauch machen.