Die Blockbrecher
“ISRAEL HAT keine Außenpolitik, es hat nur eine Innenpolitik,” bemerkte Henry Kissinger einmal.
Dies hat vielleicht für jedes Land mehr oder weniger gegolten– seitdem es die Demokratie gibt. Doch in Israel scheint dies noch mehr zuzutreffen. (Ironischerweise könnte fast gesagt werden, dass die US keine Außenpolitik hat, nur eine israelische Innenpolitik.)
Um unsere Außenpolitik zu verstehen, müssen wir in den Spiegel schauen. Wer sind wir?
Wie sieht unsere Gesellschaft aus?
IN EINEM klassischen Sketch, der jedem Israeli bekannt ist, standen zwei Araber am Ufer des Mittelmeers und sahen ein Boot voll russisch-jüdischer Pioniere auf sie zurudern. „Mag euer Haus zerstört werden!“ fluchten sie.
Als Nächstes standen wieder zwei Gestalten, dieses Mal russisch-jüdische Pioniere, an derselben Stelle und verfluchten auf russisch ein Boot voll jemenitischer Immigranten.
Als Nächstes standen zwei Jemeniten dort und verfluchten die deutsch-jüdischen Flüchtlinge, die vor den Nazis geflohen waren. Dann verfluchten die deutschen Juden die Ankunft der Marokkaner. Das war dann nach dem ersten Erscheinen die letzte Szene. Heute kann man noch zwei Marokkaner hinzufügen, die die Immigranten aus der Sowjetrussland verfluchten, dann verfluchten die Russen die letzten Ankömmlinge: die äthiopischen Juden.
Dies mag auch für jedes andere Einwandererland gelten, für die USA bis Australien. Jede Einwanderungswelle wird mit Verachtung, ja, sogar mit offener Feindseligkeit von denen, die früher kamen, begrüßt. Als ich in den frühen 30er-Jahren noch ein Kind war, hörte ich häufig, wie Leute meinen Eltern nachriefen: „Geht zurück zu Hitler!“
Doch immer herrschte der Mythos vom „Schmelztiegel“. Alle Immigranten würden in den selben Topf geworfen und von ihren „fremden“ Zügen gereinigt und tauchten als einheitliche neue Nation wieder auf – ohne die Spuren fremden Ursprungs.
DIESER MYTHOS starb vor einigen Jahrzehnten. Israel ist jetzt eine Art Föderation verschieden großer demographisch-kultureller Blöcke, die unser soziales und politisches Leben bestimmen.
Wer sind sie? Es gibt (1.) die alten Ashkenasim (Juden europäischen Ursprungs); (2.) die orientalischen (oder sephardischen) Juden; (3.) die religiösen ( teils ashkenasischen, teils sephardischen) Juden; (4.) die russischen Emigranten aus all den Ländern der früheren Sowjetunion; und (5.) die palästinensischen arabischen Bürger, die schon immer hier waren..
Dies ist natürlich eine schematische Darstellung. Keiner der Blöcke ist völlig homogen. Jeder Block besteht aus mehreren Unterblöcken, einige Blöcke überlappen sich. Dann gibt es Mischehen. Aber im Großen und Ganzen stimmt das Bild. Das Geschlecht spielt bei dieser Teilung keine Rolle.
Die politische Szene reflektiert fast genau diese Einteilung. Die Laborpartei war auf ihrem Höhepunkt das Hauptinstrument der ashkenasischen Macht. Ihre Reste zusammen mit Kadima und Meretz sind noch immer Ashkenasim. Avigdor Liebermans Israel-Beitenu-Partei besteht hauptsächlich aus Russen. Es gibt drei oder vier religiöse Parteien. Dann gibt es zwei exklusiv arabische Parteien und die kommunistische Partei, die auch hauptsächlich arabisch ist. Die Likudvertreter vertreten den Hauptteil der Orientalen, auch wenn fast alle seine Führer Ashkenasim sind.
Die Beziehungen zwischen den Blöcken sind oft strapaziös. Gerade jetzt ist das Land in einem Aufruhr, weil in Kiryat Malachi eine südliche Stadt mit hauptsächlich orientalischen Einwohnern, die Hausbesitzer eine Verpflichtung unterschrieben haben, nach der sie keine Wohnung an Äthiopier verkaufen dürfen, während der Rabbiner von Safed, einer nördlichen Stadt von hauptsächlich orthodoxen Juden, seiner Gemeinde verboten hat, Wohnungen an Araber zu vermieten.
Aber abgesehen von der Kluft zwischen Juden und Arabern, besteht das Hauptproblem aus dem Groll zwischen den Orientalen, den Russen und den Religiösen gegen das, was sie die „ashkenasische-Elite“ nennen.
DA SIE die ersten waren, die ankamen, lange vor der Errichtung des Staates, kontrollierten die Ashkenasim den größten Teil des Machtzentrums – den sozialen, den wirtschaftlichen und den kulturellen Teil. Im Allgemeinen gehören sie zu dem wohlhabenderen Teil der Gesellschaft, während die Orientalen, die Orthodoxen, die Russen und die Araber gewöhnlich zur unteren Schicht gehören.
Die Orientalen hegen einen tiefen Groll gegen die Ashkenazim. Sie glauben – nicht ganz zu Unrecht – dass sie vom ersten Tag an in diesem Land gedemütigt und diskriminiert worden seien und noch werden, obwohl schon eine ganze Anzahl von ihnen die Spitze wirtschaftlicher und politischer Positionen erreicht hat. Neulich verursachte ein Topmanager von einem der führendsten Finanzinstitute einen Skandal, als er die „Weißen“ (d.h. die Ashkenazim) anklagte, alle Banken, Gerichte und die Medien zu beherrschen. Er wurde prompt entlassen, was einen neuen Skandal auslöste.
Der Likud kam 1977 an die Macht, indem er die Laborpartei entthronte. Mit kurzen Unterbrechungen ist er seitdem an der Macht. Doch glauben die meisten Likudmitglieder
noch immer, dass die Ashkenasim Israel beherrschen und sie weit hinter sich ließen. Jetzt, 34 Jahre später, wird die dunkle Woge der antidemokratischen neuen Gesetze von Likud- Vertretern durch den Slogan gerechtfertigt: „Wir müssen anfangen zu regieren!“
Die Szene erinnert mich an ein Baugelände, das von einem Holzzaun umgeben ist. Der schlaue Bauherr ließ ein paar Lücken im Zaun, so dass neugierige Passanten durchschauen können. In unserer Gesellschaft fühlen sich alle anderen Blöcke wie Passanten, die voller Neid durch die Lücken auf die ashkenasische„Elite“ schauen: den Obersten Gerichtshof, die Medien, die Menschenrechtsorganisationen und besonders das Friedenslager. Diese werden alle „Linke“ genannt, ein Wort, das seltsamer Weise mit der „Elite“ identifiziert wird.
WIE IST das Wort „Frieden“ zu einem Synonym der herrschenden und vorherrschenden Ashkenasim geworden?
Das ist eine der größten Tragödien in unserem Land geworden.
Juden haben viele Jahrhunderte in der muslimischen Welt gelebt. Sie machten dort nicht die schrecklichen Erfahrungen des christlichen Antisemitismus’ in Europa durch. Muslimisch-jüdische Feindseligkeit begann erst vor einem Jahrhundert mit der Ankunft des Zionismus – aus offensichtlichen Gründen.
Als die Juden aus muslimischen Ländern begannen, en masse in Israel einzuwandern, waren sie durchdrungen von der arabischen Kultur. Aber hier wurden sie von einer Gesellschaft empfangen, die alles Arabische total verachtete. Ihre arabische Kultur war angeblich „primitiv“, während wirkliche Kultur europäisch war. Außerdem wurden sie mit den „mörderischen“ Muslimen identifiziert. Deshalb wurden die Immigranten gezwungen, ihre eigene Kultur und ihre eigenen Traditionen, ihren Akzent, ihre Erinnerungen, ihre Musik über Bord zu werfen. Um zu zeigen, dass sie durch und durch israelisch geworden waren, mussten sie auch die Araber hassen.
Es ist natürlich ein weltweites Phänomen, dass in multinationalen Länden die unterdrückteste Klasse der dominanten Nation auch der radikalste nationalistischste Feind der Minderheiten ist. Zur oberen Bevölkerungsschicht zu gehören, ist oft die einzige Quelle des Stolzes, die ihnen gelassen wurde. Die Folge davon ist oft der unversöhnliche Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit.
Dies ist einer der Gründe, warum die Orientalen vom Likud angezogen wurden, für den die Ablehnung des Friedens und der Hass auf die Araber oberste Tugenden sind. Nachdem er auch Jahre lang in der Opposition gewesen war, wurde der Likud als der angesehen, der die „Außenstehenden“ vertrat und die bekämpfte, die „drinnen“ waren. Dies ist noch immer der Fall.
Der Fall der „Russen“ ist anders. Sie wuchsen in einer Gesellschaft auf, die die Demokratie verachtete und starke Führer bewunderte. Die „Weißen“, Russen und Ukrainer, verachteten und hassten die „dunklen“ Völker des Südens – die Armenier, Georgier, Tataren, Usbeken und ähnliche. ( Ich erfand einmal die Formel: Bolschewismus – Marxismus = Faschismus.)
Als die russischen Juden sich uns anschlossen, brachten sie einen starken Nationalismus mit sich, ein völliges Desinteresse für Demokratie und einen automatischen Hass gegen die Araber. Sie können nicht verstehen, warum wir ihnen überhaupt zu bleiben erlauben. Als in dieser Woche ein weibliches Mitglied der Knesset aus Petersburg ein Glas Wasser auf den Kopf eines arabischen Mitglieds von der Laborpartei schüttete, war niemand sehr überrascht. (Irgend jemand witzelte: „Ein guter Araber ist ein nasser Araber“) Für Liebermans Anhänger ist „Frieden“ ein schmutziges Wort, ebenso das Wort „Demokratie“.
Für religiöse Leute aller Schattierungen – von den Ultra-Orthodoxen bis zu den national-religiösen Siedlern gibt es da überhaupt kein Problem. Von der Wiege an lernen sie, dass Juden das auserwählte Volk sind; dass der Allmächtige uns persönlich dieses Land versprochen hat; dass die Gojim – einschließlich den Arabern – nur minderwertige Menschen seien.
Es mag ganz zu Recht gesagt werden, dass ich hier verallgemeinere. Das tue ich, um die Sache zu vereinfachen. Es gibt tatsächlich Orientalen, besonders in der jungen Generation, die von dem Ultra-Nationalismus des Likud abgestoßen werden und noch mehr vom Neo-Liberalismus des Binjamin Netanjahu (Shimon Peres nannte ihn mal „schweinischen Kapitalismus“), da dieser im direkten Widerspruch zu den Grundinteressen ihrer Gemeinschaft steht. Es gibt auch eine Menge anständiger, liberaler, friedliebender religiöser Leute (Yeshayahu Leibowitz kommt mir in den Sinn). Viele Russen verlassen nach und nach ihr selbst geschaffenes Ghetto. Aber dies sind kleine Minderheiten in ihren Gemeinden. Der Großteil dieser drei Blöcke – orientalisch, russisch und religiös – sind in ihrer Gegnerschaft zum Frieden vereinigt und bestenfalls gleichgültig gegenüber der Demokratie.
All diese zusammen bilden den rechten Flügel, eine Anti-Friedens-Koalition, die jetzt Israel regiert. Das Problem ist nicht nur eine Frage der Politik. Es liegt viel tiefer und ist entmutigender.
EINIGE LEUTE klagen uns, die demokratische Friedenskoalition, an, das Problem nicht früh genug erkannt und nicht genug getan zu haben, um Mitglieder der verschiedenen Blöcke zu den Idealen von Frieden und Demokratie herangezogen zu haben.
Ich muss zugeben, dass dem so ist und dass ich Anteil an der Schuld habe, obwohl ich darauf hinweisen möchte, dass ich von Anfang an versuchte, die Verbindung herzustellen. Ich bat meine Freunde, wir müssten uns besonders um die orientalische Gemeinschaft bemühen und sie an das ruhmreiche muslimisch-jüdische „goldene Zeitalter“ in Spanien erinnern und auch an den sehr großen gegenseitigen Einfluss der jüdischen und muslimischen Wissenschaftler, Dichter und religiösen Denker in allen Jahrhunderten.
Vor ein paar Tagen wurde ich eingeladen, vor dem Lehrkörper und den Studenten der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva einen Vortrag zu halten. Ich beschrieb die Situation mehr oder weniger in derselben Weise. Die erste Frage aus der großen Zuhörerschaft, die aus Juden – Orientalen und Ashkenasim – und Arabern, besonders aus Beduinen, bestand: „Welche Hoffnung gibt es noch? Wie können die Friedenskräfte gewinnen?“
Ich sagte ihnen, ich setze mein Vertrauen in die neue Generation. Die große soziale Protestbewegung im letzten Sommer, die ganz plötzlich ausbrach und Hunderttausende erfasste, zeigte, dass hier so etwas geschehen kann. Die Bewegung vereinte Ashkenasim und Orientalen. Überall im Lande wuchsen Zeltstädte auf, in Tel Aviv und in Beer Sheva.
Unser erster Job wäre, die Barrieren zwischen den Blöcken zu brechen, die Realität zu ändern, eine neue israelische Gesellschaft zu schaffen. Wir benötigen Blockbrecher.
Es stimmt, dies ist ein sehr, sehr schwerer Job. Aber ich bin davon überzeugt, er könnte getan werden.
21.Januar 2012
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)