Die Nacht am Stuttgarter Wagenburgtunnel: Bilder eines auf Kapitalinteressen programmierten Staates
Im Rahmen des urbanen und verkehrsindustriellen Umbauprogramms „Stuttgart 21“ (S21) werden in der Nacht zum Sonntag am Stuttgarter Wagenburgtunnel 34 Bäume gefällt. Ein Augenzeugenbericht und eine Chronologie der Ereignisse durch unsere Kollegen der unabhängigen Medienstation Cams21.
Ein Augenzeugenbericht von Thomas Renkenberger. Er wird hier im Original dokumentiert.
„Transpi „Viel zerstört, nichts gewonnen“ vorm Tunnel, umringt von Polizei, Fotografen, vereinzelten Demonstranten. Die Trommler legen wieder los, einzelne Megafon-Durchsagen erinnern die Polizei, dass es sich um ein Mafia-Projekt handelt und sie sich auf die Seite des Volkes stellen sollten. Später könnten sie nicht sagen, sie hätten nichts gewusst. Dazwischen OBEN-bleiben-Rufe, Journalisten interviewen vorm Transpi, eine Person nach der anderen wird weggeführt, alles friedlich. Ein Baum wird noch wacker blockiert;
Carola: DB führt regierung vor, die lässt es mit sich machen. DB hat kein Baurecht, erst recht nicht Bäume zu fällen.
Baustellen-Einrichtung ist unnötig, PFV 1.1 – Filder – ist nicht abgeschlossen, Anhörungen erfolgen erst noch – unzulässige Maßnahme, wie beim 30.9., als illegale Maßnahmen von der Polizei durchgesetzt wurden.
Es ist 23:15; Die Polizei kündigt eine Abschlepp-Aktion eines AA-Kfz an.
„Grüß Gott“, begrüßt der Polizist die Bannerträgerin; sie kommt mit.
Sprechchor: Dietrich? weg! Ist er vor Ort?
Die Polizei sagt den Namen des Autohalters durch den Lautsprecher durch – Datenschutz?
Um einem Baum sitzt eine offenbar entschlossene Gruppe von Protestierern. Das banner ist noch zu sehen, aber immer mehr Träger werden abgeführt, jetzt die letzten mitsamt dem Banner. Nur eines hält noch: Baustopp! Bewährtes erhalten!
Die Abgeführten von der Röhre werden mit Applaus empfangen – vor den Gittern hat sich eine Schar versammelt.
Die Bannerträger erklären, gemeinsam gehen zu wollen – aufrecht mit dem Banner, das noch einmal präsentiert und fotografiert wird.
Megafon-Durchsagen unter den Augen der Polizei mit ironischem Dank an Kretschmann und Herrenknecht werden geduldet.
Jetzt fährt der erste Schredder? unter Polizeischutz aus dem Tunnel an, nein, ein Unimog mit Schaufel – wozu?
Wehrt euch, leistet Widerstand…ertönt durchs Mikrofon. Der Kameramann wird auf die andere Straßenseite gewiesen.
Ein Baum ist noch besetzt, immer mehr Leute werden nach und nach geräumt.
Ein Baum ist noch umringt von einer Gruppe, jetzt von viel Polizei umstanden, stumm. Leise Gespräche, eine Person erhebt sich und geht mit weg. Die nächste, und die nächste; sie stehen selber auf und gehen mit – begrüßt an der Absperrungsfront von beifall der Wartenden. Jetzt noch drei am Baum, es ist 23:36. Freundlich, behutsam, höflich aber unerbittlich werden auch die letzten Blockierer einschließlich Presse hinausgebeten und muss weichen.
Das SEK wird nun den Baumbesetzer räumen – die „Herren“ in Vollmaskierung, Hubsteiger – ein Pressemann der Polizei informiert die anwesenden Journalisten. Er reibt sich die Hände, lacht, eine freundliche, geschäftsmäßige Atmosphäre.
Ein Redakteur wird belehrt, weshalb die SEK-Leute vermummt sind.
Im Gebüsch wird noch einmal nach versteckten Demonstranten gesucht – es soll keinem was passieren.
Aus dem Tunnel etliche Fahrzeuge, darunter der Hubsteiger.
Der Baumbesetzer in 5-6m Höhe, am selben Platz. Jetzt spricht Dietrich mit dem SWR ab, (was gefragt wird beim bevorstehenden Interview?), der Kameramann filmt einen Brief des EBA ab, der wohl als Legitimitätszeugnis herhalten muss..
Im Hintergrund schüttelt der Wind die Zweige des Baumes, in dem der letzte Blockiere-Demonstrant steht.
Später mehr. (…)
Also doch!
Der Mann hat den Mut der Verzweiflung!
Während mit diesen gilfend-durchdringenden Zahnarzt-Bohrgeräuschen das Holz der Bäume zerkleinert wird, sitzt er hoch oben auf dem Gelenk des Baggers -scheinbar von UNTEN HOCHGEKLETTERT!!!
Oder doch von oben?
Wie hat er das nur geschafft?
Der Kopf unter der schwarzen Kapuze dreht sich verneinend hin und her – hat man ihn von unten aufgefordert? ihm ein Angebot gemacht? Wir werden es erfahren, später…
Jetzt ruht er, vornübergebeugt hält er jetzt eine behandschuhte Hand wie zur Abwehr neugieriger Blicke seitlich an seinem Gesicht erhoben.
Mein Gott, behüt ihn!
Es ist 1:26.
Die Polizei schickt alle weg, die keinen Presse-Ausweis haben, aber die camS-Leute stehen ja nur ganz brav da oben, und die Polizei ists freundlich zufrieden.
In der bizarr-unwirklichen Situation scheint die Zeit stillzustehen, hier stimmt die ausgeleierte Formulierung, ein Bild wie aus einem Film, und das wird filmreif.
Hilflos stehen die vielen Polizisten und Arbeiter herum.
Jetzt aber… kommt der Hubsteiger!
Er hält hinterm Bagger.
Gibt es Gespräche?
Die Stütz-Stempel sind ausgefahren.
Man hält den Atem an.
Bitte, lass es gut gehen. So oder so. Aber lieber so!
Die Motorsägen sind fast verstummt, dafür hört man die Motoren des Hubsteigers.
Haste mal ‚n Kaffee?
Der Mann auf dem Bagger hält sich mit den Armen in Bewegung. Er sitzt mit dem Rücken zum Hubsteiger. Er muss sich wenden, wenigstens den Kopf, wenn er was sehen will. Wenn er sehen will, was sich da hinter ihm zusammenbraut.
Da oben ohne Seil und Karabiner dreht man sich nicht so leicht herum ohne dieses extrem aufregende Gefühl im Bauch, im Kopf, das vom Bewusstsein der Möglichkeit herrührt, dass aus dieser Höhe… ein anderes Sitzgefühl vorherrscht als unten.
OBEN bleiben, rufen sie ihm zu, aber es verstummt bald wieder.
Das Bewusstsein seiner Gefährdung lässt nicht viel Raum für Aufforderung zum Heldentum.
Im Hubsteigerkorb sind sie jetzt zu dritt, und der mann auf dem Bagger..ja, tatsächlich, er hat sich gedreht, um 180° gedreht, man hat es gar nicht mitgekriegt, aber jetzt sitzt er der drohenden Gefahr – oder Rettung? – zugekehrt, Aug in Auge mit den hell erleuchteten, schwarz bemaskten Gestalten, die noch dort unten mit geübter Präzision ihrem Job nachgehen.
Sie sind hochgefahren, er regt sich nicht.
Sie halten neben ihm, legen ihm ein Seil um den Körper, holen ihn in den Korb.
Unheimlich schnell ging das, von unten ertönt Beifall, Klatscher und ein paar Jubelrufe, rasch wieder verstummt.
Es ist 1:53.
Wenn jetzt der nächste hochklettert…
Es ist nichts passiert, nichts Schlimmes, Gott sei Dank.
Sie schleppen ihn weg, nicht zimperlich.
Die reguläre Presse, die schon nach dem ersten Baum gehen wollte, geht jetzt wohl ins Bett.
Ich auch.
camS21 macht weiter – Schichtwechsel.
Danke, tilman36!
Der Bagger setzt sein Zerstörungswerk fort.
Schade, dass Bäume im Januar nicht ausschlagen.
Dann hätte ich noch gern den Auftraggeber Schuster vor Ort.“
Eine Chronologie der Ereignisse von Cams21:
Baufeldfreimachung für die Baustellenlogistik des noch nicht planfestgestellten Fildertunnel
Die Bahn richtet in der Nacht von Samstag, 21.01.2012 auf Sonntag ohne Baurecht unter Polizeischutz ihre Baumstelle für den PFA 1.2 ein. Diese Handlung ist zum jetztigen Zeitpunkt nicht notwendig.
Nachdem am Vormittag gemeldet wurde, dass in der Nacht von Samstag auf Sonntag Bäume vor dem Wagenburgtunnel gefällt werden sollen, entschieden viele Demonstranten sich im Anschluss an die Kundgebung vor dem Tunnel zu versammeln.
Die Polizei sperrte deshalb beidseitig die Zufahrt zum Wagenburgtunnel und verhielt sich auffällig zurückhaltend.
Einige der etwa 200 Demonstranten nutzten die Gelegenheit und besichtigten das autofreie Tunnel, andere warteten angespannt und wieder andere freuten sich, dass die Musiker für gute Laune sorgten.
21.00 Uhr:
Immer mehr Einsatzfahrzeuge der Polizei fahren vor dem Tunnel auf. Die Urbahnstr. ist nur noch für Anwohner passierbar.
21.10 Uhr
Mehreren Hundertschaften der Polizei marschieren in Zweierreihen aus Richtung Neckarstraße, bilden eine Kette auf der Schillerstraße vor dem Wagenburgtunnel und sperren den Zugang zum Versammlungsort.
Die vorab bereitgestellten Polizeigitter werden abgeladen und aufgestellt, die Stuttgart21-Gegner über Lautsprecher aufgefordert, das Gelände vor dem Wagenburgtunnel zu verlassen und sich auf den Gebhard-Müller-Platz zu begeben. Unwissend, dass die Blockierer auf selbigem standen, wo sie dann auch blieben.
Pünktlich zum Einsatz der Polizei erscheinen nun auch die sogenannten offiziellen Medien. Unter anderem der swr.
Cams21 berichtet live:
22.00 Uhr
Die Versammlung wird von der Polizei aufgelöst.
S21-Projektsprecher Dietrich taucht im abgesperrten Bereich, mit sicherer Distanz zu den Protestierenden auf. Er ist guter Dinge und gerne für ein Späßchen mit Herrn Keilbach, dem Pressesprecher der Polizei, und später auch für ein Interview beim swr zu haben. Laut EBA-Schreiben vom 20.01.2012 sind die Baumfällungen vor dem Tunnel legitim, so Dietrich zum swr.
Gegen 22.30 Uhr:
Nach mehreren Aufforderungen den Platz zu verlassen, werden die Menschen einzeln weggeführt. Eine Aufnahme der Personalien erfolgt.
Etwa 1 Stunde später werden die Bäume geräumt.
Die offizielle Presse wird über die Tätigkeit des SEK informiert, die Polizei durchkämmt mit Taschenlampen das Gelände.
23.58 Uhr:
Ein Auto, das vor der Röhre geparkt hatte, muss abgeschleppt werden.
Die letzte Person auf dem Baum wird vom SEK mittels Hubsteiger geräumt.
Die Fällmaschinen am Wasen setzen sich in Bewegung
0.08 Uhr:
Ein Polizist gibt via Funk durch: « sie können einfahren »
0.11 Uhr
Die Maschinen kommen durchs Wagenburgtunnel.
0.22 Uhr
Das Flutlicht geht an, die Schredder stehen bereit.
Um 0.32 Uhr wird der erste starke Ast « gepflückt »
Cams21 berichtet live:
0.50 Uhr
Es kommt zu einem Schlagstockeinsatz durch die Polizei, nachdem mehrere Personen an den Gittern gerüttelt hatten. Hierbei wurde ein Demonstrant verletzt.
0.55 Uhr
Mehrere Stuttgart21-Gegner rennen durch die Polizeikette. Einer von ihnen gelangt auf den Arm des Baumfäll-Baggers. Die Besetzung hält die Arbeiten 1 ganze Stunde auf.
Nach einer friedlichen Räumung folgt eine ruppige Abführung (hier zu sehen ab Min.34.45).
Später wird von brutalen Armverdrehern durch einen BFE-Polizisten bei der Durchsuchung des Bagger-Besetzers gesprochen.
Cams21 berichtet live:
In der Zwischenzeit meldet die Polizei via facebook, dass 6 Personen unter dem Verdacht vorläufig festgenommen wurden, im Wagenburgtunnel Kameras beschädigt zu haben.
1.04 Uhr
Der Gebhard-Müller-Platz wird für den Autoverkehr freigegeben obwohl sich hier noch viele Demonstranten befinden.
Die Baufeldfreimachung für den noch nicht planfestgestellten Fildertunnel geht weiter.
3.41 Uhr
Es steht kein Strauch mehr. Die ersten Bäume werden geschreddert.
4.25 Uhr
Der Platz ist leer.
Folgende Punkte sind kritisch zu betrachten:
Baumfällungen dürfen aus Gründen der Unfallverhütungsvorschrift nach VSG 4.3 §5 nur bei Tageslicht durchgeführt http://www.lsv.de/nb/08service_informati…g4_3forsten.pdf
Ohne Baugenehmigung in einer Nacht-Aktion eine Baustelle einzurichten, die keinerlei Dringlichkeit hat, hinterlässt einen schalen Nachgeschmack.
Die Stadt ist nun um 34 Bäume ärmer, die allesamt hätten verpflanzt werden können.
Der Zeitpunkt der Fällungen – nachts um 03:40 (Sonntag) – müsste jeden stutzig machen
Bilder der Nacht am Wagenburgtunnel. Bilder der Nacht eines auf Kapitalinteressen programmierten Staates, der mittlerweile bereits gegen große Teile eines Volkes ohne Partei steht und mit aller verbliebenen Macht seine verbliebene Macht demonstrieren muss.