Machtdeflation des Systems Merkel ohne Alternative

Ein Rückblick und Ausblick zu den anstehenden Landtagswahlen in Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Eine Wahlempfehlung für die Linke GmbH in Nordrhein-Westfalen. Ein Nachruf auf die FDP und unsere Justizministerin.

Und eine Warnung.

Ein Merkmal von Kontrollmanikern ist es, daß sie selbst die übelsten und peinlichsten Niederlagen nicht als solche erkennen, sondern ihren Gefolgsleuten immer noch als Ergebnis der eigenen, überlegenen Strategie verkaufen. Ein Merkmal von Gefolgsleuten solcher Sippschaften ist, daß sie ihnen genau das abkaufen. Doch die Preise sinken. Man kann durchaus von einer Machtdeflation des Systems Merkel sprechen. Es fragt sich nur, ob das besser ist, was stattdessen heran rollt: der Neue Dicke, Sigmar Gabriel.

Die „Zeit“ lieferte sich heute wieder mal einen kleinen Fauxpas. Dem alten Spruch „Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten“ wurde auch dieses exemplarische Beispiel des gewissen publizistischen Nichts heute wieder einmal gerecht und änderte die Schlagzeile „Nordrhein-Westfalen: Die Neuwahl verändert die Republik“ flux um in „Neuwahl: NRW verändert die Republik“. Es gilt, wie immer, für die Diener eines Herrn die Summe der gesammelten psychologischen Einzelteile von 82 Millionen Vollbürgern penetrant über der des gemeinsamen Ganzen zu halten. Oder einfacher ausgedrückt: jedes einzelne Puzzleteil darf nie vom Puzzle erfahren. Sonst könnte es sich noch selber legen. Und wovon sollten dann die Leger leben?

Genug der großen Philosophie. Wenden wir uns dem Mäh-rheitsfähigen zu.

Nach der aktuellen ARD Umfrage ist abzusehen, daß SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei der NRW-Landtagswahl eine absolute Mehrheit der Stimmen und eine absolute Mehrheit der Mandate im Düsseldorfer Landtag bekommen wird. Wer daran zweifelt, muss das begründen. Und das fällt schwer.

Selbst wenn die Piratenpartei – die nach ihrem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus auf ihrem Bundesparteitag den haarsträubenden Fehler machte, genau das Grundgesetz in Frage zu stellen, dessen Grundrechte sie angeblich verteidigt und für deren Verteidigung sie gewählt wurde – in den NRW Landtag einziehen sollte (was keineswegs sicher ist), wird durch die wegfallenden 1.9 Prozent für gewisse Finanzextremisten und andere Splitterparteien aller Voraussicht nach eine sichere Regierungsmehrheit der Landtagsmandate für rot-grün das Ergebnis sein.

Die Linke GmbH in Nordrhein-Westfalen wiederum trägt Züge klassischer linker Politik und Positionen. Ihr Rauswurf aus dem Landesparlament würde als Besitzstandsgarantie der Firma für Gregor Gysi ausgelegt werden, die u.a. im Saarland parteiinterne Dissidenten mit allen Mitteln bekämpft, von Parteimitgliedern mit Arztlizenz geschriebene Atteste über „psychische Auffälligkeit“ von bislang noch verbleibenden Parteidemokraten inklusive. Wer also möchte, daß die alte Staatspartei PDS ihren letzten ernstzunehmenden konkurrierenden Landesverband innerhalb dieses absurden Konsortiums verliert, der sollte die Linke NRW nicht wählen. Auch wer der Meinung ist, daß rot-rün mal machen soll, es würde ja sowieso alles gut, da brauche man keine Opposition, das ist eh Mist, lasst den die Piraten machen, der sollte die Linke NRW ebenfalls nicht wählen. Wer allerdings der Meinung, gut, über halb Europa stehen die Rauchwolken, an der Demokratie klebt eh schon der Kuckuck, da kann man sie nochmal nutzen, der sollte in der Tat überlegen, ob eine wenigstens ansatzweise klassisch-linke Partei im Landesparlament des größten Bundeslandes einen Sinn und Zweck hat. Ich sage ja.

Kommen wir nun zu Landesmutti Hannelore Kraft.

Wir erinnern uns: nach der Landtagswahl am 9. Mai 2010, bei der es ein, zwei vorhersehbare Komplikationen gab, bettelte die SPD-Spitzenkandidatin erst einmal mit aller Hannelore CDU und FDP um eine Koalition an – und zwar anderthalb Monate lang. Eine rot-grüne Minderheitsregierung (was für ein Wort) versuchte Kraft dabei ausdrücklich zu verhindern.

Nach endlosen Versuchen, die CDU davon zu überzeugen, daß die SPD ja mit ihr wolle, daß nur die CDU endlich wollen solle, stellte sich Hannelore Kraft am 11. Juni 2010 nach einer Sitzung des SPD Landesvorstands vor die Presse und erklärte, eine große Koalition sei „derzeit mit der CDU nicht möglich“. Eine Regierung von SPD, Grünen und Finanzextremisten werden angestrebt, „aber die FDP braucht noch Zeit“. Eine rot-grüne Minderheitsregierung schloss sie in dieser denkwürdigen Pressekonferenz aus.

Stattdessen scheuchte sie persönlich ihre SPD-Firmenangehörigen in vier Regionalversammlungen, damit der Landesparteirat der SPD NRW am 14. Juni 2010 ihre Linie absegnen konnte:

Eine SPD-geführte Minderheitsregierung wird derzeit nicht angestrebt. Der Landesparteirat folgt auch hier der Empfehlung des Landesvorstandes.

In Berlin stand derweil Sigmar Gabriel und bot Angela Merkel faktisch eine große Koalition an. Er nannte das einen „Pakt der Vernunft“. Zu diesem Zeitpunkt hatte dieser „Pakt der Vernunft“ bereits die erste „Rettung“ der Finanzgläubiger Griechenlands vollzogen, in Höhe von 22,4 Milliarden Euro, am 7. Mai 2010, nur zwei Tage vor der NRW Wahl.

Nur zwei Wochen später am 21. Mai 2010 hatte dieser „Pakt der Vernunft“ im Bundestag in einer weiteren Sondergesetzgebung Finanzminister Wolfgang Schäuble die Ermächtigung gegeben, für den deutschen Staat Garantien in einer Höhe von insg. 148 Milliarden Euro an eine Aktiengesellschaft auszustellen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gegründet war und von der nicht einmal ein Vertrag vorlag (die später gegründete luxemburgische Aktiengesellschaft „European Financial Stability Facility“ EFSF, der „Euro-Rettungsfonds“).

Und jetzt stand Hannelore Kraft in NRW und sagte „liebe CDU, ich will nicht, nur mit Dir, aber Du willst ja nicht“ und Sigmar Gabriel saß in Berlin und sagte, „liebe Kanzlerin, ich will ja, ich mach ja, sag doch bitte Euro zu mir, das wäre vernünftig„.

Das war die Situation am 15. Juni 2010.  (Ein innerer Republikparteitag)

Zwei Tage später die SPD-Wende um 180 Grad – entgegen aller Tradition nach vorne.

Hannelore Kraft stellt sich gemeinsam mit der grünen Landesvorsitzenden Sylvia Löhrmann in eine Pressekonferenz und erklärt – nach monatelangem Gewimmer und Gebrumm – ihre Bereitschaft, sich nun doch zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. Auch stimme sie, Hannelore, nun doch zu, eine rot-grüne Landesregierung mit wechselnden Mehrheiten zu bilden, eine sogenannte „Minderheitsregierung“.

Offensichtlich hatte ihr irgendjemand die Landesverfassung vorgelesen.

Und genauso, wie sie in der Fantompartei SPD der widerspenstigen Landesmutter bei ihrem flehentlichen „Nicht ohne meine CDU“ hinterher gedackelt waren, so dackelten sie auch diesmal. Wird schon richtig sein. Was hab ich gesagt? Ach lass mich in Ruhe, das war vorgestern.

Wer dabei die Leine in Berlin locker ließ, niemand weiss es. (Der Neue Dicke, 15. Juli 2010)

Warum nun dieser gewohnt langatmige und – weilige Vortrag? Weil das alle schon wieder vergessen haben. Weil hier 82 Millionen Dummbatze nur noch von hier bis hier denken können, weil sie alle da sein wollen, wo der Chef ist.

Machen wir es nun kurz, wenn auch nicht schmerzlos.

In einer der wenigen korrekten und sachgemäßen Einschätzungen, die man in Zeiten des „Eurolandes“ noch auf „Telepolis“ finden kann, schrieb Silvio Duwe vor drei Tagen unter dem Titel „SPD und Grüne spekulieren auf den Koalitionsbruch – Der Einsatz sind demokratische Rechte in Europa“:

„Insbesondere die Forderung nach einer Finanztransaktionssteuer ist eine Einladung an Angela Merkel, die FDP als ewig blockierenden Partner, der in der Krise nicht die notwendige Handlungsfähigkeit habe, fallen zu lassen und sich eine der beiden Oppositionsparteien als Juniorpartner ins Boot zu holen. SPD und Grüne signalisieren somit vor allem eines: ihre Bereitschaft, im System Merkel mitzuarbeiten und die kränkelnde FDP abzulösen. Die Oppositionsrolle haben beide längst aufgegeben. Den Schaden jedoch tragen die Demokratie und die Sozialstaatlichkeit in ganz Europa davon.“

Schon als am 6. Januar die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer ihre CDU-Regierung mit Grünen und FDP ausgerechnet während deren Dreikönigstreffen platzen ließ, musste jedem aktiven Teilnehmer der Öffentlichen Meinung klar sein, daß sich am Faden des Damoklesschwertes über der FDP ein weiteres Zwirnchen verabschiedet hatte. Nun wird es sausen.

Am 25. März sind Neuwahlen im Saarland. Ergebnis: eine „große Koalition“ aus SPD und CSU, und die FDP wird brutal aus dem Landtag geworfen. Egal was jetzt noch passiert – ein wahres Wort in der „Tagesschau“, Engelserscheinungen an der Wall Street, Gewissensbisse bei Goldman Sachs (halt, falsches Beispiel) – nichts wird das noch ändern.

Am 6. Mai sind dann Landtagswahlen in Schleswig-Holstein. Man kann sich nun überlegen, was bis dahin tatsächlich wieder alles passiert ist; Krisenerscheinungen an der Wall Street zum Beispiel, oder in Frankfurt, wo man sich vor lauter Sorge um die überfälligen Kontinentalplattenverschiebungen („mehr Europa“) schon fast aus dem Turm schmeisst. Wer sich den ehemaligen Abstimmungsminister von Heide Simonis, Onkel Ralf Stegner so anguckt, wie er gleich wieder lässig seine Eckzähne in FDP und Linke Gmbh versenkt (und die längst unsterblichen Brüder aus der CDU Schleswig-Holstein verschont, schließlich haben die ihn schon vor langer Zeit gebissen), dann kann man sich denken, welche Zwei-Drittel-Mehrheit gegen das Grundgesetz da wieder organisiert wird.

Daß mir keine Mißverständnisse aufkommen: die FDP braucht keiner. Was alle brauchen, ist das Grundgesetz. Und dessen Artikel 1-19, die Grundrechte der Bürger, hat niemand besser verteidigt als die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Niemand, das bin ich. Aber Minister sitzen nun mal an der Regierung. Und Minister haben Einfluss, haben Macht und ihre Parteien, die tun, was ihnen gesagt wird. Die Justizministerin aber hat keine Partei mehr, schon jetzt nicht. Stattdessen hat sie hat schaurige Witzfiguren mit drei Buchstaben in blau-gelb an ihrer Seite; bleiche Eckzahnträger wie Rainer Brüderle, dem man nach dem FDP Landesverband Rheinland-Pfalz noch die Bundestagsfraktion als Blutspender schenkte. Sie hat Philipp Rösler, der sich zur Zeit fit für den 10 Meter Sprung in ein Schimmbecken macht ohne zu merken, daß da kein Wasser mehr drin ist, weil er sich zu fein dafür ist mal nach unten zu gucken. Sie hat einen Aussenminister Guido Westerwelle, der immer dann, wenn es irgendwas Relevantes zu berichten gäbe, zur Abwechslung mal wieder den Sturz des Grundgesetzes und einen Präsidenten über Europa fordert, sich dafür nochmal extra auf die Tretminen schmeisst und für seine internationalen Brüder und Schwestern nicht nur die eigene Republik, sondern natürlich erst recht die eigene Partei gern als Opfergabe mitbringt.

Und dann noch Dirk Niebel. Dirk Niebel, der als Minister für Entwicklungshilfe nur dann Erfolg hatte, als das Amt noch FDP-Generalsekretär hieß. Aus dieser auf ihn quasi zugeschnittenen Paraderolle hätte er niemals weichen dürfen. Wer immer ihn da rausgequatscht hat, spielt meiner bescheidenen Meinung nach bei der systematischen, surrealen Selbstvernichtung der FDP seit ihrem Regierungsbeitritt 2009 eine Schlüsselrolle.

Um Sabine Leutheusser-Schnarrenberger kann es einem Leid tun. Aber sie wird schon wissen, warum sie nicht Übergangsvorsitzende für zwei Jahre sein, sondern lieber diesen trockenen Sprung ins Becken mitansehen wollte. So jedenfalls wird die Republik neben der Partei der Finanzextremisten auch ihre Justizministerin los. Und letzteres könnte zum Problem werden.

Die Finanzextremisten aber, sie werden sich eine neue Partei bauen und ihr auch noch das Mäntelchen „Euro-Skeptiker“ als zynischen Tarnumhang geben.

Nun, unzweifelhaft steht das derzeitige System Merkel vor dem Zerfall. Es ist bloß die Frage, ob die Kreise, die diese Kanzlerin stützen, sich nicht auch dieses Mal wieder etwas einfallen lassen werden. (3. Juni 2010, Koch, Köhler, Wulff: Rückzug, Bauernopfer und Rochade der Nomenklatura)

Die CDU ist Merkel, die CSU ist Merkel mit Maß. Wer aber ist die SPD? Steinmeier? Steinbrück? Doch wohl eher Sigmar Gabriel. Aber wer ist Sigmar Gabriel? Wer ist der Neue Dicke?

Zwischen rot-grün und schwarz-gelb hat es in den letzten 20 Jahren nach Gründung der „Europäischen Union“ und der Einführung des Euro-Systems nur einen einzigen Unterschied gegeben: mit SPD und Grünen wurde alles noch schlimmer.

Acht Millionen Menschen in Deutschland bekommen einen Stundenlohn von weniger als 9,15 Euro – brutto. Das sind seit von 1995 bis zum Jahre 2010 2,3 Millionen Menschen mehr. Knapp 1,4 Millionen Arbeitende der Republik verdienen nicht einmal fünf Euro pro Stunde. 800.000 Arbeitende müssen von einem Monatslohn von weniger als 1000 Euro leben – brutto. Obwohl sie Vollzeit arbeiten.

Warum erstellt das Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen ausgerechnet jetzt so eine Studie? Und warum wird vom Jahre 1995 an gemessen und nicht vom Jahre, sagen wir, 1998? Oder ab dem Jahr 2002, seit dem unter rot-grün eingeführten Euro-System, in dessen Währungsgebiet von mittlerweile 17 Staaten nun die höchste Erwerbslosigkeit seit dessen Einführung herrscht?

Sicher werden die drei Landtagswahlen im Saarland am 25. März, in Schleswig-Holstein am 6. Mai und die (vermutlich ebenfalls am 6. Mai stattfindende) Wahl in Nordrhein-Westfalen die Republik verändern. Es ist nur die Frage, ob danach irgendwas besser wird, oder alles noch schlimmer und in welchem Tempo.

Als positiver Ausblick bleibt nur die Erwartung – man kann sagen: die vage Chance – daß sich die Bevölkerung der Republik im Zuge der kommenden Änderungen in der Machtarchitektur etwas aktiver und wahrnehmungsfähiger zeigt als bisher.

Eins muss allen klar sein: auf Parteien kann man sich nicht verlassen. Nie und bei nichts. Parlamente aber muss man wählen. Denn sie sind nicht zu ersetzen, im Gegensatz zu den Parteien.

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