Krebs der Seele
Können wir den Ruhm aus dem Wort „Krieg” herauspressen? Können wir statt dessen über primitive Irrationalität und lebenslange innere Hölle sprechen? Können wir über die Trümmer von zwei Ländern sprechen?
Können wir über Krebs der Seele sprechen?
In der außergewöhnlichen Dokumentation On the Bridge (Auf der Brücke) – einem großzügigen Einblick in die Wirklichkeit des Krieges und den Schrecken von PTSD (Kriegstrauma) unter der Regie von Olivier Morel – hat jeder der sechs Irakkriegs-Veteranen, der sein oder ihr Herz im Lauf des Films öffnet, einen Moment eines tiefen, fast unerträglichen Schweigens am Ende, in dem er/sie in die Kamera starrt und durch die Kamera den Betrachter anstarrt … und das Land, das aufzuwecken sie sich vorgenommen haben. In diesem Schweigen beginnen einige Fragen aufzutauchen.
On the Bridge legt die tiefen psychischen Wunden von Amerikas zurückkehrenden Veteranen frei – „Ich vergleiche PTSD mit der Szene in einer Komödie, wo ein Kasten geöffnet wird und Sachen nicht aufhören herauszupurzeln,“ sagte Jason Moon an einer Stelle – aber da kommt noch viel mehr als das. Diese Wunden werden in einen Zusammenhalt gestellt: Wir sind die Aggressornation, nicht nur auf der geografischen Ebene, wo wir in ein Land einmarschieren und es besetzen und seine Ressourcen requirieren, sondern auf der menschlichen Ebene, wo amerikanische Gis routinemäßig Iraker auf den Straßen und in ihren Wohnungen ihrer Menschenwürde berauben und sie misshandeln.
„Als ich dort war, geschahen viele traurige Dinge,“ erklärte Moon. „Ich konnte das nicht verarbeiten – ich konnte nicht weinen. Sie hätten mich für einen Schlappschwanz gehalten. Du musst in der Gruppe bleiben. Wenn du deine Position verlierst, ist das gefährlich. So frisst du das alles einfach in dich hinein. Dann kommst du nachhause … ‚wir möchten mit dir reden.’ Du öffnest die Tür zu dem Gespräch mit einem Gefühl – es ist gigantisch. Niemals (zuvor) in meinem Leben hatte ich Gefühle, die ich nicht kontrollieren konnte.“
Der Grund für das enorme Ausmaß dieser Gefühle – endlose Gedanken an Selbsttötung hervorrufend – liegt jedoch darin, dass die Veteranen von Schuldgefühlen für das heimgesucht werden, was sie gesehen und was sie getan haben.
„Ich lachte, als ich eine Geschichte hörte,“ sagte Ryan Endicott. „Eine der Kampfgruppen hatte bei einer Schießerei Getötete auf die Kühlerhauben ihrer Humvees gebunden und fuhr dann stundenlang in der Stadt herum … Eines Tages brachten sie ein Auto herein, das gerade beschossen worden war. Das Gehirn des Fahrers lag auf dem Rücksitz des Autos. Ich ging hinüber zu dem Leichensack mit dem Beifahrer darin. Der Sack begann zu zucken und wir konnten hören, dass der Körper noch immer versuchte, Luft zu bekommen. Wir lachten, als wir auf den Sack trampelten.“
Und Moon: „Bei uns waren ein paar Kameraden, die wirklich widerliche Dinge machten. Sie spielten dieses Spiel – wenn die Kinder unter das gelbe Band kommen, dann darfst du sie mit dem Gewehrkolben auf den Kopf schlagen. Das ist die Regel. Das Kind kennt sie. Die Soldaten nahmen also eine 20 Dollar Banknote und vergruben sie im Sand, wobei nur ein kleines Stück herausschaute. Dann versteckten sie sich hinter den Lastautos und taten so, als würden sie nicht hinschauen.
„20 Dollars sind für einen Iraker ein Monatseinkommen. Schließlich kommt also ein irakisches Kind und fängt an, das zu begutachten, und dann, sobald es unter das Band geriet, kamen sie heraus mit ihren Gewehrkolben. Es war wie ein Spiel. Sie versuchten, das Kind anzulocken, damit sie es schlagen konnten.“
Moon, der als Fahrer in einer Kolonne eingesetzt war, sprach auch über die Befehle, die allen Fahrern zu einem Zeitpunkt erteilt wurden: „Wenn Kinder auf die Straße kommen, haben wir Befehl, sie zu überfahren. Nicht anhalten – es könnte ein Hinterhalt sein. Ich sagte, dass ich das nicht machen kann. Ich habe ein dreijähriges Kind zuhause. Lieber sterbe ich im Kampf gegen Aufständische als ein Kind zu überfahren. Ich teilte der Befehlskette mit ‚ich kann nicht.’ Sie verstanden ‚ich werde nicht’ (= Befehlsverweigerung, d.Ü.). Sie steckten mich an das Ende der Kolonne – die gefährlichste Stelle.“
Ringend mit seiner Ungläubigkeit hinsichtlich solcher Befehle – darüber, wie wenige seiner Soldatenkameraden einsahen, dass das Überfahren von Kindern, das Misshandeln von irakischen Zivilisten Hass hervorrufen und den Aufstand anheizen könnte – sagte er: „Ich fühlte buchstäblich, als wäre ich in einem anderen Universum. Ich war eine Zeit lang fast überzeugt, dass das alles gewollt war, dass da irgendein wahnsinniger Genius sein musste, der beschlossen hat, dass wir einen ewigen Krieg brauchen. Wie können wir so etwas geschehen lassen? … Ich begann gefühllos zu werden.“
Solche ehrliche Aussagen führen an die Grundstimmung von On the Bridge heran. Der Film eröffnet die persönlichen Gewissen von tief aufgewühlten, schmerzhaft deutlichen jungen Männern und Frauen. In dem Film kommen auch die Eltern und die Schwester von Jeffrey Lucey zu Wort, einem ehemaligen Marinesoldaten und Irakveteran, der sich 2004 erhängte. Die Familie sprach mit bemerkenswerter Offenheit über Jeffs Leiden, über die persönliche Hölle, zu der niemand Zutritt bekommen konnte.
Sein Vater Kevin drückte es so aus: „PTSD ist ein Krebs der Seele.“
Unter den schrecklichen Erlebnissen, mit denen Jeff kämpfte, war die Tatsache, dass er zwei irakische Soldaten auf kurze Entfernung getötet hatte. Ihm wurde befohlen zu schießen. Sie sagten „schieß endlich, verflucht noch mal.“ Er schloss seine Augen und schoss. Für den Rest seines Lebens trug er die Kennmarken der beiden Soldaten um den Hals. „Er fühlte sich persönlich verantwortlich für ihren Tod,“ sagte seine Schwester. „Er trug die Marken um seinen Hals, um sie zu ehren. Sie erinnerten ihn jeden Tag an das, was er getan hat.“
Selbsttötungen von Veteranen sind dramatisch angestiegen. Gemäß einer am Ende des Films angegebenen Zahl werden es jetzt rund 8.000 im Jahr sein. Die Veteranenvereinigung ist eine ungeeignete Bürokratie und völlig unfähig, mit einem Problem umzugehen, das sie überhaupt nicht erfassen können, weil das Problem auf den Grund der amerikanischen Seele reicht. Die Veteranen, die sich das Leben nehmen, versuchen für das zu büßen, was zu tun ihnen befohlen wurde, wozu zu werden sie gezwungen wurden, im Namen ihres Landes.
Robert Koehler: COMMONWONDERS.COM Cancer of the Spirit Thursday, March 8th, 2012