Bundestag: Parteien versuchen Einschränkung der Rechte von Abgeordneten und Parlament
Für Freitag, den 30. März, wird in aller Stille die Änderung von Artikel 93 Grundgesetz auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt. Der Gesetzentwurf selbst jedoch fehlt. Nach einem Bericht von Radio Utopie wird die Verfassungsänderung im Bundestag wieder fallen gelassen, ohne das der Gesetzentwurf bislang veröffentlicht wurde. Die Leitungen der Partei-Fraktionen im Bundestag versuchen die Kontrolle über das Rederecht von Abgeordneten zu erlangen und diesen bei abweichender Meinung von der „Führung“ der Fraktion das Rederecht zu entziehen. Gleichzeitig werden die Gesetzentwürfe zu den „Beteiligungsrechten“ des Bundestages am „Europäischen Stabilisierungsmechanismus“ ESM, sowie zum Fiskalpakt ausgearbeitet, die die verfassungsmäßige Haushaltshoheit des Bundestages gewährleisten müssen.
In diesem Artikel sollen nun einige Zusammenhänge zwischen diesen Vorgängen aufgezeigt werden. Aufgrund der Komplexität des Themas zunächst eine Zusammenfassung.
+++ Zusammenfassung +++
– der Bundestagsausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vereinbart auf seiner Sitzung am 22. März das Rederecht von Abgeordneten im Parlament unter Kontrolle der Fraktionsleitungen zu bringen. Bundestagspräsident Norbert Lammert gibt zu verstehen, daß er diese Einschränkung des Rederechts von Abgeordneten nicht akzeptieren wird.
– am gleichen Tag befasst sich auf Vorschlag von Bundestagspräsident Norbert Lammert der „Ältestenrat“ des Bundestages mit den Zustimmungsgesetzen zum Fiskalpakt und zum Vertrag über die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Ergänzungen dieser von der Regierung vorgelegten Zustimmungsgesetze müssen sicherstellen, daß das verfassungsmäßige Haushaltsrecht des Bundestages gewahrt bleiben.
– die Mehrheit der Mitglieder im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung sitzt auch im „Ältestenrat“.
– der einflussreiche „Ältestenrat“ ist für die „inneren Angelegenheiten“ des Bundestages zuständig. Darunter fallen u.a. die Tagesordnung und die Internet-Präsenz.
– am Donnerstag (29. März) steht auf der Tagesordnung des Parlaments für Freitag ein „Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Art. 93“ ist. Der Gesetzentwurf selbst fehlt. Als dies durch einen Bericht von Radio Utopie bekannt wird, setzt der Bundestag den Tagesordnungspunkt wieder ab.
– Artikel 93 Grundgesetz definiert u.a., daß das Bundesverfassungsgericht auch über die Auslegung des Grundgesetzes „aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter“ entscheidet, „die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind“.
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Am Freitag berichtet die „Süddeutsche“ über ein dreistes Unterfangen der Fraktionsleitungen aller Parteien im Bundestag. Den vom Volk gewählten Abgeordneten des Parlaments der Republik, so die Vereinbarung, solle das Rederecht entzogen und die Parlamentarier den Anweisungen der „Führer“ ihrer jeweiligen Fraktionen von SPD, CDU, CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke unterworfen werden. Abgeordnete, so die gemeinsame Vereinbarung, sollten nur „im Benehmen mit der jeweiligen Fraktion“ vor dem Parlament sprechen dürfen. Und wenn sie sprechen dürften, dann „in der Regel“ nur drei Minuten und auch das nur ausnahmsweise – ansonsten sollten sie dem Vorhaben zufolge ihre Reden „zu Protokoll“, also ungehalten in Schriftform abgeben.
Vereinbart wurde dieses Vorhaben am 22. März auf einer Sitzung vom Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. Die Geschäftsordnung des Bundestages solle entsprechend geändert werden. Wie es in der Tagesordnung des Ausschusses heisst, geschah dies nach einer „Prüfbitte“ des „Ältestenrats„. „Berichterstatter“ im Zuge dieser Vereinbarung aller „Fraktionsführungen“ waren die Abgeordneten Christian Lange (Fraktion „SPD“), Bernhard Kaster (Fraktion „CDU/CSU“), Jörg van Essen (Fraktion „FDP“), Volker Beck (Fraktion „Bündnis 90/Die Grünen“) und Dr. Dagmar Enkelmann (Fraktion „Die Linke“), alle Mitglieder des Ausschusses.
Laut der „Süddeutschen“ macht Parlamentspräsident Norbert Lammert daraufhin dem Ausschuss und seinen hochrangigen Parteifunktionären klar, daß er die geplanten Einschränkungen des Rederechts von Abgeordneten im Parlament nicht hinnehmen will.
Just an diesem 22. März befasst sich auf Vorschlag von Lammert der „Ältestenrat“ des Bundestages mit Ergänzungen der Regierungsgesetzentwürfe hinsichtlich des von der Regierung unterzeichneten Fiskalpakts, sowie der Installation und Finanzierung des „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ ESM durch den deutschen Staat. Diese Ergänzungsgesetze müssen die verfassungsmäßige Verfügungsgewalt des Parlaments über die deutschen Staatsfinanzen gewährleisten.
Die nun am 22. März im Geschäftsordnungs-Ausschuss von allen Fraktionsvertretern (darunter parlamentarische Geschäftsführer jeder Partei im Bundestag) beschlossene Unterwerfung des Rederechts von Parlamentsabgeordneten unter das „Benehmen mit der jeweiligen Fraktion“, folgte den Parlamentsdebatten um die Finanzierung der luxemburgischen Aktiengesellschaft „European Financial Stability Facility“ EFSF („Europäische Finanzstabilisierungsfazilität“) durch den deutschen Staat.
Kurz vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags hatte die vom neu gewählten Parlament Griechenlands ins Amt gewählte Regierung der “Pasok” unter Giorgos Papandreou die Prognose über das griechische Staatsdefizit im laufenden Jahre 2009 von 3, 7 Prozent (März 2009) auf 12,5 Prozent (Oktober 2009) des Bruttoinlandsproduktes (BIP) angehoben. Ausführender Akteur dieser Maßnahme (die mitlerweile Gegenstand einer parlamentarischen Untersuchung in Athen ist): die “Hellenic Statistical Authority” ELSTAT, die griechische Statistikbehörde. Kurz darauf explodierten an den Geldmärkten die Zinsen für griechische Staatsanleihen. Und sie explodierten abermals, trotz aller bereits zuvor erfolgten „Sparmaßnahmen“ und „Hilfen“ zur Zahlung von Zinsforderungen an Banken und Finanzgläubiger, als die griechische Statistikbehörde ELSTAT, in enger Zusammenarbeit mit der EU-Statistikbehörde EUROSTAT und ihrem deutschen Leiter Walter Radermacher, im November 2010 das Staatsdefizit Griechenlands in 2009 noch einmal rückwirkend auf 15,4 Prozent hochrechnete. (DIE GRIECHENLAND-KRISE (VII): Am Anfang war die Statistik)
Seit dem Frühjahr 2010 nun legte im Zuge dieser so urplötzlich ausgebrochenen Staatskrise Griechenlands die Regierung Deutschlands dem Parlament einen wahren Gänsemarsch von Finanzermächtigungen vor, für immer neue, immer größere staatliche Garantien und Zahlungen Deutschlands an das Euro-Finanzsystem und Finanzgläubiger weltweit (die direkte oder indirekte Ausbezahlung von Banken und Finanzkonzernen mit Steuergeldern ist der einzige Sinn und Zweck von ESM und EFSF).
In all dieser Zeit behielten Kanzlerin Merkel und der seit Ende 2009 amtierende Finanzminister Schäuble nicht ein einziges Mal Recht, mit nichts. Manchmal wechselten sie täglich ihre Darstellungsversuche. Trotzdem bekamen sie Ermächtigungen über mehr und mehr Milliarden, bis es Hunderte von Milliarden wurden. Nie sagte das Parlament nein, bei nichts.
Parlamentspräsident Norbert Lammert hatte dazu in den Parlamentsdebatten der letzten Monate auch Abgeordnete im Parlament sprechen lassen, die sich über die Jahre zu den Vorgängen eine eigene Meinung gebildet hatten. Das wiederum brachte die „Führer“ der Partei-Fraktionen im Bundestag schier zur Verzweiflung. Der seit 2005 amtierende Fraktionsvorsitzende der gemeinsamen Fraktion von CDU und CSU im Bundestag, Volker Kauder, äußerte dazu bezeichnenderweise:
„Wenn alle reden, die eine von der Fraktion abweichende Meinung haben, bricht das System zusammen.“
Welches System meint Kauder hier?
Von „Fraktionen“ im Bundestag ist im gesamten Grundgesetz nur ein einziges Mal die Rede, bei der Bildung eines gemeinsamen Ausschusses von Bundestag und Bundesrat. Der ebenso oft wie selbstverständlich zitierte „Fraktionszwang“ existiert schon gar nicht – jedenfalls nicht in unserer Verfassung.
Artikel 38 Grundgesetz dagegen regelt die Rechte von Abgeordneten der Republik eindeutig und unmissverständlich:
„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“
Eine klare Anweisung an den Gesetzgeber, das Parlament. Doch was ist mit der Geschäftsordnung des Bundestages?
Dieses Recht des Parlaments, sich insgesamt eine „innere Ordnung“ zu geben, begründet sich in Artikel 40 Absatz 1 unserer Verfassung:
„Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer. Er gibt sich eine Geschäftsordnung.“
Das Parlament insgesamt gibt sich also, durch einfachen Mehrheitsbeschluss, eine Geschäftsordnung. Diese Geschäftsordnung eines aus freien und an keine Anweisungen gebundenen Abgeordneten zusammengesetzten Parlaments kann logischerweise nicht über den verfassungsmäßigen Rechten eben dieser einzelnen Abgeordneten stehen.
Was ist nun mit dem „Ältestenrat“?
Auch der „Ältestenrat“ wird im Grundgesetz nicht erwähnt. Der Bundestag hat dieses Gremium selbst erfunden und zwar auf Grundlage seiner eigenen Geschäftsordnung. Diese verleiht dem „Ältestenrat“ zwar formell keine (gesetzgeberische) Beschlusskraft, aber operativ außerordentlich weitreichende Kompetenzen.
§ 6 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages:
„(1) Der Ältestenrat besteht aus dem Präsidenten, seinen Stellvertretern und dreiundzwanzig weiteren von den Fraktionen gemäß §12 zu benennenden Mitgliedern. Die Einberufung obliegt dem Präsidenten. Er muß ihn einberufen, wenn eine Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages es verlangen.
(2) Der Ältestenrat unterstützt den Präsidenten bei der Führung der Geschäfte. Er führt eine Verständigung zwischen den Fraktionen über die Besetzung der Stellen der Ausschußvorsitzenden und ihrer Stellvertreter sowie über den Arbeitsplan des Bundestages herbei. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben ist der Ältestenrat kein Beschlußorgan.
(3) Der Ältestenrat beschließt über die inneren Angelegenheiten des Bundestages, soweit sie nicht dem Präsidenten oder dem Präsidium vorbehalten sind. Er verfügt über die Verwendung der dem Bundestag vorbehaltenen Räume. Er stellt den Voranschlag für den Haushaltseinzelplan des Bundestages auf, von dem der Haushaltsausschuß nur im Benehmen mit dem Ältestenrat abweichen kann.
(4) Für die Angelegenheiten der Bibliothek, des Archivs und anderer Dokumentationen setzt der Ältestenrat einen ständigen Unterausschuss ein, dem auch Mitglieder des Bundestages, die nicht Mitglied des Ältestenrates sind, angehören können.“
Zu den „inneren Angelegenheiten“ unter Verantwortung des Ältestenrates gehört u.a. die Tagesordnung.
Wir erinnern uns: am Donnerstag berichtete Radio Utopie über ein „Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 93)“, was in aller Stille auf der Tagesordnung des Bundestages vom Freitag (30. März) aufgetaucht war. Obwohl es sich um eine angesetzte Verfassungsänderung handelte, war der Gesetzentwurf, wenig mehr als 24 Stunden vor dem angesetzten Parlamentsbeschluss, nicht aufgeführt.
Um 08.37 Uhr erschien unser Artikel. Bereits am Mittag setzte der Bundestag die versuchte Verfassungsänderung wieder ab. (29. März, Antrag auf Verfassungsänderung im Bundestag)
Die Hintergründe blieben im Nebel. Obwohl am nächsten Tag sogar die (im Gegensatz zur Piratenpartei Österreich) in Verfassungsfragen so seltsam inaktive und euro-finanzphile Piratenpartei Deutschland eine Presseerklärung heraus gab und die Veröffentlichung des Gesetzentwurfs forderte, schweigen die Beteiligten in den Fraktionen des Bundestages zu der Affäre, geben widersprüchliche Erklärungsversuche ab oder versuchen die Angelegenheit klein zu reden.
Explizit Volker Beck, parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion „Bündnis 90/Die Grünen“, erklärte am Donnerstag Mittag, als der Bundestag den Gesetzentwurf wieder von der Tagesordnung absetzte, via Facebook und Twitter folgendes: der abgesetzte Antrag habe eine Ergänzung von Artikel 93 Grundgesetz mit einem Absatz 4c gehabt, der “Beschwerden von Vereinigungen gegen ihre Nichtanerkennung für die Wahl zum Bundestag” vor dem Bundesverfassungsgericht möglich machen solle. Diese Darstellung wiederholte Beck auch auf seinem Twitter-Account.
Einen Grund für das ominöse Prozedere der versuchten Verfassungsänderung durch fast alle Fraktionen des Bundestages nannte Beck nicht. Ebenso wenig dafür, wie die plötzliche Absetzung des Antrags nach dessen Bekanntwerden zu erklären war, wer diesen Punkt überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt und wer ihn dort nach unserer Veröffentlichung wieder abgesetzt hatte.
Wer aber sitzt in dem für „Angelegenheiten der Bibliothek, des Archivs und anderer Dokumentationen“ zuständigen „Ältestenrat“ vom Bundestag? Neben anderen virtuellen Stammesältesten just auch der 51-jährige Grüne Volker Beck. Wo sitzt Volker Beck noch? Er sitzt in eben jenem Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, der jetzt versucht den Bundestagsabgeordneten das Rederecht zu entziehen. Und Beck ist beileibe nicht der einzige Doppelsitzer in beiden einflussreichen Gremien.
Von den 13 Mitgliedern im Geschäftsordnungs-Ausschuss sitzt die Mehrheit, sieben Mitglieder, auch im „Ältestenrat“, der laut Geschäftsordnung eine „Verständigung zwischen den Fraktionen über die Besetzung“ der Schlüsselpositionen in allen Ausschüssen des Parlaments herstellt. Neben Volker Beck sind das
– der Ausschussvorsitzende Thomas Strobl, CDU,
– Bernhard Kaster, CDU, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag
– Christian Lange, SPD, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Bundestag
– Jörg van Essen, FDP, ebenfalls Mitglied im einflussreichen Koalitionsausschuss von CDU, CSU und FDP, sowie Mitglied im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat
– Dagmar Enkelmann, parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion
– Alexander Ulrich, ebenfalls parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion. Dazu Obmann der Linksfraktion im Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union, Obmann der Linksfraktion im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, sowie Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.
Als ich nun am Donnerstag den Artikel zur versuchten Verfassungsänderung von Artikel 93 schrieb, der im Laufe des Tages zur Absetzung dieses Antrags von der Tagesordnung des Parlaments führte, verwies ich am Anfang des Artikels darauf, daß es um „das Klagerecht der Deutschen vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe“ ging. Das war nicht präzise genug. Hier noch einmal Artikel 93 Grundgesetz Absatz 1:
1) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet:
1. über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind;“
(…)
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