Dokumentation: Die Rede von Sabine Leidig, Abgeordnete im Deutschen Bundestag, Mitglied im Ausschuss Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und verkehrspolitische Sprecherin von „Die Linke“ im Bundestag, auf der 119. Stuttgarter Montagsdemonstration gegen das urbane und regionale Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21).
Liebe Freundinnnen und Freunde, es ist gut zu sehen, dass ihr unermüdlich oben bleibt. Und es freut mich, dass ich dabei sein kann, weil es so viele Gründe gibt für den Widerstand gegen den S21-Irrsinn. Die aktuellen Abrisspläne auf H7 sind dafür ein Paradebeispiel:
Die ehemalige Bahndirektion soll abgerissen werden – ganz und gar, oder wenigstens zum großen Teil. Aber dieses Gebäude hat 30.000 qm Nutzfläche und ist vor 5 Jahren erst für 5 Millionen Euro umgebaut und saniert worden und ich finde, dass es ein richtiges Schmuckstück ist! Dass es jetzt zerstört werden soll, zeigt wie widersinnig die Betonmentalität der S21-Betreiber ist. Was eigentlich ansteht, ist zum Beispiel die Sanierung der maroden Schulgebäude in Stuttgart. Und überhaupt ist es zeitgemäß , Ressourcen zu schonen, Bestehendes zu pflegen, zu erhalten und zu reparieren.
Ich habe mich über Ostern mit der Arbeit des Wissenschaftlichen Beirates für globale Umweltfragen beschäftigt, der 1992 im Vorfeld des Erdgipfels von Rio eingesetzt worden ist, um die Bundesregierung zu beraten. Vor einigen Monaten hat dieser eine Ausarbeitung zur großen Transformation vorgelegt, die zum Ziel hat, die Lebensgrundlagen der Menschen nachhaltig zu sichern. Die Herkulesaufgabe besteht darin, innerhalb der nächsten 10 Jahre die Weichen so umzustellen, dass ein Wirtschaftsmodell überwunden werden kann, das auf fossilen Energieträgern beruht. Sie gehen übrigens davon aus, dass den mächtigen und kapitalkräftigen Interessen mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung entgegengesetzt werden muss.
Und da bin ich bei der zweiten Baustelle, die jetzt auf der Tagesordnung steht: Die Flughafenanbindung. Auch da ist der S21-Planung wider jede Vernunft!
Da soll ein riesen Aufwand betrieben werden, damit mehr Leute schneller zum Flughafen kommen –am besten mit dem ICE. Wer aber nachhaltige Mobilität will und zugleich mehr Lebensqualität, der muss den Flugverkehr reduzieren! Kein anderes Verkehrsmittel ist so schädlich für Umwelt und Klima. Die Bahn soll aber kein Zubringer zum Flieger sein, sondern eine echte Alternative!
Wir haben mit einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung belegt, dass zum Beispiel vom Flughafen Frankfurt – wo ja vor allem internationaler Flüge abgewickelt werden – schon heute ein Viertel aller Flugreisen durch Bahnfahrten von maximal 6 Stunden ersetzt werden könnten. Da wäre deutlich weniger Lärm zu verkraften und viel CO2 gespart. Wenn die Schienenwege endlich auf Vordermann gebracht würden, so wie es im Bedarfsplan Schiene vorgesehen ist, dann wären die Fahrzeiten übrigens maximal 4 Stunden! Für Stuttgart werden wir die Daten auch noch erfragen – ich bin ziemlich sicher, dass hier nahezu die Hälfte aller Flüge auf Züge verlagert werden könnten. Aber dazu braucht es mehr und bessere Bahnverbindungen! Mehr Kapazität in und um Stuttgart und keinesfalls ein Nadelöhr im Untergrund!
Es gibt also gute Gründe, gemeinsam mit der Schutzgemeinschaft Fildern und mit der Initiative lebenswertes LE gegen den Aufstand auf den Fildern zu organisieren – im Sinne des Allgemeinwohls auf diesem Globus!
Falsche Weichenstellung gilt übrigens auch für die Neubaustrecke Ulm-Wendlingen. Denn die würde in den nächsten Jahre so viele Investitionsmittel verschlingen, dass an den Stellen im deutschen Schienennetz, die heute schon überlastet sind, das Geld für den Ausbau fehlt. Deshalb muss die Bundesregierung dieses Projekt stoppen und dafür sorgen, dass die Engpässe im zuerst beseitigt werden – und zwar zügig!
Nun möchte ich noch das Thema Demokratie ansprechen, das die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 auf – ganz in Übereinstimmung mit dem Wissenschaftlichen Beirat für globale Umweltfragen – auf die Tagesordnung gesetzt hat: Es steht die Frage, wie Bürgerinnen und Bürger bei der handfesten Weichenstellung für die Zukunft nicht nur mitreden können, sondern auch entscheiden.
Unter der Überschrift „Für einen neuen Infrastrukturkonsens“ hat es dazu vor zwei Wochen eine Debatte im Bundestag gegeben, die ziemlich aufschlussreich war. Vor allem bei den Koalitionsrednern ist deutlich geworden, dass es da ein tiefes Missverständnis gibt: Sie wollen die Akzeptanz für ihre Projekte und Beschlüsse mit besserer Bürgerbeteiligung erhöhen, sie wollen die Bürgerinnen und Bürger „mitnehmen“. Aber das Ziel der Reise haben sie schon vorab bestimmt. Und der Minister Ramsauer hat ein „Handbuch für Bürgerbeteiligung“ veröffentlicht, von dem Christian Bommarius gestern in der Frankfurter Rundschau schreibt. Ich zitiere nur eine Passage:
„Dessen Ziel ist keineswegs mehr Bürgerbeteiligung, sondern „schneller Bauen“ je nach Gusto und Bedarf mal mit, mal ohne frühzeitige Beteiligung der Bürger. Das Handbuch ist eine unverbindliche Handreichung für verunsicherte Bürokratien, die nicht wissen, ob sie den Bürgern das Placebo zu Beginn oder erst am Ende der Planung eine Großprojekts verabreichen sollen. Ramsauer sagt: Egal, Hauptsache Placebo.“
Das ist aber das Gegenteil von dem, was wir Wollen. Und dieses Handbuch gehört gleich mit seinem Erscheinen auf den Müllhaufen der Geschichte. Es geht nämlich darum, dass die Bürgerinnen und Bürger über die Weichenstellungen entscheiden können. Nicht nur über den Verlauf der Autobahn, die Flugrouten zur neuen Landebahn, oder die Landesbeteiligung am versenkten Bahnhof soll zur Debatte stehen. Entscheidend ist, dass auch etwas ganz anderes möglich sein muss. Also lieber gar keinen Ausbau von Autobahn oder Flughafen. Und es müssen von Anfang an echte Alternativen zur Debatte stehen.
Heute findet die Bürgerbeteiligung erst statt, wenn die Entscheidung längst gefallen ist, wenn bereits mehrere zehn- oder hunderttausende Euro an Planungskosten ausgegeben sind und „die Politik“ sich bereits festgelegt hat. Die Einwände und Änderungswünsche werden dann als Störung empfunden und es geht vor allem darum, Konflikte zu befrieden, damit die Sache umgesetzt werden kann. Die Schlichtung in Stuttgart war insofern eine Farce, weil die Alternative, den Kopfbahnhof zu ertüchtigen und den Immobiliendeal rückgängig zu machen, gar nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde.
Aus meiner Sicht gibt es ein paar wesentliche Bedingungen für den Fortschritt der Demokratie an dieser Stelle. Dazu gehört, dass es so etwas wie Chancengleichheit gibt. Die Möglichkeiten der Beteiligten und ihrer Verbände müssen denen der Projektbetreiber ebenbürtig sein. Die Einrichtung von Bürgeranwälten zum Beispiel, würde dabei helfen. Heute ist es so, dass einerseits jederzeit Planänderungen nachgereiht werden können, aber die Einwände von Bürgerinnen und Bürgern nicht. Die Projektträger können alle Einwände auf Rechtmäßigkeit prüfen lassen, aber umgekehrt ist das nicht möglich. Auch hier ist Stuttgart 21 ein Paradebeispiel:
Der so genannte Stresstest am Ende der sogenannten Faktenschlichtung war zum Knackpunkt geworden: schafft es der milliardenteure Tunnelbahnhof, zumindest 30 Prozent mehr Züge abzuwickeln, als der bestehende Kopfbahnhof. Das hat die Deutsche Bahn AG so behauptet und mit einem langwierigen Simulationsverfahren nachgewiesen – alle Zweifel daran wurden weggewischt. Inzwischen wissen wir, dass der Stresstest manipuliert war (es wurde sogar ein Programmierfehler identifiziert), wir wissen, dass das Ergebnis – 49 Züge in der Spitzenstunde – falsch ist. Es ist sogar dokumentiert, dass die Bahn selber im Jahr 2002 einen Kapazitätsnachweis an das Eisenbahnbundesamt geliefert hat, in dem steht, was auch die Gegner des Projektes vorgetragen haben: der neue Bahnhof schafft nicht mehr Kapazität als der alte – im Gegenteil: maximal 32 Züge in der Spitzenstunde. Aber was geschieht jetzt? Wer macht die Verantwortlichen haftbar? Wie wird dieser gravierende Fehler geahndet? Gar nicht. Das muss sich ändern!
Diejenigen, die die Öffentlichkeit täuschen, müssen mit Konsequenzen rechnen, damit das Ungleichgewicht der Kräfte nicht alle Bürgerbewegung erschlägt. Ja, die herrschende Politik hat Angst vor dem Souverän, Angst, dass die Bürgerschaft es ernst meint mit ihrem Ruf nach mehr Partizipation und Transparenz. Denn das wäre das Ende für all jene, die Infrastrukturpolitik als Dienstleistung für die Wirtschaft verstehen.
Und deshalb ist es wichtig, weiter zu machen, weiter: oben bleiben!
Aufzeichnung der Rede von cams21, Kameramann tilman36
ab 4.30 min