Vor ein paar Jahren erklärte mir Pulitzerpreisträger Sydney Schanberg, einer von Amerikas meistgefeierten Journalisten im Vietnamkrieg und ehemaliger leitender Redakteur der New York Times, die traurige Realität unserer bedeutenderen Zeitungen.
Wie er sagte, bestand generell eine streng disproportionale Beziehung zwischen der geografischen Entfernung vom Sitz der Zeitung und der Bereitschaft seitens deren Führungskräften, rechtswidriges Handeln und Korruption zu untersuchen. Während also die New York Times immer sehr darauf aus war, ihre pflichteifrigen Reporter die Tiefen von vermuteten Skandalen in Chicago, oder besser noch in Kabul, Moskau oder Peking ausloten zu lassen, wurden ähnliche Recherchen über Fehlverhalten eine oder zwei Meilen entfernt im Rathaus oder in Albany (Hauptstadt des Staates New York) im Norden üblicherweise viel weniger ermutigt.
Obwohl Schanbergs Beschreibung sehr allgemein und unpersönlich war, erfuhr ich aus verschiedenen anderen Quellen, dass sein Widerwillen, seinen journalistischen Eifer einzuschränken und sich anstatt auf den Splitter im Auge der Fremden auf den Balken in den Augen unserer eigenen Leute zu konzentrieren, der hauptsächliche Grund war für seinen letztendlichen Abschied von der Gray Lady (Grauen Dame = New York Times).
Als teilweise Bestätigung dieses traurigen, oft übersehenen Aspekts des amerikanischen Journalismus sollten wir uns den bedauerlichen aber verblüffenden Fall Bernard Keriks vor Augen halten, eines Schulabbrechers der High School, von dem letztendlich enthüllt wurde, dass er eine ansehnliche Vergangenheit von Verbindungen mit dem organisierte Verbrechen hat und der zur Zeit eine Haftstrafe in einem Bundesgefängnis wegen Korruption absitzt. Merkwürdig genug, keine dieser Geschichten kam ans Licht in der Zeit, in der er als Bürgermeister Rudolph Giulianis handverlesener New Yorker Polizeichef diente, eine Zeit, in die auch die Attacken des 9/11 fielen, auch nicht später, als er unter der amerikanischen Okkupationsregierung zum Innenminister des Irak bestellt wurde, und auch nicht später, als er von Präsident Bush nominiert wurde, um als Amerikas erster nationaler Geheimdienstdirektor zu dienen, ein nach 9/11 geschaffener Posten, der alle unsere zahlreichen inländischen Geheimdienste koordinieren und überwachen sollte. Vermutlich werden andere Länder das als eine ziemlich eigenartige Angelegenheit betrachten und sich wundern, wie jemand mit offenkundigen Mafiaverbindungen – bis er aufgrund eines geringfügigen Kindermädchen- und Sexskandals aufflog – in nächste Nähe der Aufsicht über alle inländischen Sicherheitsaktivitäten der weltgrößten Supermacht gelangte, aber unsere eigenen Medien schienen eher uninteressiert an diesem seltsamen Rätsel zu sein und begruben diese Geschichte schnell.
Angesichts dieser journalistischen Landschaft überrascht es kaum, dass jetzt The Daily Mirror, eine britische Boulevardzeitung mit einer Auflage von 1,1 Millionen, die Diskussion des Vioxx-Skandals aufgreift, welcher das Leben von zehntausenden, wahrscheinlich hunderttausenden Amerikanern kostete, und diese mit dem berüchtigten Thalidomide-Skandal der 1950er und 1960er Jahre in Zusammenhang bringt, der seinerzeit massive internationale Aufmerksamkeit hervorgerufen hat. Damals wurde in den amerikanischen Medien und Elitekreisen sehr triumphiert über den Erfolg unserer eigenen sicherheitsbewussten FDA (Lebensmittel- und Medikamentenüberwachungsbehörde), die uns – im Gegensatz zu den inkompetenten Regierungsbehörden der Europäer – vor den schrecklichen medizinischen Folgen geschützt hat, darunter hunderte von schwer deformierten britischen Geburten.
Nachdem jedoch die Todesquote von Vioxx in Amerika vielleicht drei Größenordnungen größer war, scheint das Interesse der amerikanischen Medien dieses Mal um mindestens drei Größenordnungen kleiner zu sein. Es überrascht nicht gänzlich, dass nur die Zeitschrift in britischem Besitz The Week einen Kommentar des britischen Journalisten Alexander Cockburn brachte mit dem provokanten Titel „Als eine halbe Million Amerikaner starben und das niemand bemerkte.“ Während jetzt also vielleicht Millionen britischer Leser zumindest irgendwie eine Ahnung vom massiven Ausmaß der amerikanischen Todesquote infolge von Vioxx bekommen haben, ist die entsprechende Zahl in Amerika wahrscheinlich nicht der Rede wert, etwa so groß wie die derjenigen, denen der Namen „Bernard Kerik“ etwas sagt.
In einer anderen Angelegenheit betreffend britischen Journalismus veröffentlichte ich vor kurzem eine sehr scharfe Kritik von The Economist Newsweekly, das ich selbst seit 1979 abonniert habe, welches aber im Lauf des letzten Jahrzehnts immer weiter zu neokonservativem Nonsens abgestiegen zu sein scheint. Nachdem ich diese Publikation seit langem bewundere, bin ich daher sehr froh, berichten zu können, dass deren lange Titelgeschichte über China und die chinesische Wirtschaft – genau das Thema, das davor meine Kritik erregt hatte – absolut hervorragend zu sein scheint, die Art von überlegtem, objektivem Journalismus, auf den der kürlich verstorbene legendäre Norman Macrae sicher stolz wäre.
Eines der Markenzeichen von The Economist war immer dessen offene Freimütigkeit und ich war erfreut zu sehen, dass sich diese bis heute gehalten hat, wobei die Untersuchung den Vergleich zwischen dem wirtschaftlichen Wachstum Chinas mit dem der Sowjetunion, eine Analogie, die die Chinaskeptiker gerne ziehen, als einfach „sinnlos“ hinstellt. Obwohl die Abhandlung von Simon Cox notwendigerweise viel länger und detaillierter war als meine eigene, gab es keinen einzigen signifikanten Punkt, dem ich größeres Gewicht verleihen würde, und ich empfehle sie sehr all denjenigen, die sich für Chinas wahrscheinliche zukünftige Entwicklung interessieren.
Was die chinesisch/amerikanischen Fragestellungen betrifft, auf die ich in meiner kürzlichen Abhandlung eingegangen bin, meinte vor kurzem ein privater Kommentator mir gegenüber, dass ein entscheidender Unterschied zwischen dem Verhalten der herrschenden Eliten Chinas und denen in unserem Land in der Geschichte liegt. Die chinesische Revolution ist noch nicht völlig vergessen, schon gar nicht von den Mitgliedern des heutigen Politbüros, nachdem viele von deren Vätern und Großvätern diese angeführt haben. Vermutlich fürchten sie daher, dass falls ihr Missverhalten ein zu unerhörtes Ausmaß annimmt, die Massen bockig werden und ihre Köpfe eines Tages auf Stangen aufgespießt herumgetragen werden. Amerikas Revolution liegt Jahrhunderte zurück und war auch lange nicht so blutrünstig, so dass unsere Eliten viel weniger Angst haben und daher dreister sind in ihrem zunehmend rechtswidrigen Verhalten.
Grob gesagt sind Chinas Führer damit zufrieden, vielleicht 5% des nationalen Einkommens jährlich für sich und ihre Freunde und Verwandten zu stehlen, während sie 95% für das Land übrig lassen. Auf diese Weise werden sie sehr reich, bleiben aber auch leidlich sicher, da die rasch steigende allgemeine Prosperität jede größere Unzufriedenheit abfedert. Amerikas viel dreistere herrschende Gauner haben jedoch begonnen, regelmäßig 50% von allem zu stehlen und zudem in steigendem Ausmaß ein begehrliches Auge auf die verbleibenden 50% zu werfen, während sie sich die ganze Zeit darauf verlassen, dass die hypnotische Effektivität ihrer kontrollierten landesweiten Medien jeglichen Volksaufstand verhindert und ihre weitere gute Gesundheit sicherstellt. Mit Bedauern nehme ich an, dass die Chancen exzellent stehen, dass sie weitgehend recht haben mit dieser arroganten und unbekümmerten Einschätzung, aber ich möchte auf keinen Fall in ihren Schuhen stecken, wenn sich herausstellt, dass sie nicht recht haben.
Orginalartikel 29. Mai 2012: Thalidomide II and the Silence of the American Media
Quelle: http://antikrieg.com/aktuell/2012_06_01_thalidomide.htm