Was darf KUNST – NICHT?
Das Stück „Nacktes Leben“ des 2011 mit dem begehrten Leonhard-Frank-Preis für Dramatiker und dem Mainfranken-Theater bedachten Berliner Dramatikers paul m. waschkau wurde kurz vor dessen Premiere am 16.06. diesen Jahres aus Gründen der „Unzumutbarkeit für ein Würzburger Stadttheaterpublikum“ abgesetzt. Dies stellt eine unerhörte Bevormundung durch die Intendanz dar und ist doch bezeichnend für eine persistente Verbrämung der Rhizome der uns umgebenden, immanenten Systemrealität und deren komplexem Angriffswirken auf allen Ebenen gegen Bestrebungen der Aufklärung.
In einem Statut der Leonhard-Frank-Gesellschaft indes wird zu recht moniert:
¸Zweifellos geht der Text von Herrn Waschkau an die Grenze des Erträglichen. Das aber liegt in der Natur seines Themas, denn er spricht über jenen Teil unserer Realität, der tatsächlich absolut unerträglich ist: über Folter und Massenmord. Das sind Worte, die uns leicht über die Lippen gehen, deren konkreten Inhalt wir aber nur schwer erfassen können und – ja, auch das! – zumeist nicht erfassen wollen. Ist denn wirklich ein Theaterstück eine „Zumutung“ oder ist das nicht viel mehr unsere Wirklichkeit?“
Und:
„Ich muss deshalb auch die Befürchtung äußern, dass die Entscheidung des Intendanten einen Imageschaden für den Leonhard-Frank-Preis bewirkt. Dies wäre umso bedauerlicher, als dieser Preis gerade dabei ist, ein gewisses Renommee zu erlangen. Ein Theaterpreis jedoch, bei dem die Gewinnerstücke niemals aufgeführt werden, wird Skeptiker mobilisieren.“
Im vorliegenden Interview mit der Literaturwissenschaftlerin Elena R. Graves verglich paul m.waschkau in einer réplique denn auch diesen Vorgang folgendermaßen:
„Man war – wie ich selbst auch – nicht wenig entsetzt. Zog die unmittelbare Verbindung zu Artauds Hörspiel „Pour en finir avec le judgement de dieu“ (Schluss mit dem Gottesgericht), das im Februar 1948 vom damaligen Intendanten einer französischen Sendeanstalt° ebenfalls kurzfristig abgesetzt wurde und zwar ACHTUNG! – „Zum Schutze des französischen Publikums“.“
Einer durchschaubaren Apologetik seitens der Augurien begegnet paul m. waschkau indes damit, als er die Textur des Stückes nunmehr öffentlich zugänglich macht. Nein, nicht ccl, sondern Vorwärtsverteidigung zugunsten der Kenntlichmachung der unbequemen Wahrheit. Paul m.waschkau dazu im Interview:
Birgt dies nicht – gerade jetzt – gewisse Risiken in sich?
„Ja, natürlich, aber welche Veröffentlichung täte das in solch speziellem Falle nicht? Allerdings liegt das Risiko einer wie auch immer gearteten ästhetischen, moralischen oder politischen Diskussion nun allein bei mir und der Textur. Die Inszenierung – als quasi weggesperrte – wird der Öffentlichkeit vorenthalten. Jetzt hat man/frau zumindest die Möglichkeit intensiver zu prüfen und diesen Vorgang zu bewerten; auch zu verwerfen oder sich über den Vorgang der Absetzung kenntnisreicher zu empören.“
Mehr als nur „bedauerlich“, nämlich ganz genau empörend ist dieses hauptsächlich deshalb, weil das Gewürz einer Inszenierung, das Engagement der Beteiligten des Theaterbetriebes auf diese unfreiheitliche Art und Weise am Publikum vorbei ins Leere gelenkt werden soll. Ins „Nichts“, welches jedoch im Sein überhaupt nicht vorkommt. So steht denn nunmehr entlarvend das Skelett der Textur, welche das theatrale Fleisch zu animieren in diese Welt gesetzt wurde, bar desselben da. Aber es wird die Gehirne erreichen. Auch ganz ohne das Mainfranken-Theater. Denn das ganz große Theater, das sind wir. Alle! Wir sind nämlich noch gar nicht tot.
Und deshalb lauschen wir mal bei Herrn Dr. Lenssen zur „Unabhängigkeit der Kunst und Kultur von der Wirtschaft“ hinein:
„Und gerade dieses Engagement in diesem Jahr hat gezeigt, daß dann der Staat seinerseits – auch Banken – bereit ist, besser: bereit sind, dieses Engagement auch zu unterstützen durch Zuschüsse, so daß am Schluss nicht mehr Kosten auf die einzelnen Beteiligten zukommen als in ihrer ganz normalen Arbeit.“
Man ist geradezu geneigt, dem Mainfranken-Theater und dem Würzburger Stadttheaterpublikum noch viel Spaß bei seiner „gewissen Modernisierung“ und „zumutbaren Sanierung“ zu wünschen…
Quellen:
http://www.invasor.org/pmw/dramen/MAT_NacktesLeben.htm
Muhtar Al-Ghusein – Kulturreferent der Stadt Würzburg. 6. Würzburger Wirtschaftssymposium
Dr. Jürgen Lenssen, Domkapitular Bistum Würzburg
6. Würzburger Wirtschaftssymposium
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