Zwei Gesichter

ZWEI FRÜHERE Ministerpräsidenten Israels sind in diesen Tagen in den Medien. Sie symbolisieren zwei der vielen Gesichter Israels.

Es stellt sich auch eine universelle Frage: Wer ist vorzuziehen – ein ehrenhafter Fanatiker oder ein korrupter Pragmatiker ?

YITZHAK SHAMIR starb vor zwei Wochen und wurde auf dem Friedhof der „Großen der Nation“ in Jerusalem beerdigt. Er wurde 97 Jahre alt und hat jahrelang in einem Zustand von Demenz dahinvegetiert. Die meisten Israelis wussten gar nicht, dass er noch lebte.

Als ich ihn in einem TV-Interview „als den erfolgreichsten Terroristen des 20. Jahrhunderts“ beschrieb, zog der Interviewer die Augenbrauen hoch. Aber es war eine genaue Beschreibung.

Shamir war kein großer Denker. Als Teenager schloss er sich der rechten zionistischen Jugendorganisation von Vladimir Jabotinsky in Polen an, und seitdem hat er sein Weltbild nicht um ein Jota verändert. In dieser Hinsicht war er absolut unbeweglich. Er wünschte einen jüdischen Staat im ganzen historischen Land. Punkt. Kein dummes Zeug über die Araber und dergleichen.

Wir beide schlossen uns zur selben Zeit dem Irgun im Untergrund an. Ich war noch zu jung, um an terroristischen Aktionen teilzunehmen. Er – acht Jahre älter – führte sie aus. In jener Zeit tötete der Irgun jede Menge arabischer Männer, Frauen und Kinder durch Angriffe auf arabischen Märkten als Rache für arabische Angriffe auf jüdische Zivilisten. Wir verwarfen die Politik der „Selbst-Beherrschung“, die von der zionistischen Führung angeordnet wurde.

Im Sommer 1940 spaltete sich der Irgun. Einer der Kommandeure, Avraham Stern, gründete
die Organisation, die den Briten als „Sternbande“ bekannt war. (Schließlich wurde sie LEHI genannt, ein Akronym für „Freiheitskämpfer Israels“)

Stern war eine logisch denkende Person. Das Ziel war, einen jüdischen Staat in ganz Palästina zu gründen. Der Feind war das britische Empire. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Deshalb mussten wir mit den Nazis kooperieren. Er sandte mehrere Abgesandte, um mit den Deutschen Kontakt aufzunehmen. Einige wurden von den Briten abgefangen, die andern wurden von den Nazis ignoriert.

Ich konnte diese grauenhafte Logik nicht akzeptieren und schloss mich nicht an, obwohl die Versuchung bestand. Shamir tat es.

Er wurde von den Briten gefangen genommen und ins Gefängnis gesteckt, (im Gegensatz zu Stern selbst, der gefangen genommen und auf der Stelle erschossen wurde). Innerhalb kurzer Zeit wurden buchstäblich alle Mitglieder der Organisation getötet oder verhaftet. Die Gruppe hörte auf zu existieren – bis Shamir und ein Kollege, Eliahu Giladi, aus dem Gefängnis ausbrachen.
Die beiden handelten zusammen und brachten die Gruppe wieder zu neuem Leben. Eines Tages hat Shamir Giladi angeklagt und erschossen.

Giladi war nicht wegen Verrats angeklagt, sondern im Gegenteil wegen übertriebenen Eifers. Er machte Pläne für revolutionäre Aktionen, wie z.B. Ben Gurion und die ganze zionistische Führung zu töten. Shamir entschied, sein abenteuerliches Wesen gefährde die Organisation und müsse deshalb entfernt werden. Später nannte er seine Tochter Gilada.

Viele Jahre später fragte ich ihn, welche historische Persönlichkeit er am meisten bewundere. Er antwortete ohne zu zögern: Lenin. Ich verstand, dass er ihn bewunderte, weil er schonungslos der Maxime folgte: „Das Ziel rechtfertigt die Mittel.“

Schamir war einer von LEHIs drei Führern. Er war verantwortlich für Operationen und Organisation; er baute sorgfältig eine bewusst kleine Gruppe von auserwählten Individuen auf, die unglaublich gewagte Aktionen durchführen konnte. Er selbst plante jede einzelne Operation bis ins kleinste Detail.(Die bekannteste Aktion war die Ermordung von Lord Moyne, dem bedeutendsten britischen Funktionär im Nahen Osten, in Kairo.)

Er wurde noch einmal verhaftet, als die Briten Tel Aviv still legten und eine Haus um Haus-Durchsuchung durchführten. Shamir hatte sich gut getarnt/verkleidet, konnte aber sein offensichtlichstes physisches Merkmal nicht verbergen. Er war sehr klein, fast ein Zwerg, mit einem großen, kräftigen Kopf. Die Soldaten wurden instruiert, jede männliche Person, die unter einer gewissen Größe war, zu verhaften.

Dieses Mal wurde er in ein Haftlager in Afrika geschickt, aus dem er rechtzeitig entkommen konnte. Er erreichte das französische Djibuti, wurde von einem französischen Kriegsschiff nach Paris gebracht und blieb dort, bis der Staat Israel entstand.

LEHI hatte nie mehr als ein paar Hundert Mitglieder. Aber es spielte eine große Rolle beim Verjagen der Briten aus diesem Land.

IN ISRAEL verschwand Shamir von der Bildfläche. Jahrelang arbeitete er für den Mossad. Es ging das Gerücht, seine Spezialität sei es, Briefbomben zu versenden. Als er wieder auftauchte, schloss er sich der Partei seines früheren Konkurrenten an, Menachem Begin. Er wurde zum Knessetsprecher ernannt.

Einmal entschied ich mich, in der Knesset eine kleine Demonstration zu inszenieren. Ich trug unter meinem Jackett ein T-Shirt mit der Aufschrift „Frieden ist besser als Großisrael“. Während der Plenarsitzung zog ich das Jackett aus. Nach einigen Minuten des Schocks kam ein Parlamentsdiener auf mich zu und bat mich höflich, zum Vorsitzenden ins Büro zu kommen. Shamir empfing mich mit einem breiten Grinsen und sagte: „Uri, wo würden wir sein, wenn jedes Mitglied so etwas tun würde? Nun, wo du deine Demonstration gemacht hast, ziehe bitte dein Jackett wieder an!“ Was ich natürlich tat.

Als Begin mit Ägypten Frieden geschlossen hatte, und sogar ich für ihn stimmte, hat sich Shamir der Stimme enthalten. Nach dem 1. Libanonkrieg, als Begin zurücktrat und sagte: „Ich kann nicht mehr“, übernahm Shamir seinen Platz.

Als Ministerpräsident war seine auffallendste Leistung, nichts zu tun, außer Siedlungen zu bauen – still und unauffällig. Unter amerikanischem Druck nahm er an der Friedenskonferenz in Madrid teil, entschlossen, keinen Millimeter zu weichen. Wie er später bemerkte, sei er bereit gewesen, Jahrzehnte lang mit den Arabern zu verhandeln.

Er dachte nicht daran, Frieden zu machen, bei dem man hätte Grenzen festlegen müssen, die den Weg zu Großisrael blockiert hätten. Seine Ideologie wurde durch seine berühmte Aussage zusammengefasst, die auf einen alten Slogan anspielte, dass „die Araber die Juden ins Meer werfen wollen“: „Die Araber sind dieselben Araber, und das Meer ist dasselbe Meer.“
Eine andere berühmte Aussage: „ Für das Vaterland darf man lügen.“

Bemerkenswert ist, dass dieser Mann, der sich (wie ich) aus Protest gegen die zionistische „Selbstbeherrschung“ der Irgun angeschlossen hatte, Selbstbeherrschung par excellence praktiziert hat, als Saddam Hussein während des Golfkrieges Raketen über Israel fallen ließ. Shamir reichte es, dass die Amerikaner den Job tun.

Seine andere große Leistung war, dass er Juden daran hinderte, die USA zu erreichen. Als die sowjetische Führung Juden erlaubte, auszuwandern, wollten fast alle direkt in die USA. Shamir überzeugte das Weiße Haus, sie sollten die Tore der USA schließen, und so mehr als eine Million russischer Juden zwingen, nach Israel zu kommen,(wo sie jetzt die Ränge der extrem Rechten anwachsen lassen.)

Für kurze Zeit war er der Mentor des jungen Benjamin Netanjahu, aber dann verachtete er ihn. Nachdem Netanjahu gegenüber den Arabern eine kleine taktische Konzession gemacht hatte, nannte er ihn „Engel der Zerstörung“. Vermutlich widerte ihn auch Netanjahus Neigung zum Luxus an. Wenn es nicht um das Lügen fürs Vaterland ging, war Shamir gerade wie ein Besenstiel und lebte in äußerster Bescheidenheit. Es gab nie die leiseste Vermutung von Korruption.

Dies führt uns direkt zu Ehud Olmert.

ES WAR einmal ein Minister für Bildung und Erziehung, Zalman Aran, der für seinen trockenen Humor bekannt war. Einmal kam ein Parteifunktionär auf ihn zu und sagte: „Ziama, du kannst mir gratulieren. Ich bin frei gesprochen worden!“

„Seltsam,“ erwiderte Aran, „ich bin noch nie freigesprochen worden!“

Olmert ist viele Male freigesprochen worden. Während seiner ganzen Karriere tanzte er von einer Freisprechung zur anderen.

Und diese Woche geschah es noch einmal. Nach einem langen Prozess, in dem er wegen fünf verschiedener Fälle von Korruption angeklagt war, wurde er von vier frei gesprochen. Eine betraf seine Gewohnheit, sich selbst bei mehreren Hilfsorganisationen einzuladen, um in den USA Vorträge zu halten und sich von allen getrennt dasselbe 1.Klasse-Ticket bezahlen zu lassen (und den Überschuss für seine Familienausflüge zu benützen.) Ein anderer Anklagepunkt war: nach dem Bericht des Staatsrechnungsrevisors hat er für seine Sammlung von teuren Füllfederhaltern nur ein Zehntel ihres wirklichen Wertes angegeben hat.)

Das Distriktgericht entschied, ihn mangels Beweisen von allen Anklagepunkten freizusprechen, außer einem: dass er als Industrieminister die Kunden seines guten Freundes begünstigt hat, der ihn verpflichtete, eine große Summe Bargeld in seinem Safe beiseite zu schaffen.

Olmert feierte jetzt seine teilweise Freisprechung als großen Sieg. Die Medien – dieselben Medien, die seine öffentliche Anklage, als alles anfing, feierten – nahmen an der Feier teil. Er wartet noch immer auf das Ergebnis einer noch größeren Gerichtsverhandlung. Die Anklage lautete diesmal: Bestechungsgelder für das Bauen eines riesigen multi-Milliarden teuren architektonischen Monsters im Zentrum von Jerusalem angenommen zu haben, als er Bürgermeister der Stadt war. Jeder erwartet, dass er – wie gewöhnlich – frei gesprochen wird.

Unter dem Aufschrei in den Medien gegen den Staatsanwalt war die Anklage, dass er, ein Staatsbeamter, einen amtierenden Ministerpräsidenten wegen grundloser Beschuldigungen gestürzt habe. Noch schlimmer, dass er das getan hatte, als Olmert gerade dabei war, mit den Palästinensern Frieden zu schließen.

Unsinn. In seinen Amtsjahren als Ministerpräsident, während denen er zwei schmutzige Kriege initiierte (2. Libanonkrieg, und die Operation „Cast Lead“ im Gazastreifen), hätte er sehr viel Zeit gehabt, um Frieden zu machen. Er produzierte tatsächlich einen Friedensplan – aber erst am Vorabend seines erwarteten politischen Rückritts. Wer benötigt mit solchen Friedensmachern noch Kriegstreiber?

Doch Olmert deutet schon an, dass er nach dem nächsten Freispruch versuchen wolle, wieder in die Politik zurückzukehren .

SHAMIR, DER tote ehrenhafte Fanatiker hat viele Verehrer. Olmert, der lebende korrupte Pragmatiker hat sehr wenige.

Netanjahu, ihr augenblicklicher Nachfolger, hat die Laster von beiden und die Tugend von keinem.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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