Dokumentation: Die Rede von Steffen Siegel, Schutzgemeinschaft Filder, auf der gestrigen 132. Stuttgarter Montagsdemonstration gegen das Industrieprojekt „Stuttgart 21“ (S21).
Ich grüße euch, liebe Feinde unsinniger Großprojekte! Wer glaubt, er kenne mit Stuttgart 21 alle Abgründe dieser Welt, kennt diese Welt nicht, zumindest nicht die auf den Fildern. Erlaubt mir einen Rückblick, bevor ich was zum Filderdialug und Trug sage.
1. Beispiel: 1967, vor 45 Jahren, plante man auf den einzigartig fruchtbaren Feldern einen Großflughafen mit drei Startbahnen. Soweit ist München heute noch nicht. Eine gigantische Widerstandswelle verhinderte dieses schändliche Ansinnen. Daraufhin sollte wenigstens die bestehende Piste verlängert werden. Um dies durchzusetzen erfand man das Argument, es sei aus Flugsicherheitsgründen unabwendbar..Der geschickte Volkstribun Lothar Späth beschwor vor überfüllten Sporthallen die Vision: Wenn durch euren Widerstand ein Flugzeug abstürzt, und hier stehen hunderte von Särgen , dann müsse er dafür die Verantwortung tragen, nicht wir. Es schmiedelte eben schon damals überall.
Schließlich, nach jahrzehntelangem Widerstand und Großdemos und teuren Gerichtsverfahren und über 80 000 Einsprüchen drückte man das Projekt dennoch durch. Später bestätigten führende Flughafenleute öffentlich, dass das Sicherheitsargument vorgeschoben war.
2. Beispiel: Anfang der 90er Jahre plante man eine Großmesse auf den Fildern. Landwirte, Gemeinden und die Bürger waren strikt dagegen. Trotz übler Tricks war es nicht durchsetzbar. Früher hätten die Landesfürsten ihre Söldner ausgeschickt, um die Aufmüpfigen mit Feuer und Schwert zur Raison zu bringen, heute machen sie sich die Hände nicht mehr schmutzig. Man ändert einfach bestehendes Gesetz und macht sich sein eigenes Landesmessegesetz, mit dem man sich selbst erlaubt, den Bauern das Land zu rauben. Wir haben Menschenketten organisiert, wir haben Widerstandshütten auf den Feldern gebaut, wir waren mit 64 Traktoren hier unten auf dem Schlossplatz, wir zogen vor Gericht. Es half alles nichts. Kaum war die Messe gebaut, forderten sie bereits eine Vergrößerung.
Vor wenigen Wochen nun bestätigt uns der Rechnungshof, dass die Messe mehr kostet als bisher behauptet, dass die meiste Zeit die Hallen leer stehen und dass die Messe ihre Zahlen schönt. Ein Beispiel: Auf der angeblich zu kleinen Killesbergmesse kamen 1996 sage und schreibe 1,65 Millionen Besucher. 2010 kamen auf die riesige, neue Fildermesse nur 1,14 Mio.Besucher. Eigentlich gehören die Macher und Blender zur Rechenschaft gezogen,.
3. Beispiel: Vor 4 Jahren plante man auf den Fildern eine zweite Startbahn und die Vorverlegung des morgendlichen Startbeginns auf 5 Uhr. Die Lärmberechnungen waren raffiniert gefälscht. Wir haben über 40 Kommunen mit einbezogen, einen Sternmarsch mit 15 000 Menschen organisiert und konnten diese Irrsinnspläne kippen. Anfang 2008 noch sagte Flughafenchef Georg Fundel wörtlich: „In 20 Jahren haben sich die Leute an die zweite Startbahn gewöhnt, und wir können über eine dritte nachdenken“.
Es schmiedelt und fundelt eben schon immer und überall.
Immer beschwor man, wie bei Stuttgart 21, dass wir andernfalls den Anschluss an die Welt verlören, man setzte üble Tricks ein, um die Aufmüpfigen zu bändigen, man legte Gutachten vor, die sich erst bei genauem Studium als falsch erwiesen. Weltweit einzigartig, so schwärmten sie, sei es, dass man den Flughafen und die Messe und den Autobahnanschluss und den Fernbahnhof am selben Ort vereinigt habe. Wir warten jetzt nur noch drauf, dass sie auf die Idee kommen, die Filder schiffbar zu machen, als zentraler Hafen zwischen Paris und Bratislava.
Zum aktuellen Thema S 21 auf den Fildern: Dialog
Stuttgart 21 wird verkauft als ein Projekt, das die Fildern erschließt und einen einzigartigen Bahn-knoten am Flughafen schafft. Das genaue Gegenteil ist der Fall. S 21 zerschneidet die Fildern und bringt nur unermesslichen Schaden über die Filderebene. Von Westen her zerstören die Gäubahnzüge lautstark einen funktionierenden S-Bahn-Verkehr, ohne für die Filderbewohner Nutzen zu bringen. Die Tunnel dürfen sie nur mit einer fragwürdigen, zeitlich begrenzten Ausnahmegenehmigung befahren. Von Osten, von Wendlingen her, donnern sie auf einer eigenen, landfressenden Trasse an allen Filderorten vorbei.
Der Bahnknoten Flughafen besteht aus zwei miserablen, weit auseinander liegenden Bahnhöfen. Der bestehende S-Bahnhof wird in seiner Funktionsfähigkeit durch die zusätzlichen Gäubahnzüge massiv beschnitten. Der Fernzugbahnhof, an dem gerade mal alle 2 Stunden ein IC kommen soll, liegt weit entfernt in 27 Meter Tiefe unter der Messe. Sicherheitsmängel überall. Am Flughafen gibt es keine unmittelbaren Anwohner, die ÖPNV-Anschlüsse sind miserabel und die Parkplätze sind unbezahlbar.
Die Bahn versucht seit 2002 vergeblich, für den Filderabschnitt ein Planfeststellungsverfahren einzuleiten. Ihre miserablen Pläne, für Dutzende von Millionen über ein Jahrzehnt mit einer Armada von Fachleuten erstellt, sind schlicht unreifer Murks. Die Verzweiflung der Bahn und der Landesregierung zeigt sich darin, dass sie in dieser ausweglosen Situation willkürlich ausgewählte Bürger aufrufen, sich Gedanken über Alternativplanungen zu machen in der Hoffnung, dass diese leicht zu manipulieren sind. Nach vielfacher Kritik am Verfahren und massivem Nachhaken zur Ernsthaftigkeit, mit der die Projektpartner (Bahn, Land, Region, Stadt und Flughafen) den Bürgerwillen zu berücksichtigen bereit sind, wurde uns wiederholt versichert, dass jede Variante, die im Dialogverfahren eine Mehrheit bekommt, ernsthaft beraten und geprüft wird.
Daraufhin haben wir uns – innerlich zerrissen – entschlossen, im Dialogprozess mitzuarbeiten. Dort gab es keine offene Diskussion, es wurden in Kleingruppen Zettelchen entworfen, die man an Pinnwände heftete. Eingeforderte Informationen und Daten wurden von der Bahn verweigert und der überforderte Moderator sah sich außerstande, Antworten von der Bahn einzufordern, schließlich sei er ja nicht Geißler. Und nun geschah das Wunder (träumte nicht Kretschmann von so etwas?):
Bereits am 1. Dialogtag hat sich eine deutliche Mehrheit gegen den Mischverkehr auf der S-Bahntrasse zwischen Rohrer Kurve und Flughafen ausgesprochen. Am 2. Dialogtag, wurde das Ergebnis des ersten bestätigt und es fand sich eine deutliche Mehrheit der Teilnehmenden für die Beibehaltung der Gäubahn in der heutigen Führung ins Stuttgarter Tal. Am 3. Dialogtag schließlich wurde dies noch einmal eindrucksvoll (63:44) bestätigt, obwohl schon viele kritische Dialogteilnehmer gar nicht mehr erschienen waren. Die von uns favorisierte Variante eines S-Bahnrings über die Fildern, ohne Aufstiegstunnel und ohne Fernbahnhof unter der Messe, fand große Zustimmung. Das alles war ein unerwartetes, ermutigendes Ergebnis.
Dann, innerhalb weniger Tage, haben die Projektpartner diese eindeutigen Mehrheitsbeschlüsse einfach weggewischt. Bei Kefer war dies zu erwarten, aber auch Minister Hermann, der bis dahin noch am ehesten ernst zu nehmen war, knickte ein. Das ist die blanke Verhöhnung sich engagierender Bürger.
Also, es soll weiterhin den Mischverkehr durch Leinfelden-Echterdingen geben und der Erhalt der Gäubahntrasse, wie sie Geißler gefordert hatte, wird nicht weiter geprüft. Warum hat Ministerpräsident Kretschmann hier nicht ein Machtwort gesprochen, sich wenigstens an vereinbarte Spielregeln zu halten? Das hätte einem sogenannten Landesvater gut angestanden.
Daraufhin haben wir das Dialogverfahren verlassen. Viele meinen zu spät und ich verstehe das und ich bin mir selbst heute noch nicht sicher, wann es richtig gewesen wäre. Aber durch unsere massive öffentliche Kritik am Verfahren stehen wir gewiss nicht in der Gefahr, als Alibi für die schwachsinnigen Ergebnisse herhalten zu müssen und noch etwas: Viele Filderbürger sind durch das Dialogverfahren zu S 21 kritischen Menschen geworden. Ist das nichts?
Noch ein Wort zu den jämmerlichen Versuchen der Projektpartner, ihr unanständiges Verhalten zu kaschieren: Der von ihnen jetzt favorisierte näher an den Flughafen gerückte, doppelstöckige Fernbahnhof ist so nicht umsetzbar. Er wird wesentlich teurer, er benötigt mehr Landverbrauch, er ist fahrplantechnisch ein Desaster, weil er jetzt auch noch die Gäubahnzüge aufnehmen muss. Und weil dies viele Jahre Verzögerung bedeutet, will man den Planfeststellungsabschnitt 1.3 in zwei Teile teilen. Einen, um jetzt bald loszulegen, um das Gesicht zu wahren und einen, der – wenn überhaupt – erst in sehr ferner Zukunft angegangen werden kann. Nicht nur der Kostendeckel, auch der ‚Zeitdeckel‘ wird ihnen um die Ohren fliegen.
Fazit: Viel schlimmer noch als das Planungschaos der Projektpartner ist, dass das zarte Pflänzchen Bürgerbeteiligung mit diesem Beschluss einen nicht zu ermessenden Schaden erlitten hat.
Viele aufrechte Bürger haben uns ermutigt, viele sind aufgewacht, einige ziehen sich aber auch verbittert zurück. Wir rufen alle auf, mit uns für die Interessen eines gesunden und nachhaltigen Filderlebensraums einzutreten. Im angekündigten Planfeststellungsverfahren, wenn es denn je kommt, sowie den nachfolgenden Rechtsverfahren brauchen wir viel Kraft und die Unterstützung jedes Einzelnen.
Packen wir es an – im Interesse der Demokratie und unserer Filder
Wir bleiben oben – auf den Fildern!
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