„Kafkas ´Der Prozess´ lässt grüßen“
Dokumentation: Die Rede von Dieter Reicherter, ehemaliger Staatsanwalt und Vorsitzender Richter am Landgericht Stuttgart (Strafkammer) bei der gestrigen 134. Montagsdemonstration gegen das Industrie- und Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21). Die Hintergründe der Rede finden sie hier und hier.
Liebe Freundinnen und Freunde des Rechtsstaats, eigentlich sollte ich heute nochmals von der in meiner Abwesenheit ohne Zeugen bei mir durchgeführten Hausdurchsuchung berichten. Wie die Staatsanwaltschaft es geschafft hat, einen Tag zu finden, an dem ich im Ausland war, und die Herausgabe eines Schlüssels, den Bekannte im Ort hatten, zu erzwingen, wäre in der Tat einen eigenen Bericht wert.
Wichtiger erscheint mir aber, was sich in der Zwischenzeit ereignet und zu der Aktion herausgestellt hat. Hierbei muss ich nicht spekulieren, meine Phantasie hätte auch gar nicht so weit gereicht. Zum Glück hat mir das Landgericht, das über meine Beschwerde entscheidet, eine vollständige Kopie der Akten zur Verfügung gestellt. Somit sind es keine Geheimakten mehr, wie sich das vielleicht manche der Verantwortlichen gewünscht hätten. Die Staatsanwaltschaft hat mir nämlich in der Zeit von mehr als einem Monat noch keinerlei Auskünfte erteilt – Kafkas „Der Prozess“ lässt grüßen.
Anhand der Akten lässt sich wunderbar nachvollziehen, dass das Polizeipräsidium Stuttgart tatsächlich alles, was aus dem Widerstand ins Netz kommt, lückenlos überwacht. Nur wenige Stunden, nachdem meine E-Mail wegen der Bespitzelung auf der Seite von „Bei Abriss Aufstand“ veröffentlicht worden war, wurden bereits Ermittlungen eingeleitet. Schöner könnte die kleinkarierte Umsetzung des Rahmenbefehls nicht dokumentiert werden. Die Polizei liebt mich inzwischen so sehr, dass erst letzten Dienstag bei meiner Rede in Esslingen wieder zwei Beamte zur Überwachung meiner Ausführungen eingesetzt waren.
Möglicherweise unfreiwillig bestätigt OStA Häußler in seinem Bericht an das Justizministerium unsere Zweifel am Rechtsstaat, wenn er schreibt, bei Bekanntwerden des Rahmenbefehls werde das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Verwaltung erschüttert. Da kann ich nur zustimmen und fordern, dass der Rahmenbefehl, Ausdruck einer totalen Überwachungsmentalität, sofort abgeschafft wird. Und die Planstellen für diejenigen in den Sicherheitsbehörden, die uns beschnüffeln, gleich mit. Übrigens entstand der Befehl unter Landespolizeipräsident Hammann, der Mitverantwortung für den Schwarzen Donnerstag trägt, und dem politisch verantwortlichen Innenminister Gall (SPD).
Die Durchsuchung in meinem Haus dauerte zwei Stunden und beschäftigte sechs Menschen. Dabei wurde wegen angeblichen Geheimnisverrats auch nach dem sogenannten Gefährdungslagebild gesucht, aus dem ich zitiert hatte. Allerdings übersah man, dass laut Akte dieses Schriftstück überhaupt nicht geheim ist. Aber wenn man schon am Suchen war, kam es natürlich auf solche Feinheiten nicht an. Dieser großzügigen Auffassung ist es sicher auch zuzuschreiben, dass ohne Ermächtigung durch den Durchsuchungsbeschluss so gewichtige Schriftstücke mitgenommen wurden wie beispielsweise der grün-rote Koalitionsvertrag.
In einem späteren Beschluss des Amtsgerichts heißt es dazu: „ Es handelt sich um Beweismittel, die für die weiteren Ermittlungen zur Feststellung des Amtsträgers, der den o.g. Rahmenbefehl Nr. 2 des Innenministeriums Baden-Württemberg sowie das Gefährdungslagebild Nr. 23 vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg unbefugt an den Zeugen Reicherter übermittelt und somit unbefugt ein Geheimnis offenbart hat, erforderlich sind.“
So wird nicht ausbleiben, dass die Staatsanwaltschaft jetzt gegen die Verfasser des Koalitionsvertrags wegen Geheimnisverrats ermitteln wird. Mit derselben Begründung wurden übrigens eine Ausgabe des Tunnelblick und die Tagesordnung der Juristen zu S 21 beschlagnahmt, außerdem mein Schreiben an den Ministerpräsidenten, ein Schreiben des Justizministeriums, eine Einstellungsverfügung gegen den Projektsprecher Dietrich, ein Redemanuskript und andere persönliche Unterlagen.
Offenbar besonders verdächtig war folgende Textstelle:
„Die Zeit des Durchregierens von oben ist zu Ende. Gute Politik wächst von unten, echte Führungsstärke entspringt der Bereitschaft zuzuhören. Für uns ist die Einmischung der Bürgerinnen und Bürger eine Bereicherung. Wir wollen mit ihnen im Dialog regieren und eine neue Poltik des Gehörtwerdens praktizieren.“ Angeblich hätte es richtig heißen sollen:
„Wir wollen eine neue Politik des Abgehörtwerdens praktizieren.“
In meiner Mail an Kretschmann ging es auch um ein Zitat der Mafia-Expertin Petra Reski zu Verbindungen des EU-Kommissars Oettinger zu kalabrischen Gastwirten. Möglicherweise nahm die Staatsanwaltschaft Anstoß daran, dass dessen Rolle bei Stuttgart 21, insbesondere bei der Kostenlüge der Bahn, nicht ebenso beleuchtet wurde.
Bei so viel Aufklärungswillen der Staatsanwaltschaft fällt mir ihre Rolle bei der Aufklärung des EnBW-Deals und des 30.9. ein. Was wir zu Mappus im Zusammenhang mit dem Aktienkauf erfahren haben, stellt unser gesamtes Demokratieverständnis und die Akzeptanz für angeblich demokratisch zustande gekommene Entscheidungen in Frage. Wir werden fragen müssen, auf welche Weise die Entscheidungen zur Neuen Messe und zu Stuttgart 21 eingefädelt wurden. Verblüffende Übereinstimmungen im Strickmuster sind unverkennbar. Auch wird neu zu prüfen sein, wer die Fäden am 30.9. gezogen hat. Ob wir von Polizeibeamten zusammengeknüppelt, mit Pfefferspray geblendet und mit Wasserwerfern angegriffen wurden, die von ehemaligen Ku-Klux-Klan-Mitgliedern und Ausbildern der libyischen Diktatur geschult wurden.
Selbstverständlich bin ich überzeugt, dass die Staatsanwaltschaft all diese Fragen sorgfältig und objektiv klären wird, so wie sie in meiner Sache keine Mühen scheut und mich auf Montag, 20.August 2012, 10 Uhr, zur richterlichen Vernehmung zum Amtsgericht Stuttgart in der Hauffstr. 5 vorladen lässt. Denn auch die Staatsanwaltschaft will
OBEN BLEIBEN!