„Eine juristische Diskussion über Bürgerrechte, die Versammlungsfreiheit und den Gewaltbegriff im deutschen Strafrecht entfachen“
Dokumentation: Die Rede von Frank-Ulrich Mann, Rechtsanwalt Freiburg i. B., auf der heutigen 141. Stuttgarter Montagsdemonstration gegen das Industrie- und Immobilienprogramm „Stuttgart 21“ (S21).
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es! Und das, was Sie hier Woche für Woche auf die Beine stellen, ist was Gutes! 141 Montagsdemos mit Tausenden von Teilnehmern und kein Ende in Sicht! Respekt, meine Damen und Herren! Bald wird Stuttgart mehr Montagsdemos zählen als München Oktoberfeste. Und seien Sie sich gewiss: Die Demonstrationen, auch und gerade die Montagsdemonstrationen verfehlen ihre Wirkung nicht.
Als Beispiel hierfür erwähnt ein Badener wie ich gerne den Streit um das seinerzeit geplante Atomkraftwerk in Whyl. Der damalige „Mappus“ hieß Filbinger und prophezeite, dass ohne das AKW bald die Lichter ausgehen würden. Meine Damen und Herren, die einzigen Lichter, die mittlerweile ausgegangen sind, sind die des Herrn Filbinger.
Es war das Volk, das den Bau des AKWs verhindert hat. „Nai, hämmer gesait!“ Und dies obwohl auch das AKW-Whyl von sämtlichen Gremien abgenickt wurde und den Demonstranten daher mangelnde Legitimation für Ihren Protest vorgeworfen worden war. Heute vollzieht die Bundesregierung den Atomausstieg. Hätten sie mal gleich auf das Volk gehört. Geschichte übrigens, und das sage ich in Ihre Richtung, wiederholt sich.
Die Besonderheit bei Stuttgart 21 ist, dass Sie als Gegner des Projektes nicht nur von Seiten der Politik, sondern auch von Teilen der Justiz, insbesondere von den Ermittlungsbehörden, kriminalisiert werden. Bagatelldelikte werden zu schweren Straftaten hochgestuft, unbegründete Hausdurchsuchungen und erkennungsdienstliche Maßnahmen vollzogen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart zieht – wie ich finde allerdings erkennbar einseitig – alle Register. Von Gefangenenbefreiung, schwerem Landfriedensbruch über Freiheitsberaubung bis hin zu Körperverletzungs- und versuchten Tötungsdelikten, ist alles dabei. Demnach müsste ich hier vor einer Horde wildgewordener Hooligans stehen.
Und oft genug folgen die Gerichte den Vorgaben der Staatsanwaltschaft. Die Richter können sich kaum vorstellen, dass nicht alle Aussagen der Polizeibeamten zutreffend und die Ermittlungen überzogen sind. Nur manchmal, wenn man zum Beispiel Videos findet, auf denen der wahre Vorgang zu sehen ist, können die Gerichte überzeugt werden. Mittlerweile werden zahlreiche Demonstranten wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt – man beachte: Ein Gewaltdelikt – obgleich sie keinerlei Gewalt angewendet, bisweilen nicht einmal Kraft aufgewendet haben.
Zwar ist der Gewaltbegriff im deutschen Strafrecht in den letzten Jahrzehnten immer weiter aufgeweicht worden, dies ist jedoch, finde ich zumindest, eine neue Dimension, die juristisch nach meiner Auffassung nicht mehr vertretbar ist und die die Bürgerrechte weiter einschränkt. Es wird unsere Aufgabe als Verteidiger sein, die Rechtsprechung von höheren Gerichten korrigieren zu lassen. Was aber ist der Grund für die Kriminalisierung der friedlichen Demonstranten?
Heute ist die letzte Montagsdemo vor dem 2. Jahrestag des 30.09.2010, dem Schwarzen Donnerstag. Die Polizeiführung hat mit Rückendeckung der Politik, vermutlich sogar in deren Auftrag, die Einrichtung der Baustelle unter Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstöcken und reichlich Pfefferspray gegen das eigene Volk durchgesetzt. Vernünftig wäre gewesen, den Einsatz abzubrechen, als und weil erkennbar war, dass die polizeiliche Strategie angesichts der immensen Zahl von Demonstranten nicht wird funktionieren können. Die Verantwortlichen haben jedoch entschieden, mit Ausnahme der Schusswaffe, alle zur Verfügung stehenden Zwangsmittel einzusetzen. Und dabei hat sie schwere Verletzungen der Demonstranten billigend in Kauf genommen.
Das zwangsläufige Ergebnis kennen Sie: hunderte Verletzte, davon einige schwer. In der Folge kamen Politik und Polizei in erhebliche Erklärungsnot, gingen die Bilder des Einsatzes und des schwerverletzten Dietrich Wagner doch um die Welt. Und da blieb gar keine andere Möglichkeit mehr, als die Schuld den Demonstranten zu geben und ihnen Unfriedlichkeit vorzuwerfen. Fehler einzugestehen würde ja Schwäche bedeuten und auf Versagen hinweisen. Das ungeschriebene Gesetz heißt offensichtlich: § 1 Der Staat hat immer recht, § 2 Sollte der Staat einmal nicht recht haben, tritt sofort § 1 in Kraft. Also musste vertuscht, ein falsches Bild gezeichnet und aufrechterhalten werden. Vermutlich deshalb werden die Delikte der S21-Gegner auch immer gleich zwei, drei Stufen höher gehängt. Das harte Vorgehen soll einerseits abschrecken und dient andererseits als Rechtfertigung.
Hinzu kommt Folgendes: Seit zwei Jahren wird nun aufgeklärt, wie das alles strafrechtlich zu beurteilen ist. Verantwortlich für diese Aufklärung ist – wie für alle anderen Verfahren zu S21 – die politische Abteilung der bereits gewürdigten Staatsanwaltschaft Stuttgart. Dessen Leiter war allerdings in den Einsatz in seiner Funktion als Oberstaatsanwalt involviert. Er war die ganze Zeit über vor Ort und zwar bei der Einsatzleitung. Spätestens in dem Moment, als die ersten Schwerverletzten zu beklagen waren, hätte er nach meiner Überzeugung einschreiten müssen. Sie wissen es, er tat das nicht.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie objektiv kann seine juristische Aufarbeitung sein, wenn er womöglich selbst nicht rechtstaatlich korrekt gehandelt hat? Er müsste dann schließlich gegen sich selbst ermitteln. Das ist so, als würde ein Strafrichter über seine eigene Straftat richten. Und die anschließende Frage lautet: Ist das möglicherweise aus o.g. Gründen von der Politik auch so gewollt?
Einen Antrag meiner Kanzlei auf Auswechselung der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Verfahren rund um S21 hat der amtierende Justizminister unter Verweis auf eine Stellungnahme des Generalstaatsanwalts und mit der Begründung, es dürfe keine Einmischung der Politik in die juristische Aufarbeitung geben, zurückgewiesen. Aber hat nicht gerade die Einmischung der Politik zu dem Desaster geführt? Ist die Politik unter diesem Aspekt nicht geradezu verpflichtet, sich einzumischen und den Bürgern wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, sie zu rehabilitieren?
Wir geben nicht auf und so hat sich meine Kanzlei zusammen mit dem Vorsitzenden Strafrichter am LG Stuttgart a.D., Dieter Reicherter, vorgenommen, die skurrilsten Fälle in einem sogenannten „Schwarzbuch“ zu veröffentlichen. Möge sich damit jeder ein eigenes Urteil über die Objektivität der Ermittlungen und die Rechtsprechung zu S21 bilden. Gerechtigkeit oder Gutsherrenrecht?
Und vielleicht gelingt es uns damit auch, eine juristische Diskussion über Bürgerrechte, die Versammlungsfreiheit und den Gewaltbegriff im deutschen Strafrecht zu entfachen.
Diskussionsbedarf besteht allemal.
Vielen Dank!