Erniedrigen und degradieren (2.Teil)
10.November 2012 Demütigen und degradieren – Eindrücke aus dem Gazastreifen (1.Teil)
Nach einem mehrtägigen Besuch im Gazastreifen war mein erster Eindruck Verwunderung, nicht nur über die Fähigkeit, (unter diesen Umständen) das Leben weiter zu führen, sondern auch über die Dynamik und Vitalität der jungen Leute, besonders an der Universität, wo ich die meiste Zeit an einer internationalen Konferenz teilnahm. Aber auch dort kann man auf Anzeichen stoßen, dass der Druck (der Besatzung und Blockade) so hart ist, dass er schwer zu ertragen ist. Berichte deuten daraufhin, dass unter jungen Männern Frustration schwelt, nachdem sie erkannt haben, dass unter der US-Israel-Besatzung die Zukunft nichts für sie bereit hält. Es gibt nur so viel, wie in Käfige eingesperrte Tiere aushalten können, und dann kann es einen Ausbruch geben, der vielleicht hässliche Formen annimmt – und israelischen und westlichen Apologeten eine Möglichkeit der Selbstgerechtigkeit anbietet, um die Menschen zu verurteilen, die „kulturell zurück“ seien, wie Mitt Romney „einsichtsvoll“ erklärte.
Gaza sieht wie eine typische Dritte-Welt-Gesellschaft aus, mit wenig Reichen, die von schrecklicher Armut umgeben sind. Doch ist es nicht „unterentwickelt“. Es ist eher „ de-devellopped“/“zurück-entwickelt“ und zwar sehr systematisch, um den Terminus von Sara Roy zu gebrauchen, die führende akademische Spezialistin des Gazastreifens. Der Gazastreifen könnte eine reiche mediterrane Region mit reicher Landwirtschaft, einer blühenden Fischindustrie und wunderschönen Stränden sein – und was vor zehn Jahren entdeckt wurde: gute Aussichten auf extensive Naturgasvorräte innerhalb seiner territorialen Gewässer.
War es reiner Zufall, dass Israel seine Seeblockade intensivierte und Fischerboote zur Küste in die drei Meilenzone trieb?
Die günstigen Zukunftsaussichten wurden 1948 abgebrochen, als der Streifen eine Flut palästinensischer Flüchtlinge aufnehmen musste, die vor dem (israelischen) Terror flohen oder zwangsweise aus dem Gebiet vertrieben wurden, was Israel wurde. In einigen Fällen wurden sie erst Monate nach der Feuerpause vertrieben.
Tatsächlich wurden sie sogar erst vier Jahre später vertrieben, wie Haaretz am 25.12.2008 in einer nachdenklichen Studie von Beni Tziper über die Geschichte des israelischen Ashkalon (bis zu den Kanaanitern) brachte. 1953 gab es eine „kühle Kalkulation, dass es nötig sei, die Region von Arabern zu säubern“. Der ursprüngliche Name Majdal war schon ins heutige Ashkalon judaisiert worden – wie es reguläre Praxis ist.
Das war 1953, als keinerlei militärische Notwendigkeit bestand. Während Tziper, selbst 1953 geboren, durch die Überreste des alten arabischen Stadtteils ging, hatte er die Gedanken: „es ist wirklich schwierig für mich, wirklich schwierig, mir klar zu machen, dass während meine Eltern meine Geburt feierten, andere Menschen auf LKWs geladen und aus ihren Häusern vertrieben wurden.“
Israels Eroberungen von 1967 und ihre Nachwirkungen führten zu weiteren Schlägen. Dann kamen die schon erwähnten schrecklichen Verbrechen, die bis heute andauern.
Die Anzeichen sind leicht selbst bei einem kurzen Besuch zu sehen. Während ich in einem Hotel in der Nähe der Küste sitze, kann man das Maschinengewehrfeuer hören, womit die Fischer aus Gazas territorialen Gewässern zur Küste getrieben werden. So werden sie gezwungen, in schwer kontaminierten Gewässern zu fischen, weil die US-Israel sich weigern, Baumaterial zum Wiederaufbau der Abwässer und des Stromsystem, das sie zerstört haben, durch die Grenze zu lassen.
Die Oslo-Abkommen führten Pläne für zwei Entsalzungsanlagen, eine Notwendigkeit in dieser trockenen Region. Eine weit entwickelte wurde in Israel gebaut. Die zweite liegt bei Khan Younis im Süden des Gazastreifens. Der beauftragte Ingenieur, der für Trinkwasser für die Bevölkerung sorgen soll, erklärte, dass diese Einrichtung entworfen wurde, aber nicht für salziges Meerwasser, sondern für Grundwasser. Es ist ein billigerer Prozess, der aber den armen Aquifer dahinbringt, dass es in Zukunft ernste Probleme geben wird. Das Wasser ist sehr knapp. Die UNRWA, die für die Flüchtlinge sorgt, aber nicht für die andern Menschen im Gazastreifen, veröffentlichte vor kurzem einen Bericht, in dem sie davor warnt, dass der Schaden des Aquifer bald „irreversibel“ ist und wenn hier nicht bald eine schnelle Hilfsaktion einsetzt, dann wird Gaza für Menschen 2020 kein „erträglicher Ort mehr zum Leben“ sein.
Israel erlaubt, dass Beton in den Gazastreifen geliefert wird, aber nur für UNWRA-Projekte, nicht für die riesigen Wiederaufbauprojekte der Bevölkerung. Die wenigen schweren Baumaschinen stehen meistens untätig herum, da Israel nicht erlaubt, dass Baumaterial in den Gazastreifen geliefert wird. All dieses ist ein Teil des allgemeinen Programms, das Dov Weisglass, Berater des Ministerpräsidenten Ehud Olmert, empfohlen hat, nachdem die Palästinenser bei den 2006-Wahlen nicht den Ordern folgten (und stattdessen Hamas wählten). Er sagte, man müsse die Palästinenser auf Diät setzen, sie aber nicht Hungers sterben lassen. Das sieht nicht gut aus. (Es wurde sogar die Kalorienzahl festgelegt.)
Und dem Plan wird skrupellos gefolgt. Sara Roy hat in ihren wissenschaftlichen Studien Beweise geliefert. Vor kurzem gelang es der israelischen Menschenrechtsorganisation Gisha nach jahrelangen Bemühungen eine Gerichtsorder für die Regierung zu bekommen, dass sie die Protokolle mit den detaillierten Diätplänen – und wie sie ausgeführt werden – veröffentlicht.
Der in Israel lebende Journalist Jonathan Cook fasst sie so zusammen: Offizielle israelische Gesundheitsarbeiter lieferten Kalkulationen über die Minimumanzahl von Kalorien, die in Gaza für 1,5 Millionen Bewohner benötigt werden, um Unterernährung zu verhindern. Diese Zahlen wurden umgerechnet in LKW-Ladungen mit Nahrungsmitteln, die Israel täglich in den Gazastreifen lässt … im Durchschnitt nur 67 LKW – viel weniger als die Hälfte des erforderlichen Minimumbedarfs – dies verglichen mit mehr als 400 LKWs, bevor die Blockade begann.“ Und selbst diese Schätzung ist allzu großzügig, sagt ein UN-Beamter.
Der Nahostwissenschaftler Juan Kole beobachtete: „Die Folge dieser Diät ist, dass über 10 % der palästinensischen Kinder unter 5 Jahren im Gazastreifen in ihrem Wachstum wegen Unterernährung gehemmt sind … zusätzlich ist Anämie weit verbreitet, zwei Drittel der Kleinkinder, 58,6% der Schulkinder und mehr als ein Drittel der schwangeren Mütter.“ Die US und Israel wollen sich absichern, dass nur gerade noch Überleben möglich ist.
„Woran man vor allem denken muss,“ sagt Raja Sourani (PCHR), „ ist, dass die Besatzung und die absolute Blockade ein dauernder Angriff auf die menschliche Würde vor allem der Menschen im Gazastreifen ist, aber auch der Palästinenser allgemein. Es ist eine systematische Degradierung, Demütigung, Isolierung und Fragmentierung des palästinensischen Volkes.“
Diese Schlussfolgerung wird von vielen anderen Quellen bestätigt. In einer führenden medizinischen Zeitschrift „The Lancet“ beschreibt ein Arzt aus Stanford, der den Gazastreifen besuchte und erschrocken war über das, was er dort sah. Er beschrieb Gaza als „ein Laboratorium*, in dem die Abwesenheit von Würde beobachtet wird“, ein Zustand, der verheerende Auswirkungen auf das physische, psychische und soziale Wohlbefinden hat. Die ständige Überwachung vom Himmel her, die kollektive Bestrafung durch Blockade und Isolierung, die Störung der Privatsphäre, der Kommunikationen und die Einschränkungen für die, die zu reisen, zu heiraten oder zu arbeiten versuchen, machen es schwierig, ein würdevolles Leben im Gazastreifen zu führen.“ Den Arabern / den Niggern muss beigebracht werden, nicht ihre Köpfe zu heben. (*Gaza ist aber auch ein Testlabor für neue Waffen: DIME, Flechetteraketen, DU, Nervengas, Phosphor, Phantomangriffe u.a. Bericht in Baltische Rundschau vom 15.1.09 und Goldstone-Bericht S.362; ER)
Es gab Hoffnungen, dass die neue Morsi-Regierung in Ägypten weniger im Banne Israels stünde als die westlich-unterstützte Mubarak-Diktatur und den Rafah-Übergang öffnet, den einzigen Ausgang nach draußen für die gefangenen Gazaer, der nicht der direkten israelischen Kontrolle unterworfen ist. Es gab eine leichte Öffnung, aber nicht viel und nicht lange. Die Journalistin Laila el-Haddad schreibt, die Wieder-Eröffnung unter Morsi „ ist einfach eine Rückkehr zum Status Quo vergangener Jahre: nur Palästinenser mit einem israelisch anerkannten Gaza-Ausweis können die Rafa-Kreuzung benützen“, was eine große Menge Palästinenser ausschließt, einschließlich El-Haddads Familie, in der nur ein Ehepartner solch einen Ausweis hat.
Sie fährt fort:“ Außerdem führt dieser Übergang nicht in die Westbank, noch dürfen hier Waren eingeführt werden, die nur über von Israel kontrollierte Übergänge eingeführt werden dürfen. Es ist auch verboten, Baumaterial hier zu importieren und jeder Export ist verboten.“ Der eingeschränkte Rafa-Übergang verändert nicht die Tatsache, dass Gaza unter dichter Belagerung von der Luft und vom Meer her bleibt und weiter für palästinensisches kulturelles, wirtschaftliches und akademisches Kapital im Rest der besetzten Gebiete verschlossen bleibt – was eine Verletzung der US-israelischen Verpflichtungen nach den Oslo-Abkommen ist.“
Die Auswirkungen sind schmerzlich offensichtlich. Im Khan Yunis-Krankenhaus beschreibt der Leiter, der auch Chef der Chirurgie ist, zornig und leidenschaftlich, dass sogar Schmerzmedikamente fehlen, die den leidenden Patienten helfen könnten, als auch einfache ärztliche Ausrüstung und so die Ärzte hilflos lässt und die Patienten in Agonie. Persönliche Geschichten verdeutlichen die allgemeine Empörung, die man bei der Obszönität der harten Besatzung empfindet. Ein Beispiel ist das Zeugnis einer jungen Frau, die verzweifelte, als ihr Vater, der stolz auf seine Tochter war, die als erste Frau im Flüchtlingslager einen akademischen Grad erhielt, nach 6 Monaten Kampf gegen den Krebs mit 60 starb. Die israelische Besatzung verweigerte ihm einen Passierschein für die Behandlung in einem israelischen Krankenhaus. Ich musste meine Studien, meine Arbeit und Leben abbrechen, um mich an sein Bett zusetzen. Wir saßen alle da, mein Bruder, ein Arzt, und meine Schwester, eine Apothekerin; alle macht- und hoffnungslos beobachteten wir sein Leiden. Er starb während der unmenschlichen Blockade des Gazastreifens im Sommer 2006 …Ich denke, sich macht- und hoffnungslos zu fühlen, ist das schlimmste Gefühl, das ein Mensch je haben kann.
Es tötet den Geist und bricht das Herz. Man kann gegen die Besatzung ankämpfen, aber nicht gegen das Gefühl, machtlos zu sein. Man kann dieses Gefühl auch nicht auflösen.“
Empörung gegen die Obszönität, verbunden mit Schuld: es liegt in unserer Macht, dieses Leiden zu beenden und den Samedin/den Geduldigen erlauben, sich ihres Lebens in Frieden und Würde zu erfreuen – wie sie es verdient haben.
Prof. Noam Chomsky – Professor Emeritus der Linguistik am MIT (Massachusetts Institut für Technologie, weltbekannter Autor und führender Intellektueller, der den Gazastreifen vom 25.-30. Oktober 2012 besuchte .
(dt. Ellen Rohlfs, ER)