In Kairo platzt eine Bombe
Vor einem Jahr stand ich auf dem Tahrir-Platz in Kairo unter den Demonstranten, die ein Ende der Mubarak-Diktatur und Demokratie für Ägyptens 84 Millionen Menschen forderten.
Als geborener Hitzkopf finde ich die meisten Revolutionen berauschend – wenn auch fast unweigerlich als unbefriedigend oder sogar schrecklich.
Was für einen Unterschied ein Jahr ausmacht. Der Tahrir-Platz ist jetzt voll mit Ägyptern, die gegen die neue revolutionäre Regierung unter der Führung des gewählten Präsidenten Mohamed Morsi demonstrieren. Ägypten steckt im politischen Aufruhr.
Morsi hatte gerade erst einen Waffenstillstand in Gaza vermittelt, der ihm volles Lob aus Washington einbrachte, das sich bis dato Ägyptens erstem demokratisch gewählten Präsidenten gegenüber kühl verhalten hatte. Der Islamist Mursi machte dann eine Wendung und ließ die Bombe eines Staatsstreichs in eigener Sache platzen.
Morsi erließ eine Verordnung, die ihm außergewöhnliche – Kritiker sagen diktatorische – Macht verleiht, die alle Entscheidungen Morsis und der gewählten Verfassungsversammlung ausnimmt von Anfechtungen durch ägyptische Gerichte oder andere Regierungseinrichtungen. Die Verordnung gilt, bis ein neues Parlament gewählt ist.
„Diktatur“-Geheul kam aus Ägypten und aus vielen anderen Ländern – genau denjenigen Ländern, die mit Mubaraks hässlicher Diktatur 30 Jahre lang freundschaftlich kollaboriert haben. Gegner von Morsis Moslem-Bruderschaft riefen: „man sieht, dass man diesen Islamisten nicht trauen kann.“
Das alles ist sehr eigenartig. Bisher ging Morsi mit extremer Besonnenheit vor, um freie Wahlen durchzuführen, Christen und säkulare Liberale zu beruhigen und geschickt den eisernen Griff von Ägyptens aufgeblähten bewaffneten Kräften zu brechen. Wenige hatten geglaubt, dass der farblose, unauffällige Morsi, ein ehemaliger politischer Gefangener, imstande sein würde, die mächtigen von den Vereinigten Staaten von Amerika unterstützten ägyptischen Generäle auszumanövrieren. Aber er schaffte es, mit Geschick und bemerkenswerter Fertigkeit, indem er jüngere höhere Offiziere dazu brachte, die alte Pharaonengarde sanft zu stürzen.
Morsi schaffte es, die bewaffneten Kräfte in die Schranken zu weisen und in Ägypten zu ziviler Kontrolle zurückzukehren. Aber – bis zu dieser Woche waren Morsi und seine Verbündeten in der Moslem-Bruderschaft und Gerechtigkeitspartei nicht imstande, einen eingesessenen Kader von von Mubarak bestellten Beamten und Henkern in der Justiz, in der Geheimpolizei, im akademischen Bereich, in den Medien und im diplomatischen Korps loszuwerden.
Diese bilden, was als Ägyptens „tief eingewurzelte Regierung“ bekannt ist, die reale Macht im Land, die direkt mit Mubaraks Entourage kommunizierte.
Dieses Parallelregime hatte viele von Morsis Anstrengungen zunichte gemacht, das korrupte herrschende System zu reformieren, eine wirklich demokratische Republik aufzubauen und die Stellung von Ägyptens verhätschelter, verwestlichter städtischer Elite zu brechen, die sich unter Mubarak nahezu totaler politischer und wirtschaftlicher Macht erfreut hatte.
Ägyptens „tief eingewurzelte Regierung“ ähnelt sehr stark der kemalistischen säkularen herrschenden Struktur in der Türkei, die das mächtige Militär, Sicherheitsdienste, Gerichte, Universitäten, Medien, große Wirtschaftsverbände und islamische religiöse Institutionen kontrolliert hat – und eng verbündet war mit den Vereinigten Staaten von Amerika und Israel.
Der derzeitige Premierminister Recep Erdogan und seine AK-Partei brauchten zehn Jahre geduldiger Belagerung, um den Griff der „tief eingewurzelten Regierung“ der Türkei zu brechen – länger als Sultan Mehmet benötigte, um Konstantinopel zu erobern. Erdogan schaffte es zu guter Letzt, Militär und Sicherheitskräfte unter zivile Kontrolle zu bringen, einen großen Teil der Wirtschaft von der kemalistischen Elite zu befreien und die Türkei in eine beeindruckende, wenn nicht perfekte moderne Demokratie umzuwandeln – und generierte damit eine Wachstumsrate von 7%.
Präsident Morsi versucht jetzt die gleiche Schocktherapie in Ägypten, das dringend aufgeschüttelt und modernisiert werden muss. Sein größtes Problem: Ägypten kann sich nicht selbst ernähren, noch das Geld aufbringen, um Nahrungsmittel zu importieren. Kairo ist also gezwungen, sich auf die Vereinigten Staaten von Amerika zu verlassen, und, neuerdings, auf Saudiarabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, um sich finanziell über Wasser zu halten.
Ersatzteile und Munition für das ägyptische von den Vereinigten Staaten von Amerika ausgerüstete Militär werden von Washington knapp gehalten, sodass dieses die innere Sicherheit aufrecht erhalten, aber nicht gegen Israel oder gegen eine andere Macht kämpfen kann.
Jetzt hat der ehedem vorsichtige, schwerfällige Morsi einen Putsch durchgeführt, um die mubarakistischen „Rüsselkäfer,“ wie er sie nennt, zu säubern, die die Reform zunichte machen. Könnte die Kur schlimmer sein als die Krankheit?
Mursis Putsch hat viele Ägypter erschreckt und nichts dazu beigetragen, die Reputation von politischen Islamisten aufzubessern. Obwohl seine donnernde Aktion zu einem guten Teil verständlich ist, hätte er eine langsamere, geduldigere türkische Vorgangsweise wählen sollen. Seine überstürzte Handlungsweise führt dazu, dass sich seine vielen einheimischen und ausländischen Feinde gegen ihn zusammentun.
Vielleicht wird Mohamed Morsi wirklich seine neu errungene Macht zurücklegen, sobald ein demokratisch gewähltes Parlament seine Arbeit aufnimmt und eine neue Verfassung eingeführt ist. Wenn er das macht, wird er bejubelt werden als ein neuer Perikles oder George Washington.
Sonst gilt leider Lord Actons so berühmte wie weise Warnung: „alle Macht korrumpiert – absolute Macht korrumpiert absolut.“
Orginalartikel CAIRO BOMBSHELL am 24.November 2012