Dokumentation: Die Rede von Guntrun Müller-Enßlin auf der heutigen 150. Montagsdemo der Stuttgarter Bürgerbewegung gegen das verkehrs-industrielle und urbane Umbauprogramm “Stuttgart 21″ (S21).
Liebe Freundinnen und Freunde, eigentlich ist bei einem Jubiläum Jubilieren angesagt, wie Christine das in Kontext so treffend beschrieben hat. Jubilieren wollte ich heute Abend eigentlich auch. Ich wollte an einzelne der 150 Montagsdemos erinnern, ich wollte etwas dazu sagen, wofür die Montagsdemos stehen.
Da erschien vergangene Woche das Interview mit Landesbischof July in der Stuttgarter Zeitung. Dort wurde das Ausbleiben von Frieden und Versöhnung in der Bevölkerung ausgiebig beklagt; laut erklang der Ruf, die Spaltung in der Stadt zu überwinden, genug vom Streit. Ein wichtiges Thema, finde ich, denn für Frieden bin ich auch, bin ich sofort dabei, nichts lieber als das. Einigkeit in der Stadtbevölkerung tut Not, um die gewaltigen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte in Stuttgart gemeinsam zu meistern. Bleibt die spannende Frage: Wie bekommen wir ihn hin – den Frieden in der Stadt?
Zwei Anläufe dazu gab es ja schon, vorletzten Herbst mit der sogenannten Schlichtung, letzten Herbst mit der Volksabstimmung, beide waren zum Scheitern verurteilt. Warum? Darum, weil die Wahrheit, die über Stuttgart 21 auf den Tisch kommen sollte und zeitweilig auch kam, flugs wieder unter denselbigen gekehrt und mit allen Mitteln dafür gesorgt wurde, dass sie dort auch blieb.
Im Fall des Faktenchecks hat Heiner Geißler die erdrückenden Argumente gegen das Großprojekt mit dem Heftpflaster seines Schlichterspruchs überklebt und verschwinden lassen. Bei der Volksabstimmung wurden die stichhaltigen Sachargumente gegen S21 auf dem Basar der Formaljuristik zum Ausverkauf freigegeben und verscherbelt. Von der wachen kritischen Bevölkerung wurde hernach verlangt, sich zunächst dem Schlichterspruch und später dem Mehrheitsentscheid zu beugen, sprich, ihr Gehirn auszuschalten und ihr Gewissen gleich mit, und ihre gut belegten Vorbehalte gegen S21 wider besseres Wissen aufzugeben.
Dass auf diese Weise in einer Stadt kein Frieden einkehren kann, muss einen nicht wundern. Auch nicht, dass die Neuauflage pauschaler Friedensappelle hohles Wortgeklingel bleiben muss, so lange man sich gleichzeitig hartnäckig sträubt, sich den Hintergründen des Konflikts zu stellen. Was soll man davon halten, wenn an Stellen, wo man es besser wissen müsste, immer noch beharrlich die Augen verschlossen werden vor dem, was im Zusammenhang mit der Verwirklichung von S21 weithin sichtbar auf der Hand liegt und der Bevölkerung Sorgen macht: Gefährdung unserer Lebensgrundlagen, der Geologie, der Mineralquellen, Verschleudern der Steuergelder von uns Bürgern, Zerstörung stadtnaher Natur, einseitige Bereicherung von Investoren, fahrlässiger Umgang mit den Belangen von Behinderten.
Zu all dem müssten Institutionen und ihre Verantwortungsträger, insbesondere wenn sie in unserer Gesellschaft für den Erhalt ethischer Prinzipien stehen, doch etwas zu sagen haben! Wenn wache und kritische Bevölkerungsteile angesichts der offensichtlichen Schieflagen sich nicht mundtot machen lassen und zusehen wollen, wie ein Konzern eiskalt und gegen jede Vernunft ihre Stadt zerstört, dann dürfen sie nicht abqualifiziert werden als Störer, die den Frieden verhindern.
Kritisch sein heißt nicht Unfrieden stiften. Es kann nicht darum gehen, dass die kritischen Bürger zur Versöhnung aufgerufen werden, denn die kritischen Bürger sind nicht die Ursache für den Unfrieden. Die Kräfte, die die Stadt spalten, sind ganz woanders zu suchen. Sie wirken im Sinn eines Ablenkungsmanövers allein mit dem Zweck, dass ein Konzern sein schadenbringendes Projekt umso ungestörter durchziehen kann. Wenn dem aber so ist, dann wäre die logische Konsequenz, dass im Bemühen, dieses Projekt zu verhindern, alle verfügbaren Kräfte aufgeboten werden und sich die Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger dazu ALLE zusammentun.
Diejenigen, die jetzt zur Versöhnung aufrufen, täten, wenn sie wirklich an Frieden interessiert sind, besser daran, die ganze Stadtbevölkerung dazu zu ermutigen, kritisch und wachsam zu sein. Denn allein darum geht es, dass ALLE Stuttgarter kritisch und wach werden und darin zusammenhalten gegen den eigennützigen Eingriff eines Konzerns in ihre Stadt. Wenn das gelänge, dann hätten wir einen weihnachtlichen Frieden, ein echtes Geschenk für die Stadt! Einen Frieden, der zwar dem Konzern nicht in den Kram passt, der aber dazu dient, dass wir als Stadtbevölkerung wieder Herr im eigenen Haus wären und uns dieses Haus so einrichten könnten, wie wir darin am liebsten wohnen möchten.
Freundinnen und Freunde, ich habe Hoffnung, dass die Defizite von Stuttgart 21, eines blamabler als das andere, wie sie die Spatzen derzeit täglich von Stuttgarts Dächern pfeifen, immer mehr Menschen in der Stadt die Augen öffnen. Einstweilen demonstrieren wir weiter, wie wir es an 150 Montagen getan haben, an glücklichen und traurigen, an nachdenklichen und ausgelassenen, an verzweifelten und lustigen. Wir stehen weiter dafür, dass die stichhaltigen Argumente gegen S21 im Bewusstsein bleiben und halten so in unserer Stadt einen Platz für die Wahrheit frei. Damit werde ich am Ende mein Loblied auf die Montagsdemo und euch Mitstreiter doch noch los und sage DANKE – für euren Mut, euer Standvermögen, eure Friedfertigkeit, euren gerechten Zorn, eure Geduld und euren Humor.
Eine Redensart sagt: Das Beste kommt zum Schluss. Ich bin sicher: Nicht nur aus diesem Grund werden wir am Ende oben bleiben.
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