„Grüne Spitzenpolitiker können und müssen S21 jetzt stoppen!“
Dokumentation: Der Offene Brief von Egon Hopfenzitz, Sabine Leidig, Volker Lösch und Walter Sittler an Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, Winfried Hermann, Verkehrsminister des Landes Baden-Württemberg und Fritz Kuhn, designierter Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart.
Sehr geehrte Herren, bekanntlich lautet die in Sachen Stuttgart 21 am meisten verbreitete Parole: LÜGENPACK. Die am 12. Dezember bekannt gegebenen neuen Zahlen zu den tatsächlichen Kosten von Stuttgart 21 – laut McKinsey 6,8 Milliarden Euro, laut Bahn 5,6 Milliarden Euro – werden dazu beitragen, dass diese Losung noch populärer wird. Damit wird Stuttgart 21 drei Mal teurer als 1995 geplant, zwei Mal teurer als 2007 gerechnet und immer noch 50 Prozent kostspieliger als bei der Volksabstimmung vom 27. November 2011 als „Obergrenze“ genannt.
Nun müssen wir uns nicht darüber unterhalten, dass Kenner der Materie, darunter die Projekt-Gegnerinnen und –Gegner von Bündnis 90/Die Grünen, vergleichbare Kostensteigerungen vorausgesagt haben. Auch waren die Reaktionen von Bundesregierung und Bahn absehbar: Hier lautet die Devise: „Augen zu und durch“. Und zu Recht werden als Hauptadressat en der S21-Kritik die Bundesregierung und die DeutschenBahn genannt – und von diesen die sofortige Einstellung des gesamten Projekts gefordert.
Nun sind Bündnis 90/Die Grünen in Sachen Stuttgart 21 nicht mehr ausschließlich Opposition. Sie stellen im Land den Ministerpräsidenten, den Verkehrsminister und ab Anfang Januar 2013 den Stuttgarter Oberbürgermeister. Sie alle drei verstehen sich als Gegner von Stuttgart 21. Sie haben sich in jüngerer Zeit bei der S21-Kritik zurückgehalten unter Verweis auf die Volksabstimmung vom 27. November 2011. Unabhängig davon, wie man dies in den vergangenen zwölfeinhalb Monaten sah, so ist jetzt durch zwei Ereignisse doch eine grundlegend neue Situation eingetreten. Erstens kam es zu der bekannten Kostenexplosion. Zweitens gibt es den juristisch hieb- und stichfesten Beweis dafür, dass S21 eine deutliche Verringerung der Bahnhofskapazität mit sich bringt.
Volksabstimmung und Kostenexplosion
Ein Verweis auf die Volksabstimmung ist spätestens seit dem 12. Dezember 2012 unglaubwürdig. Wenn Sie, Herr Hermann, argumentieren, „die Frage nach dem Ausstieg stellt sich nach der Volksabstimmung trotz Mehrkosten nicht“ (WAZ v. 12.12.), dann widersprechen wir dem deutlich. In der Broschüre der Landesregierung zur Volksabstimmung hieß es, die Landesregierung habe „die zwischen den Projektparteien vereinbarten Kosten von 4,526 Milliarden Euro als Obergrenze der vom Land mitgetragenen Kosten festgelegt“. Die Bürgerinnen und Bürger stimmten am 27. November im Bewusstsein ab, dass dies definitiv die Obergrenze der Gesamtkosten sein würde. In derselben Broschüre verwies der Koalitionspartner SPD – als Argument, mit „Nein“ (oder für S21) zu stimmen – darauf, dass „drei unabhängige Wirtschaftsprüfungsgesellschaften diese Kalkulation bestätigt“ hätten und dass es „bis heute keinerlei Belege dafür (gibt), dass der Kostenrahmen für S21 nicht ausreichend bemessen wäre.“ Wer jetzt, wie Frau Staatsrätin Gisela Erler, argumentiert, die Bürgerinnen und Bürger wären implizit von weiteren Kostensteigerungen ausgegangen (Tagblatt, 10.12.), sagt schlicht die Unwahrheit.
Die Beruhigungspille, die Bahn werde ja die Mehrkosten zahlen, ist in dreifacher Hinsicht nicht akzeptabel: Erstens, weil die Deutsche Bahn AG dieses Geld immer irgendwoher nehmen wird – beispielsweise, indem die Ticketpreise weiter ansteigen, indem die Infrastruktur noch mehr verfällt, indem noch weniger in den Lärmschutz im Rheintal investiert oder indem die Elektrifizierung der Südbahn noch später in Angriff genommen wird. Zweitens, weil die Bahn faktisch nur die Hälfte der bekannt gewordenen Mehrkosten übernimmt. Wer für die zweite Hälfte, mehr als eine Milliarde Euro auf Basis des McKinsey-Gutachtens, aufkommt, ist offen. Jeder weiß, dass sich das Land und die Stadt irgendwann – vor allem, wenn die Baufortschritte groß genug sind –nicht mehr weigern können, bei weiteren Kostensteigerungen einzuspringen. Drittens weil alle Mehrkosten letzten Ende ein Mehr an öffentlichen Ausgaben sind, die anderswo – in der Bildung, bei der Energiewende usw. – fehlen. Hier darauf zu verweisen, das seien keine Landes- oder keine städtischen Mittel, heißt, das St. Florians-Prinzip predigen.
Bilanz: Die Grundlagen für die Volksabstimmungen wurden einseitig verletzt – sie sind nicht mehr gegeben. Es gilt, was die Landesregierung in der Begründung ihres Gesetzestextes „über die Ausübung von Kündigungsrechten bei (…) Stuttgart 21“ schrieb: Bei Kostensteigerungen, die nicht „in vollem Umfang von der Deutschen Bahn AG finanziert“ werden, sei „dem Land ein Festhalten an dem (S21-) Vertrag nicht zumutbar und ein Kündigungsrecht nach §60 Abs. 1 Satz 1 Landesverwaltungsverfahrensgesetz (LVwVfG) gegeben“.
Kapazitätsabbau
Die These, wonach Stuttgart 21 zu einem Abbau der Bahnhofskapazität führt, wird seit der Schlichtung im Sommer 2010 diskutiert. Für diese These gibt es inzwischen unwiderlegbare Beweise. Es gibt die Dokumentationen der früheren realen Kapazität des Kopfbahnhofs, die deutlich über dem Maximum dessen liegt, was S21 laut Deutscher Bahn AG leistet. Seitens WikiReal und Dr. Engelhardt wurde umfänglich dargestellt, wie beim sogenannten Stresstest 2011 manipuliert wurde. Es gibt des weiteren nirgendwo auf der Welt einen Durchgangsbahnhof mit acht Gleisen, der auch nur annähernd auf die von der Bahn behauptete Leistung in der Spitzenstunde kommt. Und es gibt schließlich die Dokumente zu der Personenstromanalyse , bei der nachweislich von 32 bis 35 Gleisbewegungen in der Spitzenstunde – und damit von einem Kapazitätsabbau – ausgegangen wird.
Bilanz: Damit ist S21 ein Schwarzbau. Nach § 11 Allgemeines Eisenbahn-Gesetz (AEG) muss eine „mehr als geringfügige“ Kapazitätsverringerung beantragt und vom Eisenbahnbundesamt genehmigt werden. Einen solchen Antrag gab es nie. Einem solchen Antrag könnte auch gar nicht stattgegeben werden, u.a. da S21 mit EU-Geldern in Höhe von 114 Millionen Euro kofinanziert wird. Die Begründung bei der Beantragung dieser Kofinanzierung lautete, der Bau von S21 habe eine „verdoppelte Leistungsfähigkeit“ des Bahnknotens Stuttgart zur Folge. So nebenbei gibt es hier noch den Tatbestand des Subventionsbetrugs. Übrigens: Vor wenigen Tagen wurde auf der Website der EU für die TEN-Projekte (tentea.ec.europa.eu) die Formulierung klammheimlich herausgenommen, wonach S21 und Neubaustrecke „are expected to double the stations capacity.“
Sehr geehrter Herr Kretschmann, sehr geehrter Herr Hermann, sehr geehrter Herr Kuhn,
es gibt für Sie – neben fehlendem Brandschutz, neben nicht genehmigter Grundwasserentnahme in doppelt so hoher Höhe wie geplant, neben einem nach europäischem Recht nicht zulässigen Gleisgefälle im Tiefbahnhof, neben noch nicht vorliegenden Planfeststellungen für wichtige Bauabschnitte usw. usf. – zumindest zwei handfeste, juristisch abgesicherte Möglichkeiten, S21 zu stoppen: der gesprengte Kostendeckel und der Kapazitätsabbau. Wir fordern Sie dazu auf, in Verhandlungen mit der DB AG zu treten mit dem Ziel, S21 definitiv zu stoppen, um gemäß Landesverfassung Artikel 45 weiteren “Schaden vom Volk abzuwehren“.
Übrigens: Was sollen die Menschen im Land von Politikern denken, die tatenlos zusehen, wie sich das Projekt S21 zu einem unsäglich großen Fass ohne Boden mit der Versenkung von immer neuen Steuermilliarden entwickelt – und man dann nach 12-jähriger Bauzeit einen Bahnhof mit deutlich geringerer Leistungsfähigkeit erhält? Lügenpack eben.
Mit freundlichen Oben-bleiben-Grüßen
Egon Hopfenzitz, 1981-1994 Leiter des Stuttgarter Hauptbahnhofs
Sabine Leidig, MdB, verkehrspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag
Volker Lösch, Regisseur
Walter Sittler, Schauspieler