„In der konkreten Situation war es geradezu unsere Pflicht, uns dem Abriss des Nordflügels entgegenzustellen“

Dokumentation: Heute morgen verhandelte das Amtsgericht Stuttgart nach einem Strafantrag der Deutschen Bahn AG über fünf Aktivisten der Stuttgarter Bürgerbewegung gegen das urbane und verkehrsindustrielle Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21). Den Aktivisten wurde durch die Staatsanwaltschaft Hausfriedensbruch zur Last gelegt, da sie am 25. August 2010 den beginnenden Abriss des leeren Nordflügels vom Stuttgarter Hauptbahnhof durch eine Besetzung des Daches vom leeren Gebäude um einundzwanzig Stunden verzögert hatten. Hier die Einlassung eines der Angeklagten.

Es gibt viele Gründe, die gegen das Projekt Stuttgart 21 sprechen und auf die hinzuweisen unser gutes Recht war und ist. Viele Probleme von S 21 haben sich seit unserer Dachbesetzung weiter konkretisiert. Allein die Kosten und die Leistungsfähigkeit des geplanten Tiefbahnhofs sind von den Projektsprechern hartnäckig und wider besseres Wissen verharmlosend falsch dargestellt worden.

Das Argument einer Leistungssteigerung des Tiefbahnhofs gegenüber dem jetzigen Kopfbahnhof diente gegenüber den Entscheidungsgremien und in der Öffentlichkeit immer als eine der entscheidenden Projekt-Rechtfertigungen. Und zwar wurde eine Steigerung der Leistungsfähigkeit um 30% behauptet. Nun hat das Verkehrsministerium BW dem Kopfbahnhof eine Leistungsfähigkeit von 54 Zügen in der Spitzenstunde amtlich attestiert. Dahingehend äussert sich auch der langjährige Bahnhofschef Egon Hopfenzitz.

Der Stresstest nach der Faktenschlichtung sprach von 49 Zügen für den Tiefbahnhof, also einer Zahl weit entfernt von einer Leistungssteigerung. Zudem wurden später bekannt, dass die Simulationssoftware für den Stresstest fehlerhaft war. In der Planfeststellung 1.1 vom 25.1.2005 wird jedoch auf Seite 204 ausgeführt, dass der neue Tiefbahnhof für 32 bis 35 Zugbelegungen in der Spitzenstunde ausgelegt ist. Auch der Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21 bezieht sich im § 3 ausdrücklich auf PFA 1.1., ebenso wie die Personenstromanalyse von 2009, auf die sich auch die Dimensionierung des Brandschutzes bezieht.

Diese Zahlen beIegen ,dass mit Stuttgart 21 die Kapazität der Eisenbahn-Infrastruktur in Wirklichkeit um 30% reduziert werden soll. Das ist nicht nur eine schamlose Täuschung der Öffentlichkeit sondern es handelt sich um einen signifikanten Rückbau, der nach dem AEG nicht genehmigungsfähig ist. Eine solche Genehmigung liegt nicht vor und sie wurde von der DB AG auch nie beantragt.

Mit diesem Nachweis ist die Geschäftsgrundlage des gesamten Projektes Stuttgart 21 entfallen und deshalb kann dieses Projekt kein übergeordnetes Interesse begründen, das es rechtfertigen würde, ein herausragendes Baudenkmal wie den Bonatz-Bau zu verstümmeln und zu zerstören. In der konkreten Situation des 25. 8. 2010 war es deswegen geradezu unsere Pflicht, uns dem Abriss des Nordflügels entgegenzustellen und die Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, dass hier ein nicht wiedergutzumachendes Unrecht geschieht.

Wir haben uns alle gefragt warum der staatliche Denkmalschutz sich hier nicht stärker eingemischt hat. Warum ist der Bonatz-Bau, der sich in öffentlichem Eigentum befindet, den undurchsichtigen Interessen der S21-Betreiber schutzlos ausgeliefert? Laut Aussage von Dr. Norbert Bongartz, Stuttgart, der 36 Jahre in der Denkmalpflege tätig war, hatte sich der Denkmalschutz sehr wohl zu Wort gemeldet. Ich zitiere:

“Bei Kulturdenkmalen von besonderer Bedeutung, insbesondere bei denen, die in öffentlichem Eigentum stehen, wurden aus dem konservatorischen Interesse strenge Maßstäbe angelegt, was in der Regel von den Eigentümern und in der Öffentlichkeit akzeptiert wird. Nun mußte ich erleben, dass bei einem der bedeutendsten Baudenkmale von Stuttgart alle diese anerkannten Regeln nicht eingehalten worden sind, ja mit Füßen getreten wurden, und dass keiner der Verantwortlichen irgendwelche Skrupel davor hatte, wesentliche Teile dieses besonders schützenswerten Bauwerks preiszugeben. Die warnende Stellungnahme der staatlichen Denkmalpflege wurde den Beteiligten am Wettbewerb unterschlagen. Beim Preisgericht wurden die Bedenken der anwesenden hochgestellten Landes-Konservatoren in den Wind geschlagen. Ich muss wohl nicht betonen, dass dieses Vorgehen ausgesprochen skandalös genannt werden kann.

Der preisgekrönte Entwurf von Architekt Ingenhoven sah und sieht die Amputation der beiden Seitenflügel des Bonatz-Bahnhofs vor. Auf den Appell des Präsidenten der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und des Präsidenten der Bauakademie des Bundes in Berlin zu einem denkmalgerechten Umbau des Hauptbahnhofs räumte Herr Ingenhofen ein, er könne beide Längsflügel durchaus in seine Planungen einbeziehen. Doch erklärte er sich ebenso wenig dazu bereit wie der bei diesem Gespräch anwesende Bahn-Chef Grube. Damit haben sie das in der deutschen Gesellschaft und in allen Bundesländern gesetzlich verankerte öffentliche Interesse an der Erhaltung bedeutender historischer Bauwerke verhöhnt. Aus meiner Sicht eines Fachmanns für den Denkmalschutz kommt das (von der Spitze unserer Landesregierung gedeckte) Verfahren, das mit den Zielen einer vernünftig betriebenen Denkmalpflege unvereinbar ist, einer Kulturbarbarei gleich.

Es haben sich hier das Land und die Stadt an einer der tragenden Säulen unserer Kulturgesellschaft versündigt. Die von „unseren höchsten Volksvertretern“ mitverantwortete Schändung unseres Kulturguts ist verwerflich. Im Denkmalschutzgesetz des Landes (das hier nicht zur Anwendung kam) können in solchen Fällen ein sofortiger Baustopp, hohe Bußgelder und eine Planänderung verlangt werden.”

Der Bonatz-Bau hat aber nicht nur einen schützenswerten architekturgeschichtlichen Aspekt, sondern er steht darüber hinaus an einer besonderen Stelle in der Stadtgeschichte und in einer Reihe mit Altem und Neuem Schloß, mit der Stiftskirche und dem Fernsehturm beispielsweise. Diese Bauten stehen und symbolisieren jeweils eine ganze Epoche. Das Alte Schloß steht für den Stuttgarter Gründungsmythos an sich, das Wasserschloß im Stutengarten. Niemand würde auf die Idee kommen, hier aus welchen Gründen auch immer Teile abzureissen. Die Stiftskirche
symbolisiert die geistige Entwicklung in der Zeit der Reformation, die für Stuttgart bis heute prägend ist. Der Fernsehturm steht wiederum für die Aufbruchsstimmung nach dem 2. Weltkrieg und das Wirtschaftswunder.

Der Bonatz-Bahnhof ist das Monument der Entwicklung Stuttgarts hin zu einer Großstadt. Erst die Eisenbahn hat Stuttgart aus seinem Verkehrsschatten befreit und die Grundlage für die weitere wirtschaftliche Entwicklung gelegt.
Die Bedeutung des Hauptbahnhofs ist nicht nur objektiv gegeben, sondern sie ist ein Bestandteil des kollektiven Bewusstseins unserer Stadt. Die Vehemenz des Protestes gegen den Abriss des Nordflügels erklärt sich eben auch aus diesem Umstand. Viele Mitbürger haben zu dem Zeitpunkt erst begriffen, dass es wirklich ernst wird und dass mehr bedroht ist als nur der Bahnhof.

Eine Randbemerkung noch zum Abrissbeginn: Wolfgang Drexler von der SPD, damals noch Projektsprecher, hatte im Vorfeld gesagt, der Nordflügel werde Stein um Stein abgetragen. Das hatte er wohl so formuliert, um die Gemüter der protestierenden Bürger zu beruhigen. Am 25. August 2010 mussten wir nun zur Kenntnis nehmen, dass der Abrissbagger wie zum Hohn auf Drexlers Worte die Fassade und mit ihr die gediegene Arbeit der Steinmetzen zerstörte. Bemerkenswert war auch zu sehen, mit welcher unglaublicher Polizeipräsenz dieser Abriss durchgesetzt wurde. Ging es hier überhaupt noch um eine Baumaßnahme, oder war das eine massive Machtdemonstration?

Die Verachtung und Arroganz, die aus der Art und Weise spricht , wie dieser Abriss begonnen wurde, zieht sich auch weiter durch alle Baumaßnahmen und angeblichen Baumaßnahmen für Stuttgart 21. Und auch gegen diese Arroganz protestierten wir.

Angesichts der vorgetragenen Gründe fragen wir uns, wie man auf die Idee kommen kann, unsere Aktion als einen Hausfriedensbruch zu werten. Wir demonstrierten auf dem Dach eines Gebäudes, das bereits leer und zum Abbruch freigegeben war. Wir haben dadurch keine individuellen bürgerlichen Rechte verletzt. Hier gab es keinen „Hausfrieden“ mehr, der mit polizeilichen Mitteln zu verteidigen gewesen wäre.

Unsere Aktion erfüllt nach meiner / unserer Auffassung deshalb nicht den Tatbestand des Hausfriedensbruches, sondern war eine Demonstration mit einem durchaus beabsichtigten Symbolcharakter, weswegen wir sie zugegebenermaßen an einen sehr prominenten Ort verlegt hatten. Das Verbrechen, das hier im Fokus stehen sollte, ist nach unserer Überzeugung der Abriss des Nordflügels selber. Diejenigen, die die Zerstörung des herausragenden Stuttgarter Baudenkmals ermöglicht haben, sollten hier zur Verantwortung gezogen werden.

Wir haben uns im Rahmen unserer Demonstrations-Rechte engagiert und dabei auf etliche Missstände im Zusammenhang mit Stuttgart 21 hingewiesen. Sie werden es noch sehr bald einsehen müssen, wie berechtigt unser Protest gegen das S21-Projekt war und immer noch ist.

Wir fordern Sie daher auf, uns hier freizuprechen.

Nachtrag: das Amtsgericht Stuttgart stellte heute das Verfahren gegen alle Angeklagten ein.