Es war im Wonnemonat November. Die Geschichte kippte wie ein Eisberg, dessen Schwerpunkt sich plötzlich verlagert.
Am Abend des 9. November 1989 waren die achtziger Jahre frühvollendet und die Utopiendämmerung eines verglühenden Staates trat in ihre letzte Phase ein. Ihr Finale sollte der 3. Oktober 1990 und eine Wiedervereinigung sein. Die elf Monate zwischen diesen beiden deutschen Daten waren keinem Jahrzehnt zugehörig. In ihnen ballten sich die neunziger Jahre erst einmal zusammen, ein Jahrzehnt, auf dessen Ereignisfeld sich die Wesensverschiebungen zweier Systeme abspielten. Das eine ging endlich im Zuge der ach so friedlichen Revolution unter, das andere triumphierte und konnte sich in der Postapokalypse des anderen auf unbarmherzige Weise verwirklichen.
Ich ging auf Um- und auf Abwegen durch die Neunziger, in meiner Erinnerung wirken sie wie einzelne Zeitzonen, Jahre ohne Zusammenhang. Am Morgen des 4. Oktober 1990 fuhr ich in die Mitte Berlins, dahin wo sie die Perepherie Kreuzbergs ist, um meinen Freund NATO zu besuchen. Wir hatten uns etwa vier Jahre nicht gesehen und unser Wiedersehen sollte nun ausgerechnet mit der, nun ja, Wiedervereinigung zusammenfallen. Jedenfalls fast zeitgleich mit einer neuen Zeitrechnung, nicht der ersten in diesem Land, welche nun bei der Stunde Null zum x-ten Mal ansprang. NATO hatte den Tag des DDR-Infarkts bei den Sandinisten in Nicaragua verbracht, wo er ungeachtet der politischen Strömungswechsel in Europa noch beinahe ein Jahr blieb. Ich weckte ihn und seine Freundin. Sie waren am Vorabend pünktlich mit Beginn des Feuerwerks am Brandenburger Tor ins Bett gegangen, in einem besetzten Westberliner Haus war Vereinigung etwas zwischen zwei Menschen, nicht aber zwischen zwei Staaten.
Ich kannte NATO aus der Ostberliner Punkszene. Er war Mitglied des Warschauer Pakt, einer Band, die sich nach Warsaw, den späteren Joy Division benannte. Fortan führte er konsequenterweise das Pseudonym NATO, was ihn allerdings nicht vor der Einberufung zur NVA bewahrte. Es war der Horror und er war größer als die Angst vor einem der DDR-Gefängnisse. Er versuchte auf abenteuerliche Weise aus der DDR zu fliehen, was durch den aufmerksamen Freund und Sänger seiner Band gründlich mißlang, denn dieser sollte sich später als ein falscher Freund bzw. als ein Spitzel entpuppen. Mit frischen 18 bekam er wegen „versuchter Republikflucht“ eineinhalb Jahre Haft zugesprochen, nach zwölf Monaten wurde er aus dem Gefängnis in den Westen verkauft. Seit drei Jahren lebte er nun in Westberlin, seit kurzem in der unteren Etage eines besetzten Hauses, das sich wenig anheimelnd „Wohnprojekt“ nannte.
An diesem Morgen fand sich nach und nach der Rest der links-autonomen Hausgemeinschaft in seiner Besetzerbutze ein. Wenn ich nicht ignoriert wurde, so wurde ich als Ostler in einem Pseudodialekt angesprochen, der wohl auf sächsisch hinauslaufen sollte. Es herrschte derselbe unaufgeklärte Dünkel wie man ihn später etwa in Treuhandkreisen vermuten durfte. Natürlich fiel mir nicht ein, meinen alten Kumpel mit bürgerlichen Namen anzusprechen. Als ich ihn nun ein ums andere Mal NATO nannte, ohne mir auch nur darüber Gedanken zu machen, daß ich mich im Hochparterre des linken Underground befand, da wurden die ersten stutzig. Ich überließ ihm die Aufgabe, seinen ungläubigen Freunden zu enthüllen, daß er einst hieß wie er hieß. Sie hatten keine Ahnung. Als dann der erste kombinierte, daß wir uns aus Ostberlin kannten und er demzufolge Ostler wäre, da wurde es still im Raum. Es war nicht ganz klar, galt die allgemeine Betroffeneit nun seinem politisch fragwürdigen Namen oder seiner DDR-Vergangenheit. Auch nicht als sich dann eine Gejohle Bahn brach, durchsetzt mit Lachkrämpfen und Häme, welche zwei Menschen in einige Verlegenheit stürtzte, NATO – und seine Freundin. Sie wußte von nichts, ich hatte ihn dekonspiriert, ohne es zu ahnen.
NATO nahm also ein zweites Mal seinen Spitznamen an. In der Punkszene Ostberlins war er nie Hardcore, eher ein etwas ängstlicher, dennoch charmanter Satellit der Szene, vor deren Härte er sich mitunter mehr zu fürchten schien, als vor den Schergen der Staatssicherheit. Für mich war es daher bemerkenswert, ihn in Westberlin als ein radikales und festeingetragenes Mitglied einer autonomen Szene zu erleben, die, inklusive ihrer weiblichen Fraktion, nicht lange fackelte, wenn „das System“ mal wieder brennen sollte. Es war für mich zunächst eine interessante Nachricht zu erfahren (nicht zu erleben!), daß diese Gewalt-Kooperative Nazis suchte und fand. NATO erwies sich in seinen Berichten von Nazi-Strafexpeditionen als abgeklärt und glaubwürdig. Für mich war das insofern relevant, da die Presse in den frühen Neunzigern ein vollkommen anderes Bild, nämlich das des Linken als Opfer vermittelte. Ich wurde Zeuge eines jener Treffen, die später nur noch als dem der Satire anheim gefallenen Begriff des Plenums zugeordnet wurden. Auf diesem Plenum erlebte ich Aktivisten von politischer Einfalt, gepaart mit einer tatsächlichen Zivilcourage. Es wurde über eine Fahrt ins Rostocker Lichtenhagen als Reaktion auf das dortige Pogrom gegen Asylbewerber und Vietnamesen debattiert. Am Wochenende darauf machten sich einige hundert Autonome und Linke auf nach Lichtenhagen. Sie demonstrierten dort mitten im Feindesland und jagten anschließend ihre vermeintlichen Jäger.
Ich selbst bin mehrfach von Nazis, Nazi-Glatzen und anderen Cretins angefallen worden. Jedesmal entkam ich nur dadurch, daß ich entschlossen an ihnen vorbei, durch sie hindurch oder am besten vor ihnen weg die Flucht antrat. Das die Flucht auch Mut erforderte weiß nur, wer sich, bei einer Übermacht von z.B. fünf Faschos, überhaupt noch befähigt sah, handeln zu können. Daß andere den Nazis entgegenliefen, das war mir ein völlig neues Modell. Ich hatte in Punktagen viel eingesteckt, war immer wieder aufgestanden und hatte auch mal ausgeteilt. Je nach Sachlage. Und ich war niemand, der Gewalt auf eine revolutionär verstandene Weise romantisierte. Andererseits romantisierte ich auch nicht Gewaltlosigkeit. Die Parole „keine Gewalt“ hatte mir immer etwas von einer Petition, die nur Gutmenschen unterschrieben. Sie ging mir auf den Zünder, der endlich losgehen sollte. Doch als es soweit war merkte ich, daß Radikalität nicht meine Droge war.
In der Szene um NATO blieb ich ein Fremder, nun war ich der Satellit. Dafür sorgte ich allerdings auch selbst durch einen Akt größter Unbedarftheit.
Wir waren in NATOS Wohnung versammelt, dem Pentagon des besetzten Hauses. Vorangegangen war einer der obligatorischen Nazi-Überfälle, ausgerechnet als NATO dafür warb, ich solle bei ihnen einziehen. Mit größter Routine wurde in Sekundenschnelle der Eingang des Hauses und die unteren Fenster mit Gittern verrammelt, die immer stand by waren. Die Nazis griffen zu Hauf das Haus an und brüllten ihre trostlosen Parolen. Die Besetzer gingen in den politischen Diskurs, indem sie aus den Fenstern mit Unrat warfen und mit Zwillen schossen. Steine boten sich nicht an, sie flogen nur zurück. Den Hintergrund der Schlacht bildeten eine Reihe von etwa fünfstöckigen Neubauten, Wohnheimen von Vietnamesen. Nach Lichtenhagen fühlten sie sich durch den Naziaufmarsch in ihrer Nähe mehr denn je bedroht und handelten direkt. Die Eingangstüren ihrer Plattenbauten flogen auf, sie preschten zu Dutzenden heraus und schwangen Samuraischwerter. Den Nazis, und das waren sicher keine leichten Jungs, schien diese Art des Kampfes zu exotisch. Ohne nur ansatzweise Haltung zu wahren spritzten sie auseinander und waren nicht mehr gesehen. Der Spaß auf den Rängen war entsprechend groß.
Auf der Straße blieb ein Ghettoblaster zurück, auch wenn dieser sich kulturgeschichtlich mit Nazis nicht in Übereinstimmung bringen ließ. Aber es soll ja auch Nazi-Hip-Hop geben. Diesmal aber hatten sie ihn angeschleppt, um die Linken mit Nazi-Rock zu beglücken. Ein Teil der Verteidiger konnte nicht anders und wollte hören, was ihnen durch das Eingreifen der vietnamesischen Nachbarn vorenthalten wurde. Die Überraschung hielt sich in Grenzen, es waren „Lieder“ mit „Texten“ von bescheidener Komplexität. Man war eher erheitert, es wurde noch ein wenig gerätselt, ob es sich bei den Bands nun um Endlösung oder Endstufe handelte, als in der Diskussion plötzlich ein Name fiel, dessen Klang wie aus der Kreidezeit zu mir durchdrang. Er hatte sich in tieferen Schichten abgelagert und tauchte nun auf aus dem Sediment meiner Erinnerung – Lunikoff! In die gelassene Stimmung hinein meinte ich, den würde ich kennen.
Die Wirkung stellte sich unmittelbar ein, es wurde wieder einmal sehr ruhig. NATO sah mich mit einer Verzweiflung an, als hätte er in der Familie für mich gebürgt. Ich empfand einen heftigen Ausschlag auf der nach unten offenen Peinlichkeitsskala, es war offensichtlich, dies war der Augenblick für eine Erklärung. Mir war jedoch nicht klar welche Wirkstoffe dieser Name enthielt, nur daß sie wohl nicht für gute Laune sorgten. Im vollen Bewußtsein dessen, daß die Situation nicht zu retten war, stellte ich fest, der Name stünde im Osten für das, was im Westen der Smirnoff wäre. Schweigen. Von da an besuchte NATO mich, das schien unverfänglicher.
Wir pendelten zwischen den Systemen, von Konzert zu Konzert, von illegalen Clubs zu illegalen Bars. Sie wurden Montags- oder Dienstagsbar geheißen, je nachdem an welchem Tag der Woche sie in einer Toreinfahrt geöffnet hatten. Die Ordnung war eine Unordnung und tarnte sich mit Gesetzen, die nicht mehr in Stein gemeißelt, sondern in den Sand geschrieben waren. Das Machbare galt es vom Unmöglichen zu unterscheiden, wobei das Unmögliche zumeist machbar war. Was aber unmöglich blieb war meine Bekanntschaft mit Lunikoff. Natürlich wollte NATO wissen, was ich mit „Luni“ zu schaffen hätte. Ich erfuhr von ihm, daß Lunikoff sozusagen der Heiland unter den Nazis und das Organ, weil Sänger könne man schlecht sagen, der Nazirockkombo Landser wäre. Es war schwer zu glauben – Lunikoff als Sänger von Landser…
Ich kannte die Band nicht vom Hören, aber vom Hörensagen. Hip Hop und Techno waren als Subkulturen bereits halbtot und marodierten als Karikatur ihrer selbst durch die Neunziger. Irgendwann ertappte ich mich bei der Einsicht, daß Nazirock vielleicht der letzte Underground wäre und auch deshalb so magisch auf junge Existenzen wirkte. Der Gedanke, daß dies die Musik von Pubertierenden sei, deren Botschaften sie das ganze Leben begleiten würden, wie mich zum Beispiel die Texte der Ton Steine Scherben oder von Abwärts, diese Vorstellung war beängstigend und einfach deprimierend. Lunikoff war also ein Sprachrohr dessen, was mich mitunter an Emigration denken ließ, wenn wieder ein Rumäne, Kurde oder Mosambikaner zu Tode gehetzt und geprügelt wurde. Nicht abgesehen von den Begegnungen persönlicher Art mit Radikalen brauner Colloeur. Deutschland mußte ja nicht gleich sterben, aber es gab Zeiten, diese Zeiten, da wollte ich nicht mehr in diesem Land leben.
Ich bin Lunikoff das erste Mal am 1. Mai 1982 begegnet. Wir lernten beide in derselben Berufsschule, er Setzer, ich Buchbinder. Wie die anderen Lehrlinge auch, marschierten wir als Teil der alljährlichen Mai-Demonstration. Weshalb ich bei dieser Demo 1982 antanzte, in einem Jahr, in dem ich der DDR eigentlich schon gekündigt hatte, das ist mir heute ein Rätsel. Zudem hatte ich mit meinem Lehrmeister eine Intimfede zu laufen. Er bekannte sich offen als Stasimitarbeiter und lief in seiner Freizeit in Zivil Streife an der Mauer auf Höhe der Leipziger Straße. Ich haßte ihn, er haßte mich. Er war kein Mann, der mir Respekt abnötigte, es war mir ein stetes Vergnügen ihn zu provozieren oder vor anderen an die Wand zu reden. Oder aber ich überhörte ihn gnädig als er mir vor dem versammelten Kollektiv verbieten wollte, meine Badges zu tragen. Sie blieben Teil meines Punk-Ornats, er hatte es nicht leicht mit mir. Am Kampftag selbst trug ich einen Dead-Kennedys-Badge, auf ihm den Titel ihrer Hymne „Nazi Punks Fuck Off“.
Ein Kerl, der in der Formation neben mir lief sprach mich darauf an. Ich war ein glühender Fan der Band, meine Laudation fiel entsprechend aus. Mit dem vollen Einverständnis meines Mitläufers rechnend, war ich höchst verblüfft als dieser meine Begeisterung nicht rückhaltlos teilte, die unter aufgeklärten Jungpunks Konsens war. Ja, die Musik wäre schon geil, er würde die Band aber Scheiße finden, weil sie links sei. Ich sehe uns noch auf der Karl-Marx-Allee, kurz hinter dem Straußberger Platz, nicht weit von der Tribüne entfernt, von welcher die Oberhirten ihr Nutzvieh durchwinkten. Mir ist nicht mehr in Erinnerung, ob wir die Tribüne passierten, wahrscheinlich ist, wir haben an ihr miteinander vorbeigeredet. Dann aber müßte ungefähr auf der Höhe Erich Honeckers Lunikoffs Bekenntnis gekommen sein, er sei Nationalsozialist. Es war wirklich ein außergewöhnlicher Ort und Moment, um seine antikommunistische Gesinnung zu offenbaren. So lernte ich Lunikoff kennen.
NATO fragte ganz zu Recht weshalb ich mich ab diesem Moment überhaupt noch mit ihm abgegeben hätte. Tatsache ist, daß wir uns von da an öfter in der öligen Kantine der Berufsschule „Rudi Arndt“ unterhielten. Eigentlich drehte es sich beinahe immer um Punkrock, vorzugsweise um die Cockney Rejects, die wir beide großartig fanden. Ab und an gab er krasse Geschichten von seiner Gang aus Baumschulenweg zum Besten. Haften blieb mir wie er mich einmal, leicht angeregt, aber in äußerst sachlichem Ton, darüber in Kenntnis setzte, sie würden in einem Park völlig ahnungslosen Leuten auflauern und sie krankenhausreif schlagen. Ich war irritiert, hielt ihn aber nicht für authentisch. So verhält es sich wohl mit der braunen Gefahr, man nimmt sie im Moment ihres Heraufdämmerns nicht ernst. Lunikoff war seltsam und das Seltsame zog mich an. Sollte mir das Böse tatsächlich ein erstes Mal in der Gestalt Lunikoffs begegnet sein? Er wirkte ja alles andere als verführerisch. Das Böse in seiner Person hatte lange, dünne, blonde Haare. Es war von der blassen Sorte, nicht besonders kräftig und trug tatsächlich eine runde und randlose Brille mit dicken Gläsern, eher das Intellektuellenmodell. Lunikoff war gewiß kein Mädchenschwarm. Soweit ich weiß war er an der Berufsschule ein ausgesprochener Einzelgänger. Niemand kannte ihn, niemand achtete auf ihn, er fiel nicht auf. Aber irgendwann ein Badge an seiner Jacke.
Herzog, ein Punk an der Schule, kam zu mir, ich stand mit einem anderen aus unserer Fraktion auf dem Hof. Herzogs Mutter war Polin, und wenn ich mich recht entsinne, so nannte er jüdische Anteile sein eigen. Er war in Rage. Oben in der Kantine wäre ein Typ mit einem selbstgemachten Badge, auf dem „Paki bashing“ stand. Wir sollten hoch gehen und ihn „ruppen“. Ich wußte nicht, was der Badge der Welt mitzuteilen hatte, Herzog klärte mich auf. In diesem Moment wußte, daß es sich nur um Lunikoff handeln konnte und mir wurde klar, daß der Kerl authentisch war. Ich sah wie ein Typ sich verwirklichte. Wir liefen das Treppenhaus hoch zur Kantine. Mir war nicht wohl bei der Sache. Ich muß mir heute eingestehen, daß ich durchaus Sympathie für die Person als Außenseiter empfand, wenn auch nicht für ihr Psychogramm. Diese Trennung funktioniert wohl nur, wenn man siebzehn ist und auch Messing auf die Goldwaage legt. Herzog stellte ihn sofort. Zunächst zur Rede. Der Delinquent war eingeschüchtert, versuchte sich rauszureden. Und er hatte ein Argument! „Paki bashing“ zitiere eine Zeile aus einem Song der Cockney Rejects.
Das machte die Sache schwierig. Die Songs der Cockneys waren Kult und gehörten in Lunikoffs Punkkanon ebenso wie in meinen und in den Herzogs. Letzterer war ein Mensch von einiger Eloquenz, aber in diesem Moment nicht argumentativ drauf. Er ließ sich nicht beirren und verlangte, daß Lunikoff den Badge selbst abnahm, sonst würden wir das erledigen. Es war eine seltsame Situation, ich trug selber Badges, die ich gegen einen Stasi-Lehrmeister als Insignien meiner Gesinnung behauptet hatte. Nun vertrat ich Herzogs Forderung, daß sich jemand anderes seines „Abzeichens“ entledigte. Ich fühlte mich in die eigenen Codes verstrickt. Lunikoff war der Rassist, der er war und ist, aber die Demütigung konnte ich gut nachfühlen. Er wußte, daß es ernst für ihn wurde. Langsam und umständlich machte er den Badge los und händigte ihn Herzog aus. Der versenkte ihn in der Tonne mit den Essensresten.
Von diesem Tag an wechselten Lunikoff und ich kein Wort mehr miteinander. Ich checkte vollends in die Punkszene ein und aus dem Staatszirkus aus. Ich muß seinen Namen in meinem Register schnell ausgetragen haben. Bis er mir 1992 wieder begegnete. Lunikoff wirkte auf mich weder sympathisch noch charismatisch. Seine Gestalt war in einer farblosen Weise zwar auffällig, blond nicht in einem arischen Sinne, sondern eher durch eine leichte Pigmentstörung, stand aber dennoch in seltsamen Widerspruch zu seiner braunen Gesinnung. Nazis wie er haben mir die neunziger Jahre vergiftet. Es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet, außerhalb vom Prenzlauer Berg und von Mitte konnte man sich im Osten Berlins kaum frei bewegen, in den Vororten und in Brandenburg schon gar nicht. Auch nicht im Friedrichshain, der wurde erst später zugänglich.
Der Vergleich mag in mancher Hinsicht hinken, doch die erste Hälfte der neunziger Jahre war in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit der Weimarer Republik. Nicht, was die Exekutive anging, aber was die kulturelle und vulgär-politische Situation betraf. Die beinahe allgegenwärtige Bedrohung durch Faschos war gepaart mit einem Hedonismus, der in anderen Jahrzehnten seinesgleichen suchte. Ebenso wie das Tattoo wurden Drogen zu einem Massenphänomen. Symptomatisch für diese Jahre des Übergangs wer-weiß-wohin war der Prozeß, den NATO durchmachte. Durch ihn lernte ich Kokain kennen. Er bot mir immer wieder welches zum Kauf an und es war klar, daß er mich hatte anfixen wollen. Ich lehnte schließlich dankend ab. Ebenso die Pistole, die er mir für fünfhundert Mark verkaufen wollte, nicht registriert mit ausreichend Munition.
Er verließ das besetzte Haus und initierte in Ostberlin, gemeinsam mit zwei berüchtigten Bernauer Expunks, das Pilotenspiel. Er, der gegen Hierarchien in der Gesellschaft buchstäblich zu Felde gezogen war, inszenierte nun Überbau und Unterbau als Spiel. Die in Geschäften ahnungslosen Neudeutschen wurden in einen Kampf um den Betrug an anderen gehetzt, der selten im oberen Ende der Pyramide gipfelte. Als einer der Initiatoren ging NATO zweimal durch das Spiel und verdiente dann noch einmal an denen, die sich verführen ließen, in ein neues, aber gleiches Spiel bei geringerem Einsatz zu investieren. Natürlich in der Hoffnung wenigstens ihren ersten Einsatz zu retten. Auch diese Variante zog er zweimal durch, indem er den zerstrittenen und gedemütigten Rest endgültig ruinierte.
Das Pilotenspiel im Osten moderierte in seiner Asozialität den innerdeutschen Kolonialismus der kommenden Jahre an. NATO gönnte sich einiges, unter anderem einen goldfarbenen Mercedes. Es war nicht irgendeiner, in den späten Achtzigern fuhr ihn der Ostberliner Rechtsanwalt Vogel. Jener, der als Parlamentär ganze Gefängnispopulationen aus dem Osten in den Westen umtopfte. Er hatte auch für den Freikauf von NATO gesorgt, der sich jedesmal ausschüttete, wenn er erzählte, daß er das goldene Auto dessen fahren würde, der ihn in den goldenen Westen holte. Er stieg 1995 für einige Zeit zu einem der ersten Distriktdealer Berlins auf. Sein Haß auf Nazis blieb. Aber der Kampf war nun das reinste Vergnügen und das Präludium zur Party.
Ab und an setzte er sich mit zwei oder drei der alten Punkgenossen in seinen goldenen Benz und fuhr Freitag- oder Samstag-Nacht nach Marzahn, Hellersdorf oder Hohenschönhausen. Immer dorthin, wo die Nazidichte Beute versprach. Erspähten sie einige ihrer Opfer, es durften gern auch mehr als drei sein, vor einer Großraumdisko oder an einer Bushaltestelle, dann bremsten sie mit quietschenden Reifen, flogen aus dem Auto auf die fassungslosen Glatzen zu, vermöbelten sie kurz und effizient, um sich dann in einem ihrer eigenen Clubs auf ein paar Bierchen und ein paar Näschen niederzulassen. Nach einer dieser Prügeltourneen durch die Vorstädte mit anschließender Zechtour hielten es seine betrunkenen und drogengesättigten Freunde für einen tollen Spaß, ihren sturzbetrunkenen Freund NATO auf Straßenbahngleise zu legen. Die Straßenbahn kam, es war nicht böse gemeint, aber von Stund an fehlten ihm beide Beine.
NATO amüsierte sich weiter blendend und blieb ein Kind seiner Zeit, eines Jahrzehnts, das in Berlin einer konstitutionellen Anarchie glich. Die Ämter und Institutionen hatten die Sache noch nicht im Griff, es ging drunter und drüber. Was ihnen anarchisch und ungelenkt schien, wurde zunächst geduldet, immer mit dem Selbstbewußtsein einer bürgerlichen Gesellschaft, die viel zu lang existierte, um von einer Phase tektonischer Verschiebungen in ihrem Inneren langfristig erschüttert zu sein. Dieser Zustand fand sich in allem wieder – in den Menschen, in der Stadt, die nur noch Baugrund war, übersät von Baustellen, ein Parkour gesperrter Straßen. Der infrastrukturelle Notstand war das äußere Abbild des mentalen und kulturellen Chaos in der Stadt.
Dieses Jahrzehnt war eine Schleuse. Es endete mit dem Hype des Milleniums, ein Wort, das 1999 zu einem medialen Mantra avancierte, bei dem ich nur noch weghörte, wenn ich täglich von ihm las. Als es dann kam begnügten sich viele Zeugen des 20. Jahrhunderts an der Schwelle zum 21. wohl damit, nicht einhundert Jahren, sondern einem Jahrzehnt, den Neunzigern, hinterher zu winken. Und als wäre er gesandt durch eine höherer Gewalt, senkte sich gegen 22 Uhr, von Westen kommend, ein zäher, gelber Dunst, ein schwerer Nebel, ausgerechnet zur Jahrtausendwende über Berlin. Er schob sich wie ein klammer Vorhang vor den Lichtdom an der Siegessäule, der diesem Datum eine fragwürdige Weihe verlieh, so jedoch kaum sichtbar war. Zur Stunde Null des neuen Jahrtausends sahen die Menschen die Raketen als ein vages Glimmen, die Böller implodierten, das Feuerwerk klang wie unter Wasser.
Hinter diesem Nebel verschwand eine Dekade, an welche ich mich nur in Bruchstücken erinnere. Ein zerschlagenes Kaleidoskop, dessen Splitter kein Muster mehr ergeben.
Dieser Text ist Auszug aus dem im Verlag “Rotbuch” 2011 erschienenen Buch “Kaltland” (Herausgeber: Karsten Krampitz, Markus Liske, Manja Präkels). Der Autor und Ostberliner Künstler Henryk Gericke betreibt heute die Staatsgalerie Prenzlauer Berg.