„Es gibt ein neues gesellschaftliches Klima in diesem Land und in dieser Stadt“
Dokumentation: Die Rede von Schauspieler, Regisseur und Theatermacher Klaus Hemmerle auf der heutigen 157. Montagsdemonstration der Stuttgarter Bürgerbewegung gegen das urbane und verkehrsindustrielle Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21).
Liebe Freunde der Wahrheit und des gesunden Menschenverstands, liebe hartnäckige, unverdrossene und unverfrorene Montagsdemonstranten,
ich erinnere ich mich an meine erste Montagsdemo an einem kalten Frühlingstag vor fast drei Jahren, auf einem kleinen Holzpodest drüben vor dem Nordflügel, der jetzt abgerissen ist. Ich erinnere mich an die Euphorie, an das ungläubige Staunen über das nicht wiederzuerkennende, das ‚andere Stuttgart’. Sie alle, die heute wieder oder immer noch hier sind, haben ihre eigenen persönlichen Eindrücke gespeichert von dem Wechselbad der Gefühle, das wir in den vergangenen 3 Jahren durchlaufen haben: von ohnmächtigem Zorn hin zu der Hoffnung, so viele zu sein, tatsächlich etwas bewirken zu können; von Freude über die Kreativität des Protestes bis zu fassungsloser Empörung, als die Staatsmacht die Eskalation suchte; von Verunsicherung und Enttäuschung, als sich bei Schlichtung und Stresstest erwies, wie raffiniert und zu allem entschlossen die Hydra ist, mit der man sich da angelegt hat, bis zur Resignation nach der von vornherein chancenlosen Volksabstimmung, der darauf folgenden Schleifung des Bahnhofsgebäudes und der Verwüstung des Schlossgartens.
Eine Zeitlang war es umstritten, wie wichtig es ist, diese Montagsdemonstrationen fortzusetzen. Es war schwer, daran zu glauben, dass diese Form des Protestes noch einen Sinn hat. Ich denke an all das zurück mit großem Respekt vor den vielen von Ihnen, die unverdrossen und hartnäckig jeden Montag oben geblieben sind, auch in Zeiten, als alles aussichtslos schien! Tatsache ist: die Montagsdemo lebt – und vielleicht kann man sogar behaupten: nie war sie so wertvoll wie heute! Denn auf einmal hat man den Eindruck: wenn S21 überhaupt noch zu stoppen ist, dann jetzt.
Es liegt was in der Luft…
Viel ist erreicht worden in den letzten drei Jahren: es hat sich bei vielen Menschen ein neues kritisches Bewusstsein gebildet gegenüber Politik und Wirtschaft, weit über Stuttgart und Baden-Württemberg hinaus. Man hat den Eindruck, auch Journalisten fragen wieder hartnäckiger nach bei unangenehmen Themen, immer mehr Skandale kommen ans Licht. Es gibt ein neues gesellschaftliches Klima in diesem Land und in dieser Stadt. Ohne die Bürgerbewegung gegen S21, davon bin ich überzeugt, gäbe es keinen grünen Ministerpräsidenten in diesem Land und auch keinen grünen OB in dieser Stadt. Das sollten die Grünen nie vergessen. Und wir unterstützen sie auch, indem wir ihnen helfen, sich immer wieder daran zu erinnern!
Die CDU ist abgewählt und die Deutsche Bahn sieht sich einem grünen Ministerpräsidenten, einem grünen Verkehrsminister und jetzt auch einem grünen Oberbürgermeister gegenüber. Was für ein riesiger Fortschritt im Vergleich zu vor drei Jahren! Einerseits… Um so paradoxer ist, dass in Bezug auf das Eigentliche, die Verhinderung dieses wahnsinnigen Bahnhofprojektes, noch gar nichts erreicht ist. Dort heißt es immer noch: business as usual…
Doch im Dezember 2012 geschieht Unfassbares: gemäß dem Satz von George Orwell, dass in Zeiten, da Lüge und Täuschung allgegenwärtig sind, schon das Aussprechen der Wahrheit einen revolutionären Akt darstellt, erweist sich Herr Kefer als Revolutionär: er packt neue Zahlen auf den Tisch. Zahlen die man hier auf der Montagsdemo seit Jahren kennt, die bei der Schlichtung höhnisch zurückgewiesen und dementiert worden waren. Es ist ein trauriger Triumph, zu erkennen: die Gegner und Kritiker dieses Projektes haben immer wieder recht gehabt!
Zur gleichen Zeit schlägt ganz Deutschland die Hände über dem Kopf zusammen wegen dem unabsehbar peinlichen Desaster, das der Klüngel aus Politik, Baulöwen und Wirtschaftslobby beim Bau des Berliner Hauptstadtflughafens angerichtet hat. Ganz Stuttgart staunt über das Debakel der missratenen Sanierung des Schauspielhauses der Staatstheater. Und die Bahn fügt ihren wöchentlichen Hiobsbotschaften von vergammelter Infrastruktur, Forderungen nach noch mehr Subvention, Gleisausfällen, Preiserhöhungen, wachsender Unpünktlichkeit, Pleiten, Pfusch und Pannen dreist den Ausblick auf ein sich ganz plötzlich um ein Drittel verteuerndes Monsterprojekt hinzu, mit der Versicherung, es lohne sich zwar fast nicht mehr, aber trotzdem müsse man natürlich weiterbauen. Man würde das auch selber bezahlen. Mit was für Geld bitte? Unserem Geld! Der hochverschuldete Staatskonzern generiert seine Überschüsse aus Subventionen und Preiserhöhungen.
Was geschieht daraufhin? Nichts!
Aufsichtsratssitzung – verschoben. Lenkungskreis – verschoben. Ein besonders eifriger CDU-Stadtrat erklärt in vorauseilendem Gehorsam, die CDU würde sich auch heute noch einmal für S21 aussprechen. Ja, vielen Dank, aber jammert nicht wieder, wenn Ihr keine Wahlen mehr gewinnt… Der Landtagspräsident erklärt im Fernsehen, jetzt sei die Bahn aber mal rechenschaftspflichtig und müsse ‚Kostentransparenz herstellen’. Toll, da kommt der drauf, nachdem hier seit drei Jahren dafür demonstriert wird! Sogar der Herr Schmiedel, in welcher Partei ist der gleich noch mal?, sagt, er wolle nicht mehr ständig ‚neuen unerfreulichen Entwicklungen hinterherhecheln.’ Vielleicht sollte er mal die Laufrichtung ändern? Und unser Ministerpräsident hat jetzt eine Vertrauenskrise mit der Bahn… Die haben wir hier doch seit Jahren, ich hab sie genau genommen, seit ich zum ersten Mal von diesem unsinnigen Projekt gehört habe!
Warum gibt es bei so vielen Politikern kein Bewusstsein dafür, dass sie, unsere Vertreter, stellvertretend für uns alle von der Bahn und ihren Komplizen vorgeführt, missachtet und für dumm verkauft werden? Aber: Niemand tritt zurück. Niemand schämt sich. Niemand entschuldigt sich. Niemand sieht ein, dass er sich getäuscht hat. Niemand ändert seine Haltung. Noch nicht. Das scheint das Schwerste zu sein: einen Fehler zuzugeben. Oder gar zu korrigieren. Einem ehemaligen OB, der es zugelassen, nein, forciert hat, dass Verträge mit der Bahn unterschrieben wurden, aus denen es keine juristische Ausstiegsmöglichkeit zu geben scheint, wird die Ehrenbürgerwürde verliehen.
Und Angela Merkel bringt es auf den Punkt: es kann nicht sein, erklärt sie dieser Tage, dass wir nicht mehr in der Lage sind, große Verkehrsinfrastrukturprojekte in unserem Lande überhaupt noch hinzubekommen. Das bedeutet: was die Wirtschaft vorgibt, hat zu geschehen in diesem Land – koste es was es wolle. Geld spielt keine Rolle, wenn es ausgeht, holen wir neues vom Steuerzahler. Oder wir drucken einfach neues. Oder…? Für uns stellt sich die umgekehrte Frage: kann es denn sein, dass die Politik nicht mehr in der Lage ist, das durchzusetzen in unserem Land, was dem Gemeinwohl dient und was der gesunde Menschenverstand verlangt?
2013 ist das Jahr der Entscheidung. Wenn das Projekt jetzt nicht kippt, dann kippt es nie, oder erst dann, wenn es zu spät ist, Ruin und Verwüstung noch zu stoppen. Aber die Chance ist da. Das kann man spüren.
Die Spannung steigt. Wird Fritz Kuhn es schaffen, den Wahnsinn zu stoppen, das Monster zu erlegen? Dann hätte er sich nicht nur die Ehrenbürgerwürde sondern auch ein Denkmal verdient – an der wiedereröffneten ‚Straße am Schlossgarten’, die ab 2020 ‚Winne-Hermann-Allee’ heißt. Der wirkt plötzlich wie befreit, ‚Django Unchained’ und man hat den Eindruck, mit dem alten Weggefährten Kuhn ist die Strategie zurückgekehrt in das Agieren der grünen Freunde. Jedenfalls hat man den Eindruck, sie wissen, was sie tun und eine taktische Spielauffassung wird erkennbar. Jetzt nehmt doch den Kretschmann auch noch mit, jeder hat eine zweite Chance verdient und sagt ihm: es gibt kein richtiges Regieren im Falschen. Und hinter der Volksabstimmung braucht er sich nicht mehr zu verstecken, die hat ihre Legitimation komplett verloren!
Seit heute ist Herr Kefer in der Stadt, für informelle Gespräche mit Projektpartnern und Fraktionsvorsitzenden – fast könnte er einem ja leid tun. Was will er denn jetzt wieder erzählen, was er in einem halben Jahr dann dementieren und korrigieren muss? Wer soll dem Mann noch irgendetwas glauben? Nur die Politiker, die, warum auch immer, die Augen-zu-und-durch-Brille nicht abnehmen können. Bis sie vielleicht merken, dass hinter ihrem Rücken, auf einer höheren Etage, schon hochkomplexe, elegante Ausstiegszenarien durchgerechnet werden – ein Fall für gewiefte Juristen. Weil vielleicht auch Aufsichtsräte irgendwann befürchten müssen, verantwortlich und haftbar gemacht zu werden für unheilvolle Entscheidungen, die sie treffen…?
So könnte am Ende der paradoxe Fall eintreten, dass Politiker, die sich einst in verbeulten Hosen und komisch gemusterten Pullovern auf den politischen Weg gemacht haben, in die Lage kommen, deutsche Topmanager davor zu bewahren, ganz ganz schlechte Geschäfte zu machen. Und ihnen noch ermöglichen könnten, aus dem heillosen Deal rauszukommen, ohne das Gesicht zu verlieren. Weil vielleicht für sie alle die Erkenntnis nicht zu spät kommt: besser ist – oben bleiben!!!